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Die Tränen der toten Augen
Als Danielle ihre Augen öffnete, war es 23 Uhr am 13. März 1831. Sie war zu diesem Zeitpunkt schon lange tot. Ihr langes blondes Haar war vom Blut verklebt. Strähnig hing es ihr an Wange und Stirn. In ihrer rechten, penibel gebleichten Wange klaffte eine lange, ungerade Schnittwunde. Im vergangenen Jahrzehnt hatten sie und ihre Familie mit der großen französischen Dürre schwer zu kämpfen gehabt. Man sah ihrem gepeinigten, abgemagerten Körper auf den ersten Blick an, dass sie viel Hunger hatte leiden müssen. Doch es gab so vieles, was er nicht mehr zeigen konnte.
Zum Beispiel, wie sie geweint hatte. Oh, wie hatte sie geweint, als ihr Vater vor einigen Jahren einer schweren Lungenentzündung unterlegen war. Und wie hatte sie ihre Tränen vergossen, als ihre Mutter Danielle angefleht hatte, sich eine Arbeit zu suchen, um sie und ihren kleinen Bruder ernähren zu können und als Danielle erkannte, dass es für sie nur eine Möglichkeit gab, trotz ihres niedrigen Standes einer Milchbauerntochter an das nötige Geld zu kommen. Und als sie letztendlich damals ihren dürren Körper in das grüne Korsett zwang, das ihr nun aufgeschnitten zu beiden Rippenseiten lag. Wie waren doch damals ihre Augen errötet, wie aufgedunsen ihre Lieder gewesen.
Ihr Körper war noch vor wenigen Monaten gleich dem eines Mädchens gewesen. Eines Kindes, voller Unschuld. Doch er hatte sie verloren. Ihre Brüste waren, seit die Luft aus ihren Lungen entwichen war, aus der Ferne kaum noch zu erkennen. Nichts als leichte Erhebungen auf ihren Rippen. Sie war nicht einmal alt genug geworden, sie ihrem Liebsten in ihrer ganzen ausgewachsenen Pracht präsentieren zu können. Sie war nicht einmal in das Alter gekommen, einen Liebsten zu finden. Solcherlei Freuden hatte das Leben nie für sie bereit gehalten.
Über ihrem gesamten Körper lag eine graue Schmutzschicht, die in der Dunkelheit zwar kaum erkennbar, aber ohne Frage präsent war. Doch war diese Schmutzschicht nicht Danielles Schuld. Trotz ihres unhygienischen Gewerbes war sie zeit ihres Lebens immer sehr reinlich gewesen. Nie hätte sie sich in einer derartigen Verfassung aus dem Hause gewagt. Schon gar nicht in ihrer Heimatstadt Avignon. Nein, die Schmutzschicht, die sich immer mehr und immer weiter auf ihrem dürren Bauch, ihren kleinen Brüsten und ihrem von Schnittwunden, Blutspuren und blauen Flecken entstellten Gesicht verteilte, war in keinster Weise ihr Verdienst. Es lag an den verschmutzten, rußbedeckten Händen, die sich nach und nach um jegliche ihrer Körperteile legten.
Die Strumpfhose, die ihre geliebte und doch so verhasste Mutter ihr zu ihrem siebzehnten Geburtstag geschenkt hatte, nur aus dem Grund, besser und schneller an neues Geld zu gelangen, von dem Geld, das Danielle ihr selbst übergeben hatte, glich nun vielmehr den Überresten des verbrannten schwarzen Vorhangs, den sie bei der Feuerbestattung über Danielles Vater gelegt hatten. Sie lag gleich zu ihrer Linken, neben ihren weit auseinander gespreizten, dürren Beinen.
Lediglich ihre Arme wiesen einen gewissen Muskelansatz auf, den sie über die Jahre während der Arbeit auf den Feldern erlangt hatte. Nun waren sie fest umschlossen durch die starken Hände Bernard Coquilles, eines Erzkohlearbeiters aus der westlichen Gegend Avignons. Er hatte kurzes blondes Haar und einen stämmigen Arbeiterkörper. Er trug noch seine Arbeitskleidung, da er erst vor kurzer Zeit mit seinem Kollegen Simon Noyau auf einen Feierabendtrunk in der hiesigen Absteige Calvaire untergekommen war. Von dort aus waren sie an der Rhóne entlang in Richtung ihrer Unterkunft gelaufen, bis ihnen diese junge Frau entgegengekommen war, die sich ihnen angeboten hatte.
