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Die Tochter der Schlange
Er mochte Wälder nicht besonders. Von dem modrigen Geruch der Erde bekam er Kopfschmerzen und er war sich nie sicher, was für Viecher hinter dem nächsten Baumstamm lauerten. Der Herbstwind wirbelte Laub auf und die Bäume knarzten leise. Die goldgelben Farben konnten seine Stimmung nicht heben.
Ich weiß nicht, was ich tun soll, dachte er, während er sich gegen den Kofferraum seines 68er Ford Mustangs lehnte.
Er zündete sich eine Zigarette an und lauschte den Geräuschen in der Umgebung. Vögel flatterten durch Baumkronen, ein Ast knackte und dann war da noch das Scharren von Metall auf kalter Erde.
„Wie lange wird's noch dauern?“, fragte er.
„Halt die Klappe, Dave. Könntest mir ja helfen“, tönte es aus der Grube.
„Könnte ich.“
„Und warum tust du's nich'?“
„Du bist doch für den Schlamassel verantwortlich, Henry.“
Ein verdrecktes Gesicht lugte über den Rand.
„Willst du mich verarschen? Mach hier keinen auf Heiligen.“
„Hab' nie gesagt ich wär' einer, aber im Gegensatz zu dir, konnte ich mich ein bisschen zusammenreißen. Sei froh, dass ich gefahren bin. Das war schon Risiko genug.“
Ein missmutiger Blick, dann war der Kopf wieder verschwunden und das Scharren begann erneut. Dave blies weiter Rauch in den hellgrauen Himmel und beobachtete, wie der Wind die freigeschaufelte Erde verwehte. Wenige Augenblicke später stieg Henry aus der Versenkung und fuhr sich mit dem Unterarm über die Stirn.
„Überall hab ich diese scheiß Erde. Hätte ich doch 'ne andere Jacke angezogen …“, sagte er.
„Reg dich nicht auf, hilf mir lieber.“
„Mach ich denn je was anderes?“
Dave ließ seine halb aufgerauchte Zigarette fallen, kickte sie in das Loch und wandte sich seinem Wagen zu.
Mit einem kräftigen Ruck öffnete er den Kofferraum. Henry blickte bewundernd auf den Inhalt.
„Ich frage mich immer wieder, wie die in deinen mickrigen Kofferraum passen“, sagte er.
„Mexikaner eben, die sind ja nich' besonders groß. Du die Füße, ich den Kopf?“
„Von mir aus.“
Gemeinsam hievten sie die in einen Müllsack eingewickelte Leiche aus dem Kofferraum. In gebückter Haltung und mit kleinen Schritten transportierten sie ihn zu seiner letzten Ruhestätte.
„Adiós, Arschloch“, sagte Henry, als die Leiche mit einem dumpfen Geräusch auf die Erde prallte.
Die Arme verschränkt, blickten sie auf die Überreste des Mexikaners hinab.
Eine Trauergemeinde bei einem letzten Lebewohl. Fehlen nur der Priester und die Emotionen.
„Hast du mal 'ne Kippe?“, fragte Henry.
„Bedien' dich.“
Dave streckte ihm die Zigarettenschachtel entgegen.
Ein Feuerzeug klickte, Inhalation, langes Ausatmen.
„Scheiß Cholos, keine Ahnung, was in deren Köpfen vorgeht. Versuchen, unseren Boss aus dem Geschäft zu drängen, mit ihren billigen Nutten und ihrem Glücksspiel. Und dann spazieren die auch noch am helllichten Tag durch sein Territorium. Der Typ hätte sich doch denken können, dass wir ihn erwischen“, sagte Henry.
„Wir hätten ja rausfinden können, was er da zu suchen hatte, aber du musstest ja wieder zuschlagen wie ein Wahnsinniger. Ein schönes Verhör war das.“
„Die halten nix aus! Und was beschwerst du dich überhaupt? Wir hätten ihn doch so oder so getötet, also was soll's. Der nächste Eseltreiber kommt bestimmt, den kannst du ja allein befragen.“
Dave fragte sich, ob Henry tatsächlich wütend wurde, oder ob er nur so tat.
