Die Träne aus Gold
Miri riss die Augen auf. Ihr ganzer Körper zitterte und kalter Schweiß rann ihre Schläfe hinab. Es war wieder dieser Traum. Dieser eine verdammte Traum, in dem sie alles verlor, was sie nie hatte...
Miri war 16, hatte dunkles, zottiges Haar, und bernsteinfarbene Augen.
Sie lebte in einer ländlichen Gegend, nicht weit entfernt von London. Seit sie denken konnte, lebte sie in ein und demselben Dorf, wo jeder Tag dem anderen glich. Und auch, wenn sie die Ruhe in den Wäldern und auf den Wiesen genoss, hasste sie es dort.
Sie hasste die Menschen und deren beschränkte Horizonte, sie hasste die harte Arbeit auf den Feldern und die Eintönigkeit des Dorfes. Aber vor allem hasste Miri die Dummheit, die ihr tagein tagaus begegnete und sie allmählich an den Rand des Wahnsinns brachte.
Und das schlimmste an allem war, dass niemand ihre Auffassung teilte.
Sie war eine Außenseiterin. Nicht, weil sie dazu gemacht wurde, sondern weil sie es als einzigen Ausweg sah, um aus diesem Elend herauszukommen. Denn sie hatte einen Plan. Einen sehr einsamen Plan, auch wenn Miri nicht hätte einsam sein müssen.
Da war ihre Mutter. Und ihr Vater, auch wenn dieser meist mit den Männern des Dorfes auf den Feldern war. Und dann waren da noch Marc und Merle, ihre jüngeren Geschwister.
Und natürlich all die anderen Familien des Dorfes.
Im Grunde hätte es Miri weitaus schlimmer treffen können, sie hätte ein idyllisches Leben führen können, so wie es alle taten.
Aber Miri konnte das nicht. Sie war anders. Aber war das nun gut... oder schlecht?
Auch wenn sie die Einsamkeit noch so schmerzte, gehörte sie nicht hier hin. Sie gehörte nicht dazu und fühlte sich allein.
Genau wie an jenem Morgen. Denn das Haus war leer.
Noch angespannt von ihrem Traum setzte sie sich auf, vergrub kurz das Gesicht in ihren Händen, atmete tief durch und fuhr sich schließlich durch ihre Haare.
Miri seufzte und murmelte abwesend: „So kann der Tag ja nur besser werden.“
Und es war ein sehr wichtiger Tag:
Fast das ganze Dorf hatte sich bereits früh am Tag auf den Weg in die nächstgrößere Stadt gemacht, um auf dem großen Markt Gemüse und Getreide gegen allerlei Nützliches zu tauschen.
Miri ging schon lange nicht mehr mit auf den Markt, also wunderte sich keiner, dass sie auch diesmal im Bett liegen blieb.
Es war alles perfekt: heute würde sie endlich dieses Leben hinter sich lassen und abhauen. Sie wollte nach London! Endlich in einer großen Stadt leben. Sie wollte fremde Menschen treffen, schlaue Bücher lesen, Neues ausprobieren, die Welt kennenlernen und das Leben genießen. Davon träumte sie inzwischen jede Nacht, aber jedes Mal traf sie auf unerwartete Hindernisse und scheiterte kurz vor ihrem Ziel.
Aber dieser Tag war kein Traum! Miri war hellwach und würde es endlich durchziehen. Nichts und niemand würde sie aufhalten!
Der Gedanke daran machte ihr Gänseheut und sie musste unwillkürlich grinsen.
Schnell warf sie sich ein Kleid über und zog ihren Beutel unterm Bett hervor, den sie am Tag zuvor schon heimlich mit dem Nötigsten gepackt hatte.
Als Miri noch ein letztes Mal den Blick durch ihr Zimmer schweifen lies, blieb dieser an ihrer Fensterbank hängen. Darauf stand eine kleine unscheinbare Schnitzerei. Es war ein weinender Engel, den sie mit ihrer Mutter vor vielen Jahren auf dem Markt bei einem Schreiner entdeckt hatte.