Simon hatte zuerst nur ablehnen und weitergehen wollen, doch als Bernard Danielle zu Boden geschlagen und ihr das Messer in den Mund gesteckt hatte, als er in sie eingedrungen war, hatte er nicht eingegriffen, um ihn davon abzuhalten. Auch jetzt noch stand er einfach nur daneben und betrachtete mit seinen stechend blauen Augen, die unter seinen schwarzen Haaren verstohlen in die Richtung der Schandtat gerichtet waren, mit schnellen Atemzügen das Geschehen. Er war in gewisser Weise sogar froh darüber, dass Bernard seinen Hass auf die Frauen, der ihm seit seine Frau ihn vor einigen Tagen verlassen hatte auferlegt war, nur an einer Prostituierten auslebte. So würde es vermutlich das Beste sein. Niemand kam daran zu Schaden, zumindest niemand von Bedeutung. Und wenn er ganz ehrlich war, verschaffte ihm dieses Ereignis auch ein gewisses Maß an Erregung, dessen er sich nur krampfhaft zu erwehren vermochte. Solange er ihn nur betrachtete... Solange er nur zusah und nichts tat, so dachte er, würde er mit seiner Schuld leben können.
Langsam wanderte seine Hand, welche ebenfalls mit schwarzem Ruß bedeckt war, in seine Hose und begann auf und ab zu gleiten.
In diesem Moment erkannte Bernard, dass sich Danielles Augen geöffnet hatten und fiel schreiend rückwärts auf den harten, asphaltierten Boden. Sein Mund war vor Entsetzen furchtbar verzerrt und seine Augen waren weit aufgerissen.
„Beruhige dich“, sagte Simon mit bebender Stimme. Sie war kratzig und rau, wie die Stimme eines alten Mannes, der schon alles gesehen, getrunken und geraucht hatte, was ihm in seinem Leben geboten wurde. „Das ist normal so bei Toten, davon habe ich gehört.“
Nach diesen Worten schien sich Bernard wieder etwas zu beruhigen. Doch der Spaß war ihm eindeutig vergangen. Misstrauisch beäugte er sein Opfer. Simon gefiel das gar nicht. Er wollte mehr sehen. Mehr von dieser Gewalt, wie er sie noch nie erblicken durfte. Mehr von diesem Unterfangen der sinnlosen Brutalität.
„Was ist los, du verdammter Feigling? Willst du jetzt nicht einmal mehr zu Ende bringen, wofür dieses Stück Fleisch sein Leben lassen musste? Wer bist du, dass du dies Vieh schlachtest, ohne von ihm zu kosten? Ich werde dich nicht um des Geschehens wegen belangen, doch wenn du mir jetzt zeigst, dass dies alles ohne jeglichen Sinn und Zweck vollstreckt wurde, dann schwöre ich dir, wird sich das rächen.“
Bernards Blick , der soeben noch unruhig auf den leblosen Leib Danielles gerichtet war, ruhte nun mit demselben Ausdruck auf Simon, als ob er sich nicht mehr entscheiden konnte, wem seine Angst wirklich gelten sollte.
Simon zuckte mit keinem Lid. Sein Blick lag kühl auf Bernard. Ruhig aber fordernd.
„Bitte...“, hauchte Bernard, als ob er erst jetzt begriff, was er getan hatte. Doch Simons Blick blieb hart und entschlossen. Bernard wandte sich dem Mädchen zu. Sie lag unverändert dort und doch hatte sie für ihn mit einem Mal eine völlig andere Gestalt angenommen. War sie vorhin nicht mehr als eine dahergelaufene Aussätzige für ihn gewesen, die es nicht anders verdient hatte, als ihr Leben für das Vergnügen anderer zu lassen, so war sie plötzlich etwas gänzlich anderes geworden. In einem Moment auf den anderen war diese verschmutzte, ekelerregende Kreatur der Sünden ein makelloses Geschöpf der Keuschheit und Reinheit. Und er hatte sich an ihr vergangen. Mit einem Mal war Danielle nicht mehr die Sünderin. Er war es geworden.