Stress mit dem Kollegen, das fehlte mir diese Woche noch.
„Jetzt ist's nicht mehr zu ändern, lass ihn uns begraben“, sagte Dave schließlich.
„Du meinst wohl, ich soll ihn begraben.“
„Ne, ich mach das schon. Brauch' jetzt ein bisschen Ablenkung.“
„Stimmt was nich'?“
Dave gab keine Antwort. Er griff sich die Schaufel und machte sich ans Werk. Schippe um Schippe landete die Erde wieder dort, wo sie hergekommen war und jedes Mal, wenn die Erde auf den Müllsack traf, erinnerte ihn das Geräusch an das Prasseln von Regen.
Es erinnerte ihn an die erste Begegnung mit ihr.
Es war März gewesen und er hatte sich einen Film im Kino angesehen. Danach war er in seinen Lieblingsimbiss gegangen, ein billiger Laden nahe des Kinos, aber die Burger schmeckten überraschend gut. Er hatte gerade bestellt - vor den beschlagenen Fensterscheiben hatte es angefangen, wie aus Kübeln zu gießen - als sie den Laden betrat. Ihre Haare waren rabenschwarz und die Augen bernsteinfarben. Sie war wunderschön. Er war nicht gerade zurückhaltend, was Frauen anging, doch sie hatte etwas an sich, das ihn zunächst abgeschreckt hatte, etwas Erhabenes. Es war wie eine Aura der Weisheit. Uralt, unantastbar und mystisch. Er hatte sie bloß in Ehrfurcht ansehen wollen, wie ein antikes Gemälde in einem Museum. Er war ein Krimineller, welches Recht hatte er, diese Frau anzusprechen? Doch er musste es tun. Er glaubte zwar nicht an Schicksal und Vorhersehung oder derlei Quatsch, doch er hatte das unerklärliche Gefühl, dass sich sein Leben verändern würde, wenn er sie anspräche.
„Echt beschissenes Wetter, oder?“, hatte er das Gespräch eröffnet.
Ein Jugendlicher, der Michelangelos David mit Graffiti besprüht, so komme ich mir vor.
Als er nähergetreten war, hatte er erkannt, dass das, was er für Solariumbräune gehalten hatte - immerhin war der Winter gerade vorbei gewesen - ihre natürliche Hautfarbe war.
Sie sieht aus wie eine zweite Salma Hayek, nur jünger.
Sie hatte ihm kurz in die Augen geblickt und genickt.
„Ich bin Dave.“
Er hatte ihr die Hand entgegengestreckt, doch sie hatte sie nicht genommen.
„Nintinu.“
„Was bitte?“
„Das ist mein Name.“
Ihre Stimme war tiefer und kräftiger, als er es ihrem zierlichen Körper zugetraut hätte.
„Cooler Name, den habe ich ja noch nie gehört. Wo kommst Du her?“
Einfühlsam wie ein Vorschlaghammer.
Doch es schien sie nicht zu stören.
„Meine Vorfahren kommen aus einer Stadt am Persischen Golf.“
Keine Mexikanerin, vielleicht besser so.
Es war nur eine kurze Unterhaltung gewesen. Sie hatte gesagt, dass sie zusammen mit ihrer Mutter in einem Vorort wohne und nur selten in die Chicagoer Innenstadt käme. Sie war in der Bibliothek gewesen und habe sich ein Buch ausleihen wollen, welches hatte Dave nicht gefragt. Dann habe es angefangen zu regnen und sie wolle nur kurz Unterschlupf suchen. Obwohl sie nur wenig gesprochen hatten, fragte Dave sie, ob er sie bei diesem Mistwetter nach Hause fahren könnte. Er wollte sie nicht einfach gehen lassen. Sie hatte ihm tief in die Augen geblickt, als ob sie seine Absichten hätte lesen wollen. Bis heute konnte Dave nicht sagen, was sie in ihm gesehen hatte, oder ob sie überhaupt etwas in ihm gesehen hatte. Sie war ohne Zweifel von einem höheren Niveau, ganz anders als die Frauen, mit denen Dave üblicherweise zu tun hatte. Ihre Kleidung, ihr Gesicht, ihre Ausstrahlung, eine ganz andere Liga. Weiser, gebildeter, reifer. Glichen frühere Frauenbekanntschaften einer Paris Hilton, dann war sie Kleopatra.
