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Die Trauer der Ganzen Welt
Der Anfang ist immer das Schlimmste, sagt der Volksmund. Mit dem Ende aber verhält es sich ähnlich. Wahrscheinlich deshalb, weil der einzelne Mensch gar nicht sagen kann, wann er ein oder das Ende überhaupt erreicht hat. Er besitzt nicht den Überblick, sein Urteilsvermögen ist getrübt, denn er ist gefangen in seiner Verblendung, steckt blind und unwissend mitten in der Turbulenz. Mitten im Geschehen. Es ist da sogar schwer festzustellen, zu sagen, ob man gerade über den Fluten treibt oder im Begriff ist, unterzugehen. Möglich, dass, im Prozess des Ertrinkens, des Verlierens von Boden unter den Füßen, man kluger- oder unvernünftigerweise, wie man es zu nehmen beliebt, seine Sinne betäubt und sich selbst suggeriert, man befinde sich auf dem Wege der Rettung. Der Erlösung. Ja, des hellen, berauschenden, wunderbar glänzenden Wahnsinns. Wahnsinn.
Das Ende. Ist es gekommen? Steht es ihm, der schweigenden Herzens durch nächtlich-stürmische Straßen rast, ohne sich seiner Gefahr bewusst zu sein oder sie ernstnehmen zu wollen, noch bevor? Die echte Gefahr lauert in einem selbst, das ist gewiss. Da ist es wiederum schwer zu sagen, welche Erkenntnisse einem helfen und welche einen in den Abgrund treiben. Er weiß es nicht, er kennt es nicht, dieses Ende. Na ja, vielleicht würde er es wissen, besäße er die Fähigkeit, objektiv zu sein. Doch er kann es nicht. Er will es nicht. Es geht nicht.
Plötzlich ein Knall. Rauch steigt mühsam, von unter der Motorhaube, im Kampfe gegen den prasselnden Regen, empor. Das Automobil, ein KdF-Wagen, Baujahr 1937, rollt noch müde ein paar Meter weiter und gibt dann erschöpft keuchend den Geist auf. Er überlegt, ob er fluchen soll, kommt dann aber zu dem ernüchternden Schluss, dass ihm, sowie seinem Auto, die Energie zum Selben fehlt. Es ist ihm nicht möglich, sich selbst oder dem Fahrzeug einen Vorwurf deswegen zu machen.
Nun raucht gar nichts mehr, der ohnehin hoffnungslose Kampf des sich aufbäumenden Rauches gegen die dampfwalzende Übermacht der Himmelsströme ward gnadenlos beendet. Schluss. Irgendwie traurig. Nein, es ist doch im Endeffekt bloß eine autosuggerierte Symbolik seiner eigenen Trauer. Weswegen trauert er? Lakonisches Achselzucken. Die Frage ist gar nicht so dumm, wie sie sich anhört. Es gäbe viele allzu offensichtliche Gründe, deren auch sein neunjähriges Auto Zeuge war, wenn von seinen Freunden nichts und niemand mehr übriggeblieben war, um ihm zuzustimmen. Seiner alten Angewohnheit nachgebend, hält er sie sich stichwortartig vor Augen: Niederlage, Demütigung, Enttäuschung, Verlust, Tod. Das allein reicht schon aus, um einen Mann am Boden zu zerstören. Daran liegt es aber nicht und er ist sich dessen sehr wohl bewusst.
Nein, die Trauer entstammt zwar demselben Schlachtfelde, gehört aber zu einer anderen Kompanie, einem höheren Regiment. Es ist die erschütternde, zerschmetternde Erkenntnis, niemals am Ende angelangen zu können. Ach, welch ein Ende? Es gibt keines. Aus unbekannten Gründen kann es kein Entkommen geben, keine Möglichkeit, den Strom abzubrechen, die Existenz nichtig zu machen. Er war damals, es ist jetzt etwas mehr als ein Jahr her, gezwungen worden, diese Wahrheit zu erkennen, damals, als er noch bereit war, sich seiner Loyalität zuliebe dem Untergang zu weihen. In Blut und Glorie. Doch obwohl es Untergänge gibt, er kann es bezeugen, da er einen dieser selbst miterlebte, bleibt das Ende irgendwie aus. Es kommt einfach nicht, niemals. Wahrscheinlich auch nicht im Tode.