Doch an der Oberfläche hatte sich Danielles Körper nicht verändert. Noch immer war sie völlig verdreckt, ihr Kopf von einer Blutlache umgeben und ihre Beine weit auseinandergespreizt. Nur ihre Augen hatten sich geöffnet.
Bernard lief ein kalter Schauer über den Rücken. Damit hatte er nicht gerechnet. Doch der Blick zu Simon hatte ihn wissen lassen, dass es für ihn kein Zurück mehr gab. Er beugte sich über den harten, asphaltierten Boden und ging mit seiner Hand langsam auf die geöffneten Augen der Toten zu. So sehr es ihm widerstrebte, sie zu berühren, so sehr fürchtete er sich aber auch davor, während des Aktes in ihre toten, ausdruckslosen Augen sehen zu müssen. Behutsam legte er seine Finger auf ihre erkaltete Haut und senkte mit schwachem Druck ihre Lider. Sie schlossen sich ganz leicht und Bernard war sehr froh darüber, dass er nicht auf Widerstand stieß. Plötzlich tauchte in seinem Kopf der Gedanke daran auf, wie seine Tochter wohl aussehen würde, wäre sie in dem Alter des Mädchens. Welches Alter das wohl gewesen sein mochte? 16? 17? Ein Brechreiz überkam ihn, doch er hielt ihn zurück. Seine Tochter, die ihm für immer genommen zu sein schien, nachdem seine Frau vor einigen Tagen einfach mit ihr verschwunden war. Sie hatte oft gedroht, ihn zu verlassen, doch Bernard hatte das nie für möglich gehalten. Vielleicht war genau das sein Fehler gewesen. Sie hatte ihn oft angefleht, das Trinken zu unterlassen. Er wäre ein ganz anderer Mensch, wenn er getrunken hätte, hatte sie gesagt. So aggressiv. So unberechenbar. Er hatte sie immer als verrückt bezeichnet. Der Alkohol wäre alles, was ihn von seinem trostlosen und nichtsnutzigen Leben ablenken könne, hatte er geantwortet. Daraufhin hatte seine Frau ihn gefragt was denn mit ihr wäre. Er hatte nichts erwidert.
Doch nun kniete er vor dem Leichnam eines Mädchens, das er getötet hatte, in seiner ungebändigten Aggressivität. In seiner Unberechenbarkeit. Eine Träne bildete sich in seinem linken Auge, doch er hatte keine Wahl. Simon würde seine Lippen nur unter einer Bedingung versiegelt lassen. Wenn Bernard beendete, was er angefangen hatte.
Er betrachtete den geschundenen Leib Danielles. Konnte er seinen eigenen Körper überhaupt derart kontrollieren? Es schien ihm unmöglich, in diesem Zustand eine Erektion zu erlangen.
„Mach schon, oder willst du etwa auf die Nachbarn warten, du Tor?“, ermahnte ihn Simon nachdrücklich. Danielle hatte aufgeschrien, bevor sie zu Boden gesunken war und er hatte keine Lust, die Nacht auf einem Polizeirevier zu verbringen, selbst wenn er nur als Zeuge herhalten müsste. Dafür war ihm dieser Moment viel zu wichtig. Er wollte ihn voll auskosten. Simon hatte schon als Kind einen unbeschreiblichen Hang zum Tod gehabt. Er erinnerte sich, wie er damals in seinem neunten Lebensjahr kleine Tiere eingefangen und in Gläsern eingesperrt hatte. Insekten und Kröten, manchmal auch Mäuse. Je größer die Tiere waren, desto größer war seine Befriedigung, als er beobachtete, wie sie um ihr Leben rangen und dann, nach einiger Zeit, langsam erstickten. Wie der Lebenshauch sie langsam verließ. Einmal, er musste ungefähr 15 Jahre alt gewesen sein, war er mit einem Freund in das Gelände eines Nachbarn eingedrungen um das Gartenhaus nach möglichen Verkaufsartikeln zu durchsuchen. Dabei waren sie von dessen Wachhund überrascht worden. Als er auf sie zuhechtete, die Zähne fletschend, hatte Simon nach einem Stein gegriffen, den er auf dem überwucherten Erdboden aufgelesen hatte und als der Hund gerade zu seinem letzten Sprung angesetzt hatte, hatte er den Stein so hart er konnte, gegen dessen Kopf geschlagen. Als der Hund zu Boden ging und sein Freund schreiend davonlief, blieb Simon noch eine knappe Minute vor dem Leichnam des Viehs stehen, das er erlegt hatte und starrte es an. Ein Gefühl der Erregung, das er bis zum heutigen Tag vergessen zu haben schien. Doch dieses Mal war es anders. Intensiver. Intensiver als alles, was er je zuvor gespürt hatte und er wollte sich diesen Moment von nichts und niemandem nehmen lassen. Schon gar nicht von diesem unkontrollierten Narren, der zitternd auf dem Boden vor der Leiche kniete.
Langsam ging Bernard erneut auf die Leiche Danielles zu und versuchte sich zu konzentrieren, doch je mehr er es versuchte, desto mehr sträubte sich sein Körper gegen sein Vorhaben. Ihm blieb nur ein Ausweg. Er musste es einfach vortäuschen. Langsam drückte er sein erschlafftes Glied zwischen die Beine des Mädchens, so dass es für Simon nicht sichtbar war und begann mit ruckartigen Bewegungen seine Tat zum Schein fortzusetzen. Die Leiche Danielles begann sich langsam vor- und zurückzubewegen. Bernard versuchte weiterhin seinen Ekel zu überwinden. Er hatte keine Wahl. Es musste auch nicht lange sein, dann könnte er eine Ejakulation vortäuschen. Simon würde es nie bemerken.
Doch in jenem Moment fiel sein Blick erneut auf die vermeintlich geschlossenen Augen der Toten, die ihn direkt anzustarren schienen. Er schrie erschrocken auf und fiel erneut zurück.
„Was hast du, verdammt?“, fuhr Simon ihn an.
„Ihre Augen!“, rief Bernard. „Sie hat sie wieder geöffnet! Mein Gott, ganz rot sind sie!“
Er schnappte nach Luft. Simon rührte sich nicht von der Stelle und betrachtete aus sicherer Entfernung das Gesicht der Leiche. „Das ist nur die Leichenstarre, du Nichtsnutz! Sie werden auch weiterhin aufgehen, finde dich damit ab!“
Bernard ließ den Blick nicht von dem Ihren. „Aber die Farbe! Simon, sie sind ganz rot!“
Simon schüttelte den Kopf. Er schien war angewidert angesichts der Kleingeistigkeit seines Kollegen. „Du hast ihr den Schädel eingeschlagen, was zum Teufel erwartest du?“
Simons Worte schienen Bernard ein Wenig zu beruhigen, doch das änderte nichts an seiner Angst. „Ich kann das nicht, Simon. Wirklich...“
„Du kannst!“, fauchte ihn Simon an. Seine Stimme war voll unterdrückter Aggression. „Du musst, hast du verstanden? Und wage es ja nicht, noch einmal zurückzuweichen, bevor du es nicht beendet hast!“
Bernard schien verzweifelt, doch er begann zu nicken. Ein weiteres Mal beugte sich Bernard nach vorne, schloss die Augen der Toten und ging zurück in seine vorherige Position. Er fragte sich, wie sein Leben nach diesem Abend wohl weiter verlaufen würde. Würde er sich selbst jemals verzeihen können? Würde Simon wirklich den Mund halten? Er warf einen kurzen Blick zu Simon. Er hatte ihn als einen zurückhaltenden jungen Mann kennengelernt. Mit diesem diabolischen Innenleben hatte er nie gerechnet. Es fiel ihm schwer, Simon in dieser Situation einschätzen zu können, da er sich schon einmal in ihm getäuscht zu haben schien. Es blitzte etwas in dessen Augen, das er nicht erkennen konnte. War es Blutrausch? Oder gar Mordlust? Er konnte es nicht deuten, doch was es auch war, er fühlte sich nicht mehr sicher. Ganz und gar nicht. Er war sich lediglich unsicher, wer es war, den er an jenem Abend fürchten musste. War es das tot geglaubte Mädchen? War es Simon? Oder war es letzten Endes er selbst?
Er begann, erneut vor- und zurückzurutschen, um Simon von seinem eigentlichen Handeln abzulenken. Er dachte nach, wie er sich aus dieser Situation wohl noch retten könnte. Im Moment traute er Simon alles zu. Selbst seine eigene Ermordung. Doch was konnte er tun? Ihm blieben nur zwei Alternativen. Die erste war, zu beenden, womit er begonnen hatte und auf das Beste zu hoffen. Die zweite war, Simon zuvorzukommen. Ganz gleich, ob er Bernard tatsächlich töten würde oder nicht.