Und ich will Mark Anton sein.
Er fühlte sich wie ein Schuljunge unter ihrem Blick, der so viel Ruhe und Lebenserfahrung ausstrahlte, obgleich sie nicht älter als 30 hätte sein können.
Aber schließlich hatte sie ja gesagt. Nur das zählte.
In den folgenden Wochen waren sie sich nähergekommen. Er hatte ihr Chicago gezeigt, den Willis Tower, Lake Michigan, das Nachtleben. Als sie gefragt hatte, womit er seinen Lebensunterhalt verdiene, hatte er gesagt, er arbeite von Zuhause aus, als Journalist für den Chicago Tribune. Ob sie ihm damals geglaubt hatte? Er vermochte es nicht zu sagen.
Ich konnte ihr unmöglich die Wahrheit sagen.
Sie war stets schweigsam und gab nicht viel von ihrem Leben preis. Überhaupt redete sie nur, wenn er etwas gefragt hatte. Es kam ihm so vor, als sei seine Gegenwart ungewollt und er nur ein eitler Gockel, der um ihre Gunst buhlte. Wenn er mit ihr redete, blickte sie oftmals in den Himmel, vor allem bei Nacht, und beobachte die Sterne, so dass Dave das Gefühl hatte, er redete mit einer Statue oder mit sich selbst. In solchen Momenten fragte er sich, warum sie so zurückhaltend war. Hatte sie eine Krankheit, eine üble Kindheit oder familiäre Probleme? Wenn er Infos aus ihr rauskitzeln wollte, sah sie ihn lange mit ihrem durchdringenden Blick an und lächelte bloß.
Wie kann eine Frau nur so verschlossen und anziehend zugleich sein? Wahrscheinlich ist es gerade dieses Mysteriöse, Andersartige und Exotische, das mich so verrückt macht.
Alles was er wusste war, dass sie eine Mutter hatte, die ziemlich streng sei, vor allem aber sehr religiös.
Vermutlich eine Fanatikerin, wie die durchgeknallte Mutter in Carrie.
Als er gefragt hatte, ob sie Christen, Moslems oder sonstwas seien, hatte sie wieder nur gelächelt.
Nur einmal hatte er Bekanntschaft mit ihrer Mutter gemacht.
Sie waren seit zwei Monaten regelmäßig zusammen ausgegangen und er fürchtete, sie an einen anderen dahergelaufenen Typen zu verlieren. Er fürchtete, dass sie ihn lediglich als guten Freund wahrnehmen würde, wenn er nicht langsam einen ersten Vorstoß in intimeres Terrain wagen würde. Sie standen vor ihrem Haus, es war Nacht, und dann hatte er sie einfach geküsst. Kurz und schmerzlos, wenig romantisch.
„Es tut mir leid, ich wollte nicht…“, hatte Dave gesagt.
Als Reaktion hatte sie bloß ihren Arm auf seine Schulter gelegt.
War da Mitleid in ihrem Blick? Oder war es Wehmut?
Und dann kam sie. Eine ausgemergelte alte Hexe. Die Haare grau und dünn, die Augen giftgrün und verengt. Da war etwas in ihrem Blick, etwas Bedrohliches, etwas Gefährliches.
„Nintinugga, lasse ab von dem Weltlichen, der der Blasphemie und Ignoranz so zugetan. Wie oft habe ich dir das schon angetragen? Dein Mitleid für deren vergängliches Leben wird noch dein Ende sein.“
Ihre Stimme war ein Zischen, als hätte sie ihre Zähne zusammen gepresst und die Wörter ausgeatmet.
Dann hatte sie etwas in einer ihm unverständlichen Sprache gebrabbelt und ihn angestarrt.
Die Augen eines Reptils, jahrtausendealt und tödlich.
