Was ist neu

Die Tour mit dem Tod

Mitglied
Beitritt
23.08.2002
Beiträge
11

Die Tour mit dem Tod

Die Tour mit dem Tod (2001)

Es war am dämmern, als das Schicksal an meine Tür klopfte. An jenem Tag, einem der ersten des Frühlings, junge Knospen an den Zweigen, Vogellieder in der Luft, verließ ich die Welt der Lebenden. Ich öffnete die Tür für einen kleinen, unscheinbaren Mann, der sich klingelnd Einlaß erbat. Mit meiner Aufforderung verschwand der letzte Streif der Sonne am Horizont. Der Fremde reichte mir seine Hand, die ich freundlich schüttelte; recht kalt war sie, wohl vom Wind, nahm ich an, und so bot ich dem Besucher eine Tasse warmen Tees an. Er jedoch lehnte ab.
"Es tut mir leid, aber ich habe eine schlechte Nachricht für Sie." eröffnete er das Gespräch. "Lieber Freund, es tut mir leid, aber Sie sind heute verstorben." Natürlich wollte ich herzlich zu lachen beginnen, aber eine innere Stimme schritt ein, raunte mir über die Unwirklichkeit der Situation zu, das sei die Wirklichkeit. So schaute ich ihn nur vollkommen verwirrt an; er führte mich in mein Wohnzimmer, wo ich meine sterbliche Hülle erblickte. "Natürlich möchten Sie nun einwenden, Sie seien noch sehr jung, Ihre Zukunft liege noch vor Ihnen und all diese Dinge; nennen Sie es Pech oder Schicksal oder wie immer Sie wollen, manche Dinge sind unabänderlich und der Tod gehört dazu." Seinem bemitleidendem Gesichtsausdruck entnahm ich, wie schwer ihm diese Mission fiel. Ich brachte kein Wort über die Lippen. "Sie werden einwenden wollen, dass Sie kein Verschulden an Ihrem Tod haben und wo an dieser Stelle göttliche Gerechtigkeit walte, und ich sage Ihnen, Sie haben recht damit, Sie haben kein Verschulden an Ihrem Tod und nach Ihren Maßstäben ist Ihr Versterben schreiendes Unrecht, aber auch der unverschuldete Tod gehört zum Umfang des Lebens; aber das haben Sie nun ja hinter sich." Seine Haltung verriet sein schlechtes Gewissen. Immer noch sagte ich nichts, so überwältigt war ich vom schreienden Gefühl des Unrechtes. Er wurde immer aufgeregter, wie ich den fahrigen Bewegungen seiner Hände entnahm, und er schien seinen Auftrag nun hinter sich bringen zu wollen. "Haben Sie vielleicht noch einen Wunsch? Ansonsten können wir uns dann ja auf den Weg machen." Mir fiel nichts ein, was ich hätte erwidern können; gedankenverloren griff ich nach der Teetasse, um sie wegzuräumen, doch verwundert stellte ich fest, dass ich sie noch in die Hand nehmen konnte.
Der dunkle Herr zuckte wie ein ertapptes Kind zusammen. "Du meine Güte! Wenn Sie mir nicht folgen wollen, dann werden Sie wohl oder übel als Geist weiter in dieser Welt verweilen. Das ist nicht angenehm, es ist wirklich zermürbend, glauben Sie mir!" Mir fiel jetzt ein Koffer auf, den der Mann bei sich trug, und gerade öffnete er ihn und in wühlte in Formularen.
Anscheinend vergeblich, denn nachdem er eine Weile durch die Zettel geblättert hatte, schaute er mich an. "Kann ich sie irgendwie davon überzeugen, mir zu folgen?" fragte er vorsichtig, ein nahezu flehender Ausdruck auf seinem Gesicht. Über mich selbst überrascht stellte ich fest, dass ich so etwas wie Mitleid für den Mann zu empfinden begann. Das kam mir absurd vor. Also würde ich mitspielen. "Dürfte ich vorher sehen, wo ich den Rest meiner Existenz verbringen werde?" hörte ich meine Lippen formen, erstaunt, wie selbstsicher ich mich doch auch als Verstorbener - oder Geist - noch fühlte. Nun hatte ich den Mann vollkommen aus dem Konzept gebracht, erschüttert ließ er sich in meinen komfortabelsten Ledersessel fallen und schaute mich niedergeschlagen an. "Vorher dahin, und dann entscheiden?" stammelte er, ein Unterton der Verzweiflung in der Stimme. Ich setzte mich auf das Sofa gegenüber und beobachtete ihn, um einen freundlichen Gesichtsausdruck bemüht, denn ich wollte den Herren nicht noch weiter aus dem Konzept bringen.
Da schien er eine Idee zu haben. "Hören Sie zu." setzte er an, und dann beugte er sich näher zu mir und flüsterte. "Ich kann Ihnen etwas verraten, das Ihren Tod für Sie vollkommen gleichgültig machen wird. Dann müssen Sie mir aber versprechen, mir zu folgen. Sind Sie einverstanden?" Ich runzelte die Stirn. Wollte er mich jetzt linken? Doch im Grunde genommen wirkte er nicht besonders hinterlistig, und so stimmte ich zu. "Sehr schön." sagte er und lächelte freundlich. "Morgen hält das jüngste Gericht Sitzung. Das Ende aller Tage ist da. Sie haben also nur einen Tag verloren; wenn Sie es nachher noch als Verlust sehen." Das war nicht mehr bizarr genug, um mich noch aus dem Konzept zu bringen. So zuckte ich nur die Schultern.
Er erhob sich, zum gehen? Er lief zur Wand und öffnete eine Tür, die nicht in mein Haus gehörte. "Kommen Sie?"