Zwei Optionen. Eine risikoreicher als die andere.
Doch noch bevor er zu einem Entschluss kommen konnte, wurden seine Überlegungen erneut jäh unterbrochen. Als er seinen Blick nicht länger davon abhalten konnte, das Gesicht des Mädchens zu begutachten, hatte er sich darauf vorbereitet, erneut in ihre geöffneten Augen sehen zu müssen. Er hatte sogar damit gerechnet. Doch was er nun sah, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Aus den rötlich gefärbten Augen Danielles lief zu jeder Seite je eine Träne aus Blut. Er versuchte, sich zu beherrschen, versuchte, sich einzureden, womit Simon dies wohl begründen würde. „Vermutlich aufgrund der inneren Verletzungen“, sagte er sich. „Das muss es sein.“ Doch so sehr er auch versuchte, sich zu beruhigen, seine Lippen hörten nicht mehr auf zu zittern und seine Haut war kreidebleich. Er war absolut bewegungsunfähig.
„Was ist los mit dir? Warum hörst du schon wieder auf?“, fragte Simon, verärgert über die erneute Unterbrechung. Dann versuchte er Bernards Blick zu folgen. „Du hast sie umgebracht, du verdammter Heuchler. Hast du jetzt etwa Angst vor ein wenig Blut?“
Doch Bernard reagierte nicht. Wie gebannt starrte er weiterhin in die blutenden Augen des Mädchens. Doch Simon wollte sich damit nicht zufrieden geben.
„Bring es zu Ende! Worauf wartest du noch?“
Er ging einen Schritt auf Bernard zu. „Tu es! Na los, du Feigling!“
Doch Bernard rührte sich nicht. Es war, als ob ihm mit einem Mal alles offenbart wurde. Er sah in die Augen Danielles und sah sein ganzes Leben vor sich. Seine Schandtaten. Seine Fehler. Seine Sünden.
„Ich hätte an ihrer Stelle sein sollen.“, flüsterte er.
„Was?“, fragte Simon genervt. „Wovon redest du?“
„Sie ist es nicht, die in dieser Gasse hätte sterben sollte. Ich bin es. Ich bin der Sünder.“, hauchte Bernard resigniert.
Simon trat einen weiteren Schritt auf Bernard zu. Er verspürte einen unbeschreiblichen Hass auf den Mann, der versuchte, das intensivste Erlebnis seines Lebens zunichte zu machen. Doch er könnte es ja wieder tun, dachte er. Würde dies womöglich jenes Gefühl erneut entfachen? Das Beben seines Körpers. Den erhöhten Puls. Diese gottgleiche Erhabenheit? Bernard hatte in seinen Augen nach dieser Schandtat ohnehin nicht verdient, weiterzuleben. Er hatte das Größte vollbracht, was Simon je zu Gesicht bekommen hatte. Das Einzigartigste. Das Vollkommenste, doch er hatte es unbedacht verschwendet. Nein, dieser Mann verdiente das Leben nicht.
Er stand nun direkt neben Bernard, der noch immer bewegungslos über die Leiche Danielles gebeugt war und sah sich nach einem Gegenstand um, mit dem er Bernard niederstrecken könnte. Doch just in diesem Moment richtete sich Bernard in einer beachtlichen Geschwindigkeit auf und fuhr herum. In der engen Gasse ertönte ein kurzer erstickter Schrei, der abrupt von Bernards Händen unterbrochen wurde, die sich mit seiner ganzen Kraft um Simons Hals legten und ohne Unterlass begannen, auf ihn einzudrücken. Damit hatte Simon nicht gerechnet. Die Gasse war so eng, dass es gerade einmal möglich war, sie neben einer weiteren Person zu durchqueren. Die einzige Ausnahme bestand aus den Eingängen der verschiedenen Häuser an den Seiten, die eine kleine Unterdachung boten. Kleine zellenartige Einbuchtungen in den sonst durchgängigen Mauern zu beiden Seiten. Am anderen Ende der Gasse ragte eine weitere große Mauer empor, die den Durchgang versperrte. Es gab also nur einen einzigen Weg hinein und heraus. Wäre es ein anderer Tag gewesen, so wäre Danielles Wahl dieser Gasse vermutlich als richtig und verständlich angesehen worden. Die Prostituierten der Gegend arbeiteten meist in solchen Sackgassen. Sie fielen den Passanten nicht weiter auf, wenn sie nicht interessiert waren, und waren sie es doch, so waren sie relativ leicht zu finden.
Simon begann zu röcheln. Der Druck um seinen Hals war stetig und unnachgiebig. Er wusste, dass er nur noch wenige Sekunden zu leben hatte. Mit dieser Gewissheit vor Augen und der Unfähigkeit sich zu wehren, begann er in einen resignierten Zustand abzuschweifen. Er ließ die Hände, die sich zu Anfang noch zur Wehr gesetzt hatten, langsam sinken und sah seinem Schicksal entgegen. Wenige Augenblicke vor seinem Tod überkam ihn noch eine Verwunderung, eine Frage, die er sich nicht erklären konnte. Hatte er doch zuvor einen solch großen Gefallen daran gefunden, an dieser Gewalt und Brutalität teilzunehmen, diese starke Erregung empfunden, als die Lebenslichter seiner Opfer erloschen waren, so war ihm sein jetziger Zustand doch nur unangenehm und verschaffte ihm keinerlei Befriedigung. Wie eigenartig, dachte er, dann stoppte die Sauerstoffzufuhr in seinem Gehirn und er hörte für immer auf zu denken.
Unterdessen drückte Bernard unaufhörlich auf die Halswirbel seines ehemaligen Kollegen ein. Dass Simon bereits erschlafft war, schien ihm entgangen zu sein. Sein Denken war entbrannt vor Verzweiflung und gespalten von Fragen, auf die er wohl nie eine Antwort finden würde. Doch mit einem Mal schwand die Kraft aus seinen Händen und der Druck auf Simons Hals ließ nach. Aus Bernards Haut war inzwischen jegliche Farbe entwichen. Aufgelöst und den Tränen nahe sah er mit bebendem Körper auf das Antlitz seines Kollegen und unterdrückte einen weiteren Schrei. Auch Simons Augen hatten zu bluten begonnen, doch stärker, als die Danielles. Fontänen des Blutes schossen aus seinen Augäpfeln und tauchten Bernards Kleidung in ein abscheuliches dunkles Rot.
Entsetzt ließ er von Simon ab, der erschlafft zu Boden fiel und wich wimmernd zurück, bis er mit dem Rücken gegen die Mauer stieß. Seine Angst war unbeschreiblich. Was hatte er nur getan! Die Leichen Danielles und Simons lagen aneinandergereiht auf dem Asphalt. Das Blut aus ihren Augen schien sich in ihrer Mitte zu vermischen und lief vereint auf den einzigen Ausgang der Gasse zu. Panisch wandte sich Bernard zu beiden Seiten um und als er realisierte, dass er alleine war, begann er aus der Gasse zu rennen. Der Weg erschien ihm ewig, doch er wollte um keinen Preis stehenbleiben. In diesem Moment wollte er das nie wieder. Er rannte so schnell er konnte, und als er endlich das Ende der Gasse erreichte, bog er ohne nachzudenken nach links und rannte weiter. Nicht einmal im Traum, hätte er daran gedacht zurückzusehen.
Er rannte so schnell, als ginge es um sein Leben. So schnell, wie er damals gerannt war, als sein Vater noch gelebt hatte. Er erinnerte sich, wie dieser immer spät in der Nacht nach Hause gekommen war und Bernards Mutter angeschrien hatte. Es waren immer unterschiedliche Gründe gewesen, nie etwas von ernsthafter Bedeutung. Eines Tages, als es besonders schlimm und laut gewesen war, war Bernard aus seinem Zimmer gekommen, um nach seiner Mutter zu sehen. Sein Vater hatte sie geschlagen, daran erinnerte sich Bernard noch genau. Er erinnerte sich an ihre rote Wange und an ihre Tränen und doch schien das alles noch heute wie eine zutiefst surreale Einbildung für ihn. Er hatte sich seit Jahren nicht mehr daran erinnert. Vermutlich seit dem Tod seines Vater vor zehn Jahren, der an Leberzirrhose verstorben war. Er erinnerte sich, wie ihn sein Vater entdeckt hatte, als er weinend am Treppenabsatz gekauert hatte und wie er mit dem Finger auf ihn gezeigt hatte. „Du!“, hatte er geschrien. So voller Abscheu. Dann hatte er seine Bierflasche an ihrem Küchentisch zerschlagen und gesagt, er würde Bernard noch lehren, anderer Leute Gespräche nicht zu belauschen. Er erinnerte sich auch noch, wie er damals dachte, er würde diesen Abend nicht überleben.
Doch wie sich herausstellen sollte, hatte er ihn überlebt und so rannte er jetzt, so schnell ihn seine Füße trugen am Ufer der Rhóne entlang. Er war sich nicht einmal sicher, wieso er so rannte, doch er wusste, dass es sehr wichtig war. Er durfte um keinen Preis anhalten. Jetzt kam er an der Rue de Connaissance vorbei, einer gut besuchten Straße, aufgrund ihrer unzähligen Bars und anderweitiger Geschäfte. Zu seiner Freude herrschte hier trotz des späten Abends noch reger Verkehr. Als er in die Straße einbog, kam ihm eine Gruppe betrunkener Männer entgegen, die wohl soeben erst eine Bar verlassen hatten. Er wurde etwas langsamer und wollte geradewegs an ihnen vorbeigehen. Die Menschen um ihn herum gaben ihm jetzt ein behagliches Gefühl der Sicherheit. Er war nicht mehr in der dunklen Gasse. Er war nicht mehr allein.
Kurz bevor die Gruppe in Blickreichweite war, fielen Bernard die unübersehbaren Blutspuren auf seiner Kleidung ein, die durch Simons blutende Augen verursacht worden waren. Er blieb stehen und zog seinen Arbeitspullover aus, um ihn an die Straßenseite zu werfen, doch während er ihn gerade in seinen Händen hielt, bemerkte er verblüfft das fehlende Blut auf dem Fließstoff. Doch die Gruppe hatte ihn fast erreicht und da es sich um eine Augentäuschung handeln musste, warf er das Oberteil zur Seite und ging unauffällig weiter.
Die Gruppe war offenbar in ein Gespräch vertieft und hatte ihn noch nicht bemerkt. Sie schien sich nicht für ihn zu interessieren und lief einfach an ihm vorbei. Lediglich in dem Moment, als sie sich genau neben ihm befand trafen sich die Augen eines der Männer mit den seinen. Und als Bernard daraufhin aufschrie, nach hinten stolperte und beinahe den Halt unter den Füßen verlor, da richteten sich all ihre Augen direkt auf ihn. Aus jeden von ihnen schossen Fontänen des Blutes und färbten den Bürgersteig rot.
Bernard hielt sich entsetzt die Hand vor den Mund.
„Nein!“, rief er verzweifelt. „Das ist nicht möglich!“
Dann rannte er so schnell er konnte weiter die Straße entlang. Auf dem Weg wandten sich immer weitere Passanten zu ihm um und aus all ihren Augen schoss das Blut nur so in Strömen. Bald schon watete Bernard durch ein Meer aus roten Tränen und kam immer langsamer voran. Er kämpfte sich durch die Strömung immer weiter auf seine Unterkunft am Ende der Straße zu. Als er sie letztendlich erreichte, stand das Blut inzwischen bis zu seinen Knien. Er streckte seinen Arm aus und öffnete seine Haustür. Der Schub der Massen war derartig stark, dass er regelrecht ins Haus gespült wurde. Unter starker Anstrengung schaffte Bernard es, die Türe wieder zu schließen. Die Tür schien dicht zu sein, die erste Gefahr hatte er somit gebannt. Er rannte von Fenster zu Fenster und versicherte sich, dass alles verschlossen war. Der Blutpegel war inzwischen so hoch, dass er bereits die Hälfte der Fensterscheiben einnahm.