„Warum weint der Engel, Mama?“, hatte Miri sie damals gefragt. „Um zu heilen, mein Schatz. Die Tränen eines Engels haben wundersame Kräfte, die selbst die schwersten Krankheiten und Verletzungen heilen können.“ - „Aber Mama! Engel sind im Himmel. Wie soll man denn die Tränen bekommen?“ Miris Mutter hatte ihr übers Haar gestreichelt und geantwortet: „Du hast die Tränen doch selbst schon fallen gesehen. Nachts am Himmel ziehen sie einen langen, leuchtenden Schweif hinter sich her und versinken im Meer. Und wenn man ganz viel Glück hat, findet man dann eine der goldenen Tränen am Strand.“ - „Hast du mal eine gefunden, Mama?“, hatte Miri mit großen Augen gefragt. „Nein. Aber ich brauche auch keine Engelsträne. Ich habe doch meinen eigenen kleinen Engel!“, und nachdem sie das gesagt hatte, gab sie Miri einen Kuss auf die Stirn und kaufte ihre den Engel.
Das war Miris schönste Erinnerung. An ihrer Wange kullerte eine Träne herab. Sie liebte ihre Mutter, auch wenn sie sich hier nicht richtig fühlte und es brach ihr das Herz, dass sie nicht bei ihr bleiben konnte.
Ohne zu überlegen wischte sich Miri die Träne aus dem Gesicht, ging zur Fensterbank, griff den Engel und packte ihn in ihre Tasche.
Sie durfte keine Zeit mehr verlieren, wenn sie vor der Abenddämmerung hinter dem großen Wald sein wollte. Im Wald zu übernachten wäre zu gefährlich gewesen und sie musste sich noch einen sicheren Schlafplatz suchen.
Sie stürmte aus ihrem Zimmer in die Küche, schnappte sich etwas Brot und ein paar Äpfel und verließ das Haus durch die Hintertür.
Das war er also: der Anfang ihres neuen Lebens! Es war ein wunderschöner Tag, die Felder waren voll mit Getreide, der Mais war bereits 2 Meter hoch und die Sonne schien mit ihrer ganzen Kraft. Miris Herz überschlug sich beinahe vor Freude und sie grinste bis über beide Ohren.
Doch plötzlich hörte sie jemanden aufgeregt ihren Namen rufen. Und sie kannte die Stimme. Es war ihr kleiner Bruder Marc, er kam auf sie zu gerannt.
Miri verlor den Boden unter den Füßen. „Das kann nicht sein. Das darf nicht wahr sein!“, dachte sie. Wie sollte sie nun unbemerkt abhauen? Was tat Marc hier?! Miri sank zu Boden und beobachtete, wie Marc immer näherkam.
„Miri, Miri!“, Marc schrie sie fast an, obwohl er nur noch wenige Meter entfernt war. „Mutter! Sie wurde gebissen! Ihr Bein... Blut... alles voll Blut!“
Marcs Worte katapultierten Miri zurück in die Realität. Jetzt bemerkte sie erst, dass Marc völlig außer Atem und sein kleines Gesicht tränenüberströmt war. Sie sprang auf, lief ihm entgegen und ließ ihn in ihre Arme fallen. „Ganz ruhig! Marc, was ist los? Was ist passiert?“
Marc weinte und schluchzte bitterlich und konnte sich kaum beruhigen. Miri streichelte ihm über den Rücken und drückte ihn eng an sich. Marc war erst sieben und sie ertrug es einfach nicht, ihn so leiden zu sehen. „Erzähl mir, was los ist, Marci.“ Sie sah ihm in die Augen und wischte ihm die Tränen aus dem Gesicht.
„Mutter wurde von einem wilden Hund gebissen! Auf dem Weg zum Markt. Er kam aus dem Wald gerannt und fiel sie von hinten an. Ihr komplettes Bein ist zerrissen und voll Blut! Und er hatte so viel Schaum vorm Mund! Es war so schlimm!“ Die Tränen überkamen ihn wieder.