Er hatte sich unwohl und nackt gefühlt. Es war, als würde sie mit ihren stechenden Augen in seine Seele blicken.
„Aus den Eingeweiden der Unterwelt entstiegene Sterbliche stehen vor mir und entweihen meine Tochter mit ihren Lippen. Ja, ich sehe dich. Ich sehe, was du bist. Die Sieben der Anunna werden schon bald über dich richten. Der heilige Blutmond wird dein Dahinscheiden bezeugen.“
Dann hatte sie ihre Tochter gepackt und fremdartige Worte in die Nacht geschrien.
Entweder die nimmt Drogen, oder sie ist total verrückt!
Er hatte Nintinu lange Zeit nicht mehr gesehen, bis sie vorgestern vor seiner Wohnungstür gestanden hatte.
Warum musste es so weit kommen?
Das Grab war gefüllt. Dave klopfte mit der Schaufel die Erde fest, Henry beobachtete ihn dabei.
„Das war's, wir sind fertig“, flüsterte Dave.
„Haste was gesagt?“
Dave ging in Richtung Wagen und feuerte die Schaufel in den Kofferraum. Dann schloss er ihn, lehnte sich dagegen und zündete sich erneut eine Zigarette an.
Ich rauche schon wieder zu viel. Tu ich immer, wenn es mir schlecht geht.
Henry, der sich ebenfalls gegen den Kofferraum lehnte, runzelte die Stirn.
„Was stimmt nich' mit dir?“
Wozu schweigen? Ich muss mit jemandem darüber reden, eine Lösung finden.
„Erinnerst du dich an Nintinu?“
„Die Kleine, mit der du was hattest? Die, die dich nicht rangelassen hat?“
Henry grinste höhnisch.
„Sie weiß es. Sie weiß, was ich beruflich mache.“
Henrys Grinsen verwandelte sich in Schock.
„Wie zum Henker konnte das passieren?“, fragte er ungläubig.
„Ich weiß es nicht.“
Es war ihre Mutter. Sie hat es gesehen. Sie hat mich kurz angesehen und es gewusst. Gibt es Menschen, die Gedanken lesen können? Oder steckt etwas Abscheulicheres dahinter?
Diese Augen … so unmenschlich.
„Du willst mir also sagen, dass sie alles weiß?“
„Sie weiß, dass ich ein Auftragskiller bin und für wen ich arbeite. Das reicht ja wohl. Sie hat gesagt, sie gibt mir eine Woche, um mich zu stellen. Ansonsten geht sie zur Polizei.“
Schweigen. Dave rauchte und Henry starrte auf seine Füße. Im Gebüsch raschelte etwas, vermutlich ein Fuchs.
„Was nun?“, fragte Henry.
„Du weißt, ich kann nicht in den Knast. Die Bullen werden mich befragen und Deals vorschlagen. Ich geh nicht drauf ein, aber du weißt genauso gut wie ich, dass der Boss keine losen Enden duldet. Es heißt entweder sie oder ich. Einer von uns muss …“
Er wagte es nicht, den Satz zu vollenden. Er wollte nicht wahrhaben, dass er sich an diesem Scheideweg befand.
Sie oder ich. Und ich will nicht sterben.
„Sie muss sterben.“
Dave sprach es aus, die brutale Schlussfolgerung. Er hatte in einem Traum gelebt, die Beziehung hätte nie funktioniert. War es überhaupt eine Beziehung? Wollte er wirklich sein Leben für eine Frau geben, die allem Anschein nach nichts von ihm wollte?
Sie muss sterben. Ein so einzigartiges menschliches Wesen muss meinetwegen sterben. Hätte ich sie doch nie getroffen, hätte ich mich doch nicht verliebt …
Aber er hatte keine Wahl.
Sie oder ich …
„Ich kann sie nicht umbringen. Ich … ich kann einfach nicht.“
„Ich kann das erledigen“, sagte Henry sofort. „Noch heute Nacht. Ich fahr mit Brian zu ihrer Wohnung, schlepp sie hier in den Wald und das war’s dann. Problem gelöst.“
Dave dachte darüber nach, oder vielmehr tat so, als würde er darüber nachdenken. Er