Erschöpft ließ Bernard sich zurück auf seinen Sessel fallen. Für einen kleinen Moment erinnerte er sich daran, wie er dieses Haus vor vielen Jahren zusammen mit seiner Frau gekauft hatte. Wie ihre Tochter auf diesem Teppichboden mit ihren Puppen gespielt hatte, als sie drei Jahre alt geworden war. Damals, als sie alle noch glücklich gewesen waren. Zumindest glaubte er, dass sie das gewesen waren. Doch, dachte er und begann traurig zu nicken. Er war sich sicher, dass sie das waren. Damals vor zehn Jahren, da waren sie noch glücklich gewesen. Er hatte zu dieser Zeit noch nicht so viel getrunken. Eigenartigerweise hatte er wohl erst richtig damit angefangen, als sein Vater verstorben war. Was hatte er nur damit bezwecken wollen? Er hatte sich doch immer vorgenommen anders zu werden. Besser.
Eine Träne bildete sich in Bernards Augen und lief seine Wange herab, bis sie auf seiner rechten Hand abprallte und zu Boden fiel.
Nein!, dachte er. Das konnte unmöglich wahr sein! Er richtete sich auf und rannte in sein Bad, wo der große Spiegel hing, den er und seine Frau damals zu ihrer Hochzeit von seiner Mutter geschenkt bekommen hatten. Auf seiner rechten Wange, von seinem Auge abwärts, war die rote Spur seiner Träne gekennzeichnet. Er wurde panisch, doch er konnte es nicht unterdrücken. Erneut kniffen sich seine Augen zusammen und zwei weitere blutige Tränen bahnten sich ihren Weg zu Boden. Und da zwei Weitere, gefolgt von einem nicht enden wollenden Fluss aus roten Tränen der Verzweiflung, die den Boden bedeckten.
„Nein!“, schrie er. „Bitte, hör auf! Ich hab es doch erkannt! Ich weiß es jetzt“
Entsetzt konnte er nur aus seiner verschwommenen Sicht mit ansehen, wie sich immer größere Fontänen des Blutes aus seinen Augen ergossen und immer härter gen Boden prallten.
„Bitte nicht!“, schrie er. „Bitte...“
Doch es hatte keinen Zweck. Immer weiter stiegen die flüssigen Massen an, bis sie seinen gesamten Unterkörper überdeckt hatten. Und noch immer konnte er nicht aufhören zu weinen. Verzweifelt suchte er in seinem Umfeld nach einer Lösung, irgendeinem Ausweg aus seiner scheinbar ausweglosen Situation. Und er fand ihn. Den einzigen Weg, der ihm als möglich erschien. Er musste sich beeilen. Nur noch wenige Sekunden trennten ihn von seinem sicheren Tod. Würden die Blutmassen seinen Kopf übersteigen, würde er mit Sicherheit ertrinken. Er wusste, was er zu tun hatte und nun durfte er keine Zeit mehr verlieren.
Kommissar Moralité betrachtete angewidert den ausgebluteten Körper des Mannes. Dann richtete er seinen Blick schnell wieder auf seinen Untergebenen.
„Also, Francois, was haben wir hier?“
„Scheint ziemlich durchgedreht zu sein.“, antwortete dieser bestimmt. Die Leute auf der Straße meinten, er hätte panisch um sich geschrien und sei hier hereingerannt. Das haben sie dann gemeldet und als wir hier ankamen, war er bereits tot.“
„Todesursache?“
„Eindeutig Blutverlust, würde ich sagen. Der Wahnsinnige hat sich selbst die Augen ausgestochen. Mit einer Zange.“, sagte er und unterdrückte dabei nicht seinen Ekel. „Der kann kaum erwartet haben, dass er das überleben würde.“
„Könnte das irgendetwas mit dem Mord an der Prostituierten zu tun haben?“, hakte Moralité nach.
„Schwer zu sagen. Aber ich denke, eher nicht. Schließlich war bei ihrem Leichnam nichts Besonderes, was auf einen Zusammenhang hindeuten würde. Nein, ich schätze da hat einfach ein Kunde keine Lust gehabt zu zahlen.“
„Vermutlich.“, pflichtete ihm Moralité bei.
„Und dieser Kerl hier wird einfach zuviel getrunken haben. Ich nehme an, er hat Realität und Fantasie einfach nicht mehr unterscheiden können.“
Der Kommissar nickte. „Armes Schwein. Also ist der Fall eigentlich abgeschlossen oder?“
Francois nickte.
„Sehr gut, ich bin nämlich wirklich todmüde.“, erklärte Moralité und gähnte.
Francois lachte amüsiert über das Wortspiel des Kommissars, dann gingen sie nach Hause.