„Oh Gott! Marc... ist das wirklich passiert? Wo ist Mutter jetzt? Und Vater und Merle? Wo sind die?“ Marc versuchte zu antworten doch es fiel ihm merklich schwer. „Sie tragen Mutter her. Vater hat den Hund von Ihr gerissen und erschlagen und Mutter lag auf dem Boden! Ich bin hergerannt, du sollst den Pfarrer holen, damit er für Mutter betet. Es ist so schlimm!“, seine Stimme versagte.
Miri wurde schlecht. Sie wusste nicht, wie sie mit Marcs Worten umgehen sollte und musste mit ihm weinen. Sie saßen einige Minuten so da, ohne etwas zu sagen. Was sollte Miri nur tun? Wenn es so schlimm war, wie Marc sagte, hatte ihre Mutter keine Chance. Selbst wenn sie den Angriff überlebt hat, würde sich die Wunde entzünden und sie würde ihr Bein verlieren.
Den Pfarrer holen... Miri glaubte nicht an Gott, noch etwas, das sie von allen hier unterschied. Was sollte dieser Mann tun können, außer ein paar auswendiggelernte Worte wiederholen. Mutter brauchte richtige Hilfe! Nur wie? Sie brauchte eine Idee.
„Was ist in dem Beutel?“, fragte Marc. „Mist, der Beutel!“, dachte Miri. Sie hatte komplett vergessen, was sie eigentlich gerade tun wollte. Aber das war ihr jetzt egal. Sie musste etwas für ihre Mutter tun, alles andere kann warten.
„Ach, ich wollte nur einen kleinen Ausflug machen.“, log Miri. Daraufhin jedoch fiel ihr wieder der weinende Engel in ihrem Beutel ein und die Worte ihrer Mutter schwirrten ihr durch den Kopf „...wundersame Kräfte, die selbst die schwersten Krankheiten und Verletzungen heilen können“, flüsterte sie.
„Was?“, fragte Marc. „Nichts. Kleiner, hör mir gut zu! Du wartest hier! Kümmere dich gut um Mutter und sag Vater, dass ich einen Plan habe und bald zurück bin. Stell jetzt keine Fragen! Wir dürfen keine Zeit verlieren, Mutter braucht Hilfe! Alles wird gut.“
Sie gab ihm noch einen Kuss, sprang auf und rannte davon. Marc blieb völlig perplex zurück.
Miris Herz schlug wie wild und sie rannte so schnell sie konnte. Ihre Lunge brannte und ihre Seiten stachen. Aber sie ignorierte es und rannte immer weiter. Sie brauchte eine dieser Tränen. Wenn es sie wirklich gab, dann würde sie eine finden!
Miri war noch nie am Meer gewesen und sie wusste nur, dass es weit entfernt im Süden lag. Aber sie wusste auch, dass einer der Aussiedlerhöfe einige Pferde hat und wenn diese Leute auch auf dem Markt sind, könnte sie sich eines der Pferd stehlen.
„Wenn ich die Nacht durchreite, bin ich morgen Abend zurück. Vorausgesetzt, ich finde schnell eine Träne...“, sagte sie sich.
Nach gut einer halben Stunde erreichte sie den Aussiedlerhof. Sie hielt etwas Abstand, um zu verschnaufen und die Lage auszukundschaften. Sie konnte weder am Haus und der Scheune, noch auf den Feldern oder bei den Ställen jemanden entdecken.
Mit pochendem Herzen schlich sie sich in Richtung des Pferdestalls. Doch darin war kein Pferd zu sehen. „Sie können doch nicht alle Pferde mitgenommen haben!“, dachte sie sich und lief einmal um die Scheune herum. Und tatsächlich entdeckte sie dort, an einem Pfahl angebunden, einen jungen, schwarzen Hengst. Ihr Herz machte einen Satz und sie musste wieder grinsen.
Als sie sich näherte wurde das Tier sichtbar unruhiger, offenbar hatte er Angst.
Miri holte einen der Äpfel aus ihrem Beutel und ging vorsichtig mit ausgestreckter Hand auf den Hengst zu. Er schnaufte nervös, erkannte jedoch den Apfel und fraß ihn. Miri ergriff die Gelegenheit und streichelte ihn behutsam. Es schien ihm zu gefallen und Miri löste das Seil von dem Pfahl.