Wir kamen an einen Abzweig und hielten an. "Wollen Sie direkt in den Himmel, oder zuerst noch das Fegefeuer oder die Hölle besichtigen?" Und nun war ich doch erstaunt. "Es ist wirklich wahr? Ich hätte nun doch etwas - ", ich zögerte, " ... Unvorstellbares erwartet!" schloss ich. Die Hände in die Hüften gestemmt, fixierte ich ihn. Er schien ein Stück kleiner zu werden und versteckte seine weißen, kalten Hände in seinen Taschen. "Ich wusste ja nicht..." fing er an und brach sofort wieder ab. "Sie sind gar kein Christ?" versuchte er einen neuen Anfang. Ich zog nur die Augenbrauen hoch. "Welcher Religion gehören Sie an?" versuchte er es noch einmal. Ich lachte. "Fragen Sie doch den Allwissenden." Verdutzt beobachtete nun ich, wie er seinerseits einmal die Schultern hob und senkte, dann meinte er nur knapp gefasst: "Warten Sie bitte einen Moment." und verschwand durch eine dieser anscheinend überall verfügbaren Türen.
Es dauerte nur einen Moment, dann stand er wieder neben mir. "Okay." sagte er und straffte seinen schicken grauen Anzug, der mir erst jetzt richtig auffiel. "Wir machen eine Rundtour. Zeit ist schließlich genug da." Bevor ich mich dazu äußern konnte, ging es schon durch die nächste Tür.