Er beobachtet die Bindfäden des Regens an den Scheiben des Automobils und hat das grässliche Gefühl, an seiner Erkenntnis ersticken zu müssen. Von einer Welle des Hasses und des Widerstandes übermannt, stößt er die Tür gewaltsam auf und springt aus dem Wagen, rammt brutal die Frontlinie des Wolkenbruches und schreit. Es befindet sich zwar keine Menschenseele im größeren Umkreis und seine klagende Stimme wird durch das Rauschen des Sturmes erstickt, doch es ist ihm gleich, ob man ihn hört. Der Widerstand, der verzweifelte Kampf um eine zum Untergang verdammten Weltanschauung, bricht noch einmal brutal aus und bäumt sich auf, obwohl die Logik ihm sagt, dass es zwecklos ist. Sollen sie doch alle kommen, wenn sie ihn schreien hören! Die undankbaren Schmarotzer, die Landesverräter, die gottverdammten Feiglinge, die sich anmaßen, auf unverzeihliche Weise zu vergessen! Vergessen!
Mit Schmerzen in der Brust sinkt er gepeinigt auf die Knie und lässt niedergeschlagen die Arme hängen. Der Widerstand ist endgültig gebrochen. Dabei war er doch schon lange tot. Er wollte es nur nicht erkennen. Ach, er kann die Leute doch verstehen, ja das kann er. Wirklich. Wenn sie auch die scharfe Erkenntnis, die ihn hinterlistig und hinterrücks in seiner blinden Überzeugung erdolchte, nicht so offensichtlich in ihren Köpfen tragen, so spüren sie doch die Wahrheit in ihren Herzen. Sie sind dem Untergang entgegengeschritten und danach aus dem Traume erwacht, haben erkannt, dass sie doch noch existieren, entgegen aller Voraussetzungen und allgemeiner Erwartungen. Wer hätte das schon gedacht? Also, als die erste Fassungslosigkeit überwunden ward, haben sie mit den Achseln gezuckt, ihr bisheriges Dasein abgestempelt und beerdigt und damit begonnen, weiterzuschreiten, die wunden Füße und geschwollenen Gelenke ignorierend. Er weiß, dass es lange dauern wird, bis der Schmerz nachlässt. Er will nämlich nicht weiterschreiten, er will nicht vergessen. Dazu hätte er es nötig, die Objektivität in sich anzuerkennen, und das möchte er nicht. Noch nicht, nein.
Er verliert nach diesem letzten Kraftaufwand allen Wunsch sich aufzubäumen und lässt den von Regen und schwermütiger Trauer durchtränkten Körper nach hinten sacken, lehnt sich gegen den geduldig, weil toten Wagen, das Trittbrett im Hohlkreuz. Das ist jetzt auch egal, denn es scheint ihm, dass er niemals wieder die Kraft finden kann, sich zu erheben. Physisch wie auch psychisch. Er fühlt sich betrogen. Nein, den Menschen macht er keinen Vorwurf. Nicht seinen Kameraden der vernichteten Verblendung, nicht seinen schon lange nicht mehr existierenden Freunden, nicht seinen allgegenwärtigen Feinden. Er weiß, dass einjeder, besonders der gnadenlose Richter Geschichte, einst voll des Vorwurfes sein wird, doch dieses Gefühl bedrückt ihn nicht. Nein, er macht jenen, denen er folgte, sowie jenen, die ihm folgten, wirklich keinerlei Vorwürfe. Auch die Schuld, die jeder in seinem Leben zu tragen hat, einige mehr, andere weniger, sucht er nicht zu verdrängen. Seine schlimmste Sünde liegt darin, und er hat es vor Zeiten schon erkannt, darauf bestanden zu haben, die Ewigkeit und ihre Einmischung in den Lauf der Dinge zu sehen und zu verstehen. Dafür muss er jetzt bezahlen, dafür bestraft er sich selbst, er hat es im Gefühl. Vielleicht ist er die einzige Person, der er nicht zu verzeihen vermag. Und die ihm nicht vergeben kann.
Sein Herz beruhigt sich allmählich, pocht nicht länger wie wild, schlägt nur noch stark genug, um seinen matten Körper am Leben zu erhalten. Auch seine scharfe Atmung legt sich, wird durch die Müdigkeit gezähmt, wie auch die letzte Rebellion seines Geistes. Es ist doch hoffnungslos! Man könnte meinen, ein Teil seiner selbst sei an jenem Tage vor etwas mehr als einem Jahr gestorben, doch er weiß es besser. Es war kein Tod, es war eine Verwandlung. Er selbst wehrte sich dagegen, wollte an seinen alten Werten, seinen Wahrheiten festhalten und damit sein Leben weiterführen, erfuhr aber bald auf schmerzliche Weise, dass dies unrealistisch ist. Er hat keine Lust mehr, sich zu wehren, auch wenn die Wahrheit, sofern es eine Absolute gibt, ihn furchtbar schmerzt. Wahrscheinlich hat er es verdient, diesen unvermeidlichen Prozess der Metamorphose durchzumachen.
Der Regen peitscht unerbittlich auf sein Haupt und seine wunden Schultern hernieder. Seine Finger spielen gedankenverloren und halbtaub mit kleinen Steinen auf der Straße. Wieso, fragt er sich, kaum seine eigene Stimme im Kopfe vernehmend. Wieso kann alles nicht ein Ende finden? Über diesen Punkt ist er bis heute niemals hinweggekommen, konnte nicht den Mut aufbringen, ihn zu überwinden. Die Leute bilden sich so gerne ein, den Lauf des Universums zu verstehen, doch wissen tuen sie gar nichts. Oh, sein Herz ist schwer! Er kann seine Arme nicht mehr spüren. Trotz des grausamen, niedermetzelnden Regens sieht er, wie weiße Nebelschwaden ihren Weg in der Dunkelheit finden und sich ihm nähern. Vielleicht sind sie nur ein Teil von dem, was er sich selbst suggeriert, doch er ist der Meinung, dass vieles, was Menschen für real erachten, eigentlich nur zu ihrer ganz persönlichen Art gehört, das Leben erträglich zu gestalten. Er sieht, wie der Nebel sich nähert.
Vielleicht ist es ja gar keine Folter, keine Strafe, dieses Geschick des Ewigen. Vielleicht ist es eine göttliche Vorsehung, die er nicht zu ergründen und verstehen braucht, nur zu fühlen und akzeptieren. Es könnte ja sein, dass er, wenn er, anders als die anderen, erkennt, dass es niemals ein Ende gibt, eine zweite Chance bekommt. Nein, sich eine zweite Chance gibt, denn er ist sein eigener ärgster, unerbittlichster Feind. Er fühlt sich nicht motiviert, sich seine eigenen Schwächen zu vergeben, ganz besonders nicht die Tatsache, der einzige seiner Freunde zu sein, der noch am Leben ist. Aber ihm ist ja klar, dass selbst sie kein Ende gefunden haben. Eine zweite Chance also. Nicht für den Untergang, aber für den Frieden. Nichts universelles, aber ein Frieden, den er nicht mehr verspürt, seit er sich seines Menschseins entsinnen kann: Die erlösende Stille seiner Seele. Er hatte sie tatsächlich vergessen, diese Harmonie, verspürt jetzt aber einen Hauch davon, eine wehmütige Reminiszenz.
Ja, trotz der allmächtigen, allgegenwärtigen Trauer, die in Form von schmerzhaften, eisigen Tropfen auf ihn herniedertrommelt, trotz der schweren Tränen, die sich mit dem Regen mischen und in ihm sich auflösen, kann er müde lächeln. Eine sanfte, fast vergessene Melodie spielt in seinem Kopf und lädt ein zur Vergebung. Er wehrt sich nicht länger gegen die Wahrheit, gegen die Ewigkeit, gegen den Lauf der von Menschenhand erschaffenen Geschichte, gegen die Menschen, gegen den Regen...... Die Trauer der ganzen Welt. Nein, es ist nicht an ihm, sich zu wehren. Der weiße Nebel rückt bar jeglicher Bedrohung näher, er selber begrüßt ihn, spürt das kalte Wasser kaum noch, das ihn unbedacht seiner Verwandlungen grausam schikaniert.
Jetzt versteht er es: Zuerst musste er untergehen, dann seine Wahrheit erkennen, schließlich dieser Wahrheit sein Herz öffnen und sich ihr ergeben. Es gibt kein Ende, alles fließt weiter im ewigen Strom des Vergebens und der neuen Chancen, die man sich selbst gestattet. Er lächelt und schließt die Augen, als die Nebel ihn endgültig umgeben. Es scheint ihm, als wäre sein Körper plötzlich leicht, so leicht. Er widersetzt sich nicht länger, oh nein. Ein letztes Mal seufzt er und sieht ein, dass auch Trauer nicht für immer währt, sonder fließt und sich wandelt, wie auch alles andere. Wie er selbst. Nun ist Friede. Der Sturm ist vorbei.