„So ist fein, mein großer! Alles ist gut, jetzt muss ich nur noch irgendwie auf dich draufkommen.“
Das Pferd schien nun völlig ruhig zu sein. Miri führte ihn vom Hof und entdeckte einen umgefallenen Baum. Sie kletterte auf den Stamm und schwang sich vorsichtig auf den Rücken des Hengstes.
„So ist‘s fein! Alles ist gut. Hast du eigentlich einen Namen? Du hübscher. Ich glaube ich nenne dich... Apfel! Ja, genau. Du bist mein Apfel.“ Sie lachte und Apfel trabte los.
Miri galoppierte mit Apfel immer weiter in Richtung Süden. Immer weiter über Wege, Wiesen, Felder und durch Wälder. Vorbei an Seen und Bächen, arbeitenden Bauern und spielenden Kindern. Gegen Abend hielten die beiden an einem Hof und bekamen von den netten Bauern etwas zu trinken und eine warme Suppe zum Essen. Die Familie bot ihr sogar an, die Nacht bei ihnen zu verbringen, doch Miri lehnte dankend ab. Sie wollte so schnell wie möglich diese Träne finden. Also ritt sie die ganze Nacht durch immer weiter und weiter.
Die ersten Sonnenstrahlen waren schon zu sehen, als Miri die Schreie eines Vogels hörte, den sie noch nie gesehen hat. „Hörst du das, Apfel? Das muss eine Möwe sein! Wir sind fast da!“ Voller Freude ritten sie über den letzten Hügel und vor ihnen lag etwas Wunderschönes.
„Das Meer!“, hauchte Miri. Sie hatte es tatsächlich bis ans Meer geschafft. Und es war das schönste, was sie je gesehen hatte. Die Sonnenstrahlen glitzerten auf dem Wasser und der Himmel war rosarot gefärbt. Miri umgab eine wohlige Wärme und sie fühlte sich so geborgen wie schon lange nicht mehr. Sie schmiegte sich an Apfels Rücken und die Welt um sie herum stand für einen kurzen Augenblick still.
„Wie es Mutter wohl gerade geht? Ob sie überhaupt noch le... Nein. Daran darfst du nicht denken!“, dachte sie sich, dazu entschlossen, weiterzumachen. „Los, Apfel! Finden wir die Goldträne.“
Miri lief den Strand stundenlang auf und ab und durchsuchte den Sand. Ihr wurde langsam bewusst, dass sie gar nicht wusste, wie diese Tränen überhaupt aussahen. Würde sie sie überhaupt erkennen? Erste Zweifel kamen auf, ob ihre Entscheidung vielleicht doch nicht die Richtige war.
Die Sonne stand schon im Zenit und Miri hatte immer noch nichts gefunden. Es war sehr warm und sie bekam Hunger. Auch Apfel schien eine Pause vertragen zu können, also entschloss sie sich in eine Düne zu legen und sich einen Moment auszuruhen.
Miri wurde von Apfels unruhigen Geschnaufe wach. „Hmm, was ist?“, stammelte sie, noch im Halbschlaf. Plötzlich wurde ihr wieder bewusst, wo sie war und ihre Gedanken kreisten. „Mist! Ich bin eingeschlafen. Wie lange war ich weg? Ich muss mich beeilen!“
Plötzlich sprang Apfel auf. „Hey! Was soll das? Was hast du?“, rief Miri und stand auf um ihn festzuhalten und zu beruhigen. Da sah sie am Strand eine merkwürdige Gestalt laufen, die etwas zu sammeln schien. Sie trug einen langen dunkeln Umhang und hatte die Kapuze bis tief ins Gesicht gezogen. Es schien eine ältere Frau zu sein, die gekrümmt an einem Stock ging.
„Hm, vielleicht hat sie eine Idee, wo wir eine Träne finden, was meinst du Apfel?“
Miri nahm Apfel am Seil und lief der Frau entgegen. Sie sah etwas gruselig aus, aber was sollte sie schon tun?
Miri und Apfel näherten sich ihr und sie erkannte nun, dass die Frau im Sand wühlte. „Vielleicht sucht sie ja auch nach Tränen.“, schoss es durch Miris Kopf.
„Hallo!“, sagte Miri, etwas unsicher und mit einigen Metern Abstand.
Die Frau blickte nicht auf und grub weiter im Sand. „Hallo, mein Kind. Herrlicher Tag für einen Spaziergang am Strand, nicht?“ – „Äh, ja. W... wunderschön. S... suchst du auch nach einer goldenen Träne?“ – Die Frau blickte noch immer nicht auf. „Eine goldene Träne? Was soll das sein?“ Miri rutschte das Herz in die Hose. Sie kannte keine goldenen Tränen. Gibt es sie dann überhaupt? Was wenn nicht? Wie soll sie ihrer Mutter dann noch helfen?
„Ähm, naja. Die Träne eines Engels.“ Miri erzählte der Frau ihre Geschichte von den Engelstränen die ins Meer fallen und dem Hund, der ihre Mutter angegriffen hat. Und auch warum sie jetzt hier ist. Als sie fertig war, bemerkte Miri, dass ihre Beine zitterten und Tränen ihre Wangen hinunterliefen.
Endlich blickte die Frau auf und schaute Miri direkt in die Augen. Sie hatte ein sehr faltiges Gesicht aber ihr Ausdruck war freundlich. Unter ihrer Kapuze schauten schwarze Locken hervor. Miri erwiderte den Blick der Alten und war wie gebannt von ihren Augen. Sie waren bernsteinfarben und leuchteten, genauso wie Miris Augen. Sie strahlten eine beruhigende Geborgenheit aus. Miris Beine hörten auf zu zittern und sie atmete unwillkürlich tiefer und langsamer.
„Es ist schrecklich zu hören, was deiner Mutter passierte, mein Kind. Doch von einer solchen Träne habe ich noch nie gehört.“ Miri stand das Entsetzen ins Gesicht geschrieben. „Das war’s... es war umsonst.“, ging ihr durch den Kopf und sie setzte sich in den Sand.
„Aber vielleicht kann ich dir dennoch helfen.“
Miri wusste nicht, wie ihr geschah. Was sollte das heißen? „Wie?“, fragte sie. „Ich weiß nicht mal, ob sie noch lebt und ich habe meine ganze Hoffnung in ein Märchen gesteckt. Wie dumm konnte ich sein, einer Kindergeschichte zu glauben? Sie hätte mich gebraucht, aber ich wollte fort. Ich dachte ich könnte sie so retten“, weinte Miri voller Reue und Verzweiflung.
„Beruhige dich, mein Kind. Hör mir zu. Keiner kennt das Meer und die Natur so gut wie ich es tue. Ich kenne Salben und Tränke, die Hitze senken, Wunden heilen und neues Leben in geschwächte Körper hauchen. Diese kleinen Muschelschalen hier zum Beispiel stärken die Knochen beim Wachsen!“ Die Frau zeigte auf einen Beutel voller blauer Muscheln, die sie gerade aus dem Sand gegraben hatte.
Miri schluckte. Sie wusste nicht, was sie denken sollte. „Bist du eine Hexe?“, brach es aus hier heraus. „Hexerei gibt es nicht. Genauso wenig wie Gott oder deine Engelstränen. Aber so etwas brauchen wir auch nicht, denn es gibt die Natur. Und es gibt Menschen wie mich, die sie zu nutzen wissen. Also, ich bin bereit mit dir mitzukommen und deiner Mutter zu helfen.“ – „Das würdest du tun?“, fragte Miri, immer noch durcheinander.
„Natürlich. Das ist meine Aufgabe auf dieser Welt. Worauf warten wir noch, lass uns losreiten.“ Miri zögerte nicht lange, schließlich hatte sie keine andere Wahl. Sie musste dieser Frau vertrauen, sonst würde ihre Mutter ohne Zweifel sterben. „Oh danke!“, Miri fiel der alten Frau um den Hals. „Dann lass uns los! Es ist ein weiter Weg bis nach Hause. Aber wie heißt du eigentlich?“ Die Frau schmunzelte über Miris Freude. „Die Leute nennen mich nur „die Heilerin“. Eine ziemlich langweilige Bezeichnung. Ich kann ja noch mehr als heilen.“ Die Frau lächelte. „Kaum einer kennt meinen richtigen Namen, aber dir verrate ich ihn. Ich bin Theresa. Aber jetzt los! Wir dürfen keine Zeit verlieren.“
Apfel trug die beiden den ganzen Weg zurück. Hier und da wollte Theresa anhalten, um Pflanzen einzusammeln, die sie entdeckt hatte. „Die sind für deine Mutter“, sagte sie jedes Mal. Sie machten kein einziges Mal Rast, um ja nicht zu spät zu kommen.
Die Nacht war schon längst hereingebrochen, als sie endlich Miris Haus erreichten, es brannte noch Licht. Miri sprang von Apfel und rannte ins Haus. Ihr Vater und ihre Geschwister saßen alle schweigend im Schlafzimmer ihrer Eltern. Ihre Mutter lag regungslos ihm Bett, blass und in schweiß gebadet, das linke Bein mit blutdurchtränkten Laken umwickelt. Miri brach in Tränen aus. „Miri, wo warst du?“, fragte ihr Vater mit Tränen in den Augen. Miri hatte ihn noch nie weinen gesehen. „Ich wollte eine goldene Träne besorgen, aber... aber das ist jetzt egal. Ich habe jemanden gefunden, der Mutter helfen kann!“ – „Miri... ich fürchte dafür ist es zu spät. Mutter... sie ist sehr schwach und ihr Körper glüht. Sie hat den ganzen Abend Dinge gesehen, die nicht da waren. Sie hat nach dir gerufen... und jetzt schläft sie nur noch. Wir sitzen hier, um sie in ihren letzten Minuten zu begleiten.“ Marc und Merle vergruben die Gesichter in ihren Kissen und es war nur noch ein leises Schluchzen zu hören. Ihr Vater sah Miri mit traurigem Blick an und nahm sie in den Arm.
Das Zimmer drehte sich. Das konnte nicht sein. Wie konnte sie ihre Mutter in diesen Stunden nur alleine lassen. Was hatte sie sich dabei gedacht?
„Guten Abend.“, kam es von der Tür herein. Miri hatte ganz vergessen, dass sie Theresa draußen stehen gelassen hat. „Vater! Das ist Theresa. Sie ist eine... sie kennt sich in der Natur aus und kann Menschen heilen! Theresa das kannst du doch, oder? Bitte hilf meiner Mutter!“ – „Ist das wahr?“, fragte der Vater mit hoffnungsvollem Blick. „Nun ja, es stimmt. Sie ist jedoch schon sehr schwach und hat viel Blut verloren. Ich werde sehen, was ich machen kann.“
Die ganze Nacht kochte Theresa Kräuter zu Tränken, zerrieb Blüten zu Salben und kümmerte sich um die leblose Frau. Während, die anderen versuchten etwas zu schlafen, ließ Miri Theresa dabei keine Sekunde lang aus den Augen, verfolgte gespannt, wie sie die Pflanzen und Steine verarbeitete. Die meisten davon, hatte Miri noch nie gesehen. Theresa sagte währenddessen kein Wort. In den frühen Morgenstunden verließ auch Miri die Kraft und ihre Augen fielen zu.