Mein persönlicher Tod begann nun regelrecht, Qualitäten als Reisebegleiter zu entwickeln. Er lobte ausgiebig den Blick von dem Berg aus, auf dem wir standen, und als ich seinem Fingerzeig folgte, sah ich neben idyllischen Wäldern einen Geröllpfad, auf dem ein von Staub bedeckter Mann einen gewaltigen Stein bergan rollte. Schließlich neben uns angekommen, ließ er den Stein stehen und blickte uns aus tiefen, müden Augen an. "Endlich." vernahm ich eine brüchige Stimme. "Endlich habe ich es geschafft." Mitleid erfasste mich zu dem armen Mann, und auf dem Gesicht von Tod konnte ich einen furchtsamen Ausdruck erblicken. Gerade, als der Mann uns die Hand reichen wollte, knirschte etwas im Sand - der Felsbrocken rollte den Berg wieder hinunter. Dem Mann war ein deutlicher Existenzhass anzusehen. "Ich MUSS den Stein holen, und das bis zum Abend." teilte er uns mit und begann den Abstieg. "Ich hasse diese Hölle." meinte Tod, jetzt war keine Spur mehr von Freude an der Landschaft an ihm, und er machte die nächste Tür auf.
"Ist das dahinten nicht die christliche Hölle?" fragte ich Tod, als ich durch ein Fenster unseres Gangs eine Reihe mit roter Flüssigkeit gefüllte Bassins erblickte. Gerade kamen über eine Rutsche neue Kunden ins Becken. "Richtig. Doch die brauchen Sie doch nicht zu sehen, oder?" erkundigte er sich. "Nein, ich denke, darüber habe ich genug gehört." So öffnete er eine neue Tür. "Ah, Indien." seufzte er, als ein Schwall würzige, warme Luft zu uns hinein wehte. Ich trat durch die Tür.
Auf der Straße war Trubel und Treiben. Die Farben verwaschener Stoffe und gelblicher Häuserwände lagen mir in den Augen. In der Luft ein Aroma von Kräutern, etwas Bitteres. "Wir sind in Delhi. Dort drüben in dem Wagen" - ein Rettungswagen fuhr mit Blaulicht und Sirenen an uns vorbei, die Menschen sprangen beiseite - "ist gerade ein Mann gestorben. Und da er ein liberal denkender Mensch gewesen ist, und sich weder an die Beschränkungen seiner Kaste gehalten hat, noch im Ganges ein letztes Bad abgehalten hat, wird er im nächsten Leben nur ein Bettler sein." Er schaute mich an. "Das ist auch eine Hölle, und sie ist der von Sisyphos gar nicht so unähnlich. Ein Mensch, der nicht den religiösen Richtlinien folgt, bleibt... zum Leben verurteilt und erreicht nie das Nirvana!" Es wurde Zeit, zu widersprechen, merkte ich, diese Rede fand ich nicht akzeptabel. "Ich finde das Leben schön." Doch es war ein Ausdruck in seinen Augen, dem ich nicht gewachsen war. "Denk an Sisyphos. Vielleicht hätten wir auch Prometheus besuchen sollen." Er blickte nun freundlich. "Zumindest finde ich, nun haben wir genug der Hölle; lassen Sie uns nun einmal die unendliche Seligkeit besuchen."
"Ich denke, dass reicht nun" meldete ich Tod, als wir Valhalla hinter uns ließen. "Und, sind Sie jetzt zufrieden? Wohin soll ich Sie nun führen?" fragte der nette Kerl, während ich zuschaute, wie aus der Sonne Engel auf die Erde flogen und die Menschen einfingen. "Ich bin so überrascht, dass es alles wahr ist" gestand ich ein und fügte hinzu, "aber das war noch nicht alles, was ich mir vorgestellt habe." "Sie wollen das ganze Programm, Sie sollen es haben." gab Tod in geschäftsmäßigen Ton, aber mit unglücklicher Miene, von sich.
Die Tür endete im Nichts. Keine Erde, keine Sterne, kein Gott. Nichts außer Tod, mir, ... und einer Frau! Sie saß dort und weinte. Die Tränen stürzten ins Nichts; wie paradox das mir erschien! Ich schaute sie mir an. Sie war sehr hübsch; mit modisch gebundenem blonden Haar, ihre Kleidung ausgefallen, aber angenehm. Ein helles beige als Farbton vor dem schwarz. Nette Gesichtszüge: mit schmalen Brauen und einer winzigen Nase. Sie hatte ein Handy in der Hand, aber es schien kaputt zu sein.
Tod murrte. "Sie wollte auch das volle Programm. Ungnädig sich selbst gegenüber." Da bemerkte die junge Dame uns. Immer widersprüchlicher wurde mir alles. "Es ist nichts" begann sie, ich wusste aber nicht, ob sie ihren Zustand oder die Umgebung meinte. Bevor ich etwas sagen konnte, war Tod schon wieder dabei. "Sind Sie denn nichts? Ist er denn nichts? Das alles ist Gnade!" Einen Moment lang stellte ich Mutmaßungen an, wie Tod zu seinem Job gekommen war; und was er vorher war. Aber was er sagte, war nicht abzustreiten.
Ich reichte ihr die Hand. "Ich kann nicht sehen. Aber ich habe Humor, und so ist es erträglich. Nun lassen sie uns sterben." Tod wirkte zufrieden, und sie und ich gingen gemeinsam auf die Erde zurück.

 

Hallo Silent One,

zuerst dachte ich, die Geschichte sei eine der vielen Stories, in denen der Protagonist sein eigenes Sterben beobachtet und sich mit dem Tod auseinander setzt. Die Wendung mit dem „Jüngsten Gericht“ und dem daraus folgendem Lebensverlust von einem Tag und die Tour durch die verschiedenen Höllen fand ich interessant.
Schade, daß Du nicht auch die verschiedenen Paradiese beschrieben hast.
Übrigens... auch im Christentum gibt es verschiedene Ansichten über das `nach dem Tod ´ , es muß nicht immer die Hölle sein ...

Den Anfang würde ich ändern: Es dämmerte (wurde dunkel) außerdem -
Aufforderung einzutreten
Inhalt des Lebens
vorher dahin und dann entscheiden ???

Tschüß... Woltochinon

 

Hallo Woltochinon,

danke für Deinen Kommentar. Dazu ein paar Bemerkungen: zuerst, es wird dunkel, daher ist "dämmern" korrekt. Vogellieder usw. bezieht sich auf den gesamten Tag und nicht auf einen Morgen.
Ansonsten wollte ich kurz erklären, warum ich die "Paradiese" nicht beschrieben habe. Es wirkt wie eine Lücke, das ist richtig - aber ich finde, dass der Inhalt der Paradiese nicht weiter für den Grundgedanken der Geschichte wichtig ist. Ich hatte das Ziel, den Pluralismusgedanken (= alle Religionen verweisen auf den selben Gott) in einer Geschichte zu formulieren und ihn abschliessend gegen einen Atheismus zu stellen, mit Anbetracht auf "die Gnade wider sich selbst".

Viele Grüße

The Silent One

 

Hallo Silent One,

ich habe nichts gegen das „Dämmern“ sondern das „Es w a r a m .“ Was war am dämmern? „Es“ , als der Tag, ist ungünstig, wenn man „war am“ schreibt.
Die fehlenden Paradiese empfinde ich auch nicht als „Lücke“, es hätte mich nur zusätzlich interessiert, was Du dazu schreibst.

Tschüß... Woltochinon

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom