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Die Traumkugel
Lukas drehte die kleine Glaskugel, durch die sich ein milchiger Schleier zog, im Schein der Nachttischlampe in seinen Händen. Sie fühlte sich noch warm an, da er sie gerade unter seinem Kopfkissen hervorgeholt hatte. Jede Nacht lag sie dort. Er konnte so besser schlafen.
Es war ein Geschenk seiner Lieblingslehrerin aus der ersten Klasse. Jeder Schüler hatte drei Tage vor Weihnachten ein kleines Geschenk bekommen: Lisa ein kleines Stoffpüppchen, Markus ein Lesezeichen und Lukas diese wunderschöne Kugel.
„Damit kann man ja gar nichts anfangen!“, hatten die anderen damals gelacht. „Wofür braucht man denn so was?“
Lukas hatte darauf nie eine Antwort gegeben. Ihm war es peinlich, zuzugeben, dass er mit Hilfe dieser Kugel schönere Träume hatte.
Heute war er allerdings zehn Jahre alt geworden. Es war Abend, doch er konnte noch nicht schlafen. Lukas fragte sich, ob er diese Kugel wirklich noch brauchte.
Da öffnete sich ein kleiner Spalt an der Zimmertür. Lukas‘ Mutter lugte herein.
„Schläfst du denn immer noch nicht?“, fragte sie.
Lukas schüttelte den Kopf und betrachtete immer noch gedankenversunken die Kugel.
Seine Mutter setzte sich zu ihm aufs Bett.
„Was ist los mit dir?“, hakte sie nach.
„Nichts...“, antwortete ihr Sohn geistesabwesend.
„Machst du dir wieder einmal Gedanken wegen deiner Glaskugel?“
„Ja“, sagte Lukas. „Ich glaub, dass ich langsam zu alt für Glücksbringer bin, mit denen ich besser schlafen kann.“
Die Mutter antwortete nicht sofort. „Weißt du,“ sagte sie schließlich, „mit dieser Kugel hat es etwas ganz Besonderes auf sich.“
Und dann begann sie, ihre Geschichte zu erzählen, die sie sich für einen Moment wie diesen aufgehoben hatte.
„Hoch oben im Himmel, dort, wo auch der liebe Gott wohnt, leben noch einige andere Himmelsgeschöpfe. Nicht etwa andere Götter, sondern Wesen, die immer da sind, auch wenn man sich als Mensch dessen nicht immer bewusst ist.
Da wäre zum Beispiel das Sandmännchen, das jedes Kind kennt. Aber auch den Herrn der Zeit oder die Wolkenfrau gibt es.
Und so wie es diese Personen gibt, gibt es auch noch einen Mann, der für alle Träume verantwortlich ist. Sein Name ist „Onkel Traum“.
Er wohnt am nächsten an den Menschen dran und hat sie alle deshalb immer schön im Überblick. So weiß er auch, ob sie gut schlafen oder nicht.
Und wenn er bemerkt, dass ein Mensch schlecht schläft, sich im Schlaf wälzt oder böse Träume hat, dann holt er seine Gedankenauflesmaschine. Damit sammelt er die Gedanken und Erinnerungen dieses Menschen ein und sortiert alle schlechten aus, so dass nur noch die guten übrig bleiben.
Mit den guten Erinnerungen geht er schließlich in seinen kleinen Keller, in dem die Traummaschine steht. Dort schüttet er sie in einen großen Trichter an der Maschine.
Nach einer Weile erscheint dann aus dem Nichts eine kleine Glaskugel, in der es milchig schimmert. Sie ist etwas kleiner wie eine Kinderfaust. Eine sogenannte Traumkugel.
In ihr werden alle guten Gedanken und Erinnerungen eines Menschen verpackt und wenn der Mensch diese Kugel nun bei sich behält, dann schläft er nie mehr schlecht, sondern träumt immer von den schönsten Augenblicken in seinem Leben.
Diese Traumkugel gibt Onkel Traum dann einer Person, die dem schlaflosen Menschen die Kugel überbringen kann. Wie zum Beispiel deiner früheren Lieblingslehrerin.“
Lukas betrachtete die Kugel.
„Schlaf schön, Lukas“, sagte seine Mutter liebevoll zu ihm, drückte ihm einen Kuss auf die Stirn und verschwand aus dem Zimmer.
Lukas jedoch legte die Traumkugel vorsichtig zurück unter sein Kopfkissen und schlief schon nach kurzer Zeit ein.