„Miri. Miri.“, flüsterte Theresa und versuchte sie sanft zu wecken. Trotzdem erschreckte sich Miri sehr. „Ist was mit Mutter?!“ – „Nein, mein Kind. Alles ist gut. Sie schläft noch aber ihre Temperatur ist wieder gesunken und die Wunden sind versorgt. Jetzt können wir nur noch abwarten, aber ich denke, sie wird es schaffen.“ Theresa lächelte Miri mit ihren beruhigenden Augen an. Die ganze Last der letzten Tage fiel von Miris Schultern. „Oh ich danke dir so sehr! Du hast sie gerettet. Wie kann ich dir nur danken?“ – „Pscht! Nicht so voreilig, Kleines. Sie braucht jetzt vor allem viel Ruhe und sobald sie aufwacht genug zu essen und weitere Kräutertränke. Ich bleibe bei euch, bis sie wieder zu Kräften gekommen ist und versorge ihre Wunden. Die Verbände müssen regelmäßig erneuert werden.“
Miri fiel ihr in die Arme und weinte, diesmal jedoch vor Freude. „Ich stehe für immer in deiner Schuld, das was du getan hast ist so toll! Wo hast du das gelernt? Woher kannst du das alles?“ – „Weißt du, vor vielen, vielen Jahren, als ich ungefähr so alt war wie du, traf ich eine alte Frau, wie ich es jetzt bin. Sie lehrte mich die Schönheit der Natur und all ihrer Geheimnisse. „Du bist etwas Besonderes, Theresa.“, hatte sie immer gesagt. Ich wusste nie, was sie damit meinte. Aber als ich dich am Strand traf und deine goldenen Augen sah, wusste ich es. Miri, du bist anders als die anderen, stimmt‘s? Dein Geist unterscheidet sich von deren anderer. Du passt hier nicht hin. Du bist für etwas größeres bestimmt und vermutlich ist es genau das, was uns beide verbindet und vom Rest unterscheidet.“
Miri traute ihren Ohren nicht. Theresas Worte fühlten sich so gut und so wahr an. Noch nie hatte sie sich so verstanden gefühlt und das von einer Frau, die sie gerade mal einen Tag lang kannte. Konnte das möglich sein? „Ach was... Ich bin nicht besonders. Ich bin nur eine Bauerstochter aus einem kleinen Dorf. Ich weiß nichts über diese Welt und ich habe noch nie etwas Besonderes getan.“ – „Glaube mir, mein Kind. Du verstehst es jetzt vielleicht noch nicht, aber irgendwann könntest du es verstehen. Wenn du möchtest, würde ich dich gerne aufnehmen. Ich weiß, es klingt vielleicht nicht so spannend, mit einer alten Frau durch die Wälder zu wandern. Aber ich könnte dir etwas von meinem Wissen abgeben und dich ausbilden. Sofern du das überhaupt möchtest.“ – „Ist das wirklich dein Ernst?“, fragte Miri ungläubig. „Du willst mir das alles beibringen?“ – „Ja, das würde ich gerne tun. Du hast die Gabe zum Heilen in dir und ich möchte dir helfen, diese zu entfalten.“, sagte Theresa, etwas aufgeregt, ob Miri auf ihren Vorschlag eingeht.
Miri konnte es nicht glauben. Theresa bot ihr genau das an, was sie immer wollte. Sie würde reisen, die Welt sehen und neues lernen! „Etwas Besonderes“, schwirrte es durch ihren Kopf und sie konnte die Freude kaum zügeln. „Ja. Ich meine, JA! Ich würde liebend gerne von dir lernen! Ich kann es kaum glauben. Können wir das wirklich machen? Ich weiß gar nicht was ich sagen soll!“ Miris Gedanken überschlugen sich.
„Oh, das freut mich sehr! Du wirst eine tolle Schülerin, davon bin ich überzeugt! Jetzt versuch dich trotzdem noch etwas auszuruhen. Es waren anstrengende Tage für dich und deine Mutter braucht uns noch. Wir besprechen das alles später genauer. Alles wird gut, Miri.“, sagte Theresa, streichelte Miri über den Kopf und ging raus um sich um den erschöpften Apfel zu kümmern.
Miri war hellwach vor Aufregung und todmüde zugleich. „Mutter braucht uns. UNS.“ Mit diesen Worten und einem Lächeln im Gesicht schlief Miri ein und träumte wieder von einem neuen Leben. Einem erfüllten, besonderen Leben. Doch diesmal würde nichts schief gehen, das wusste sie. Diesmal würde sie aufwachen und genau das bekommen. Denn sie war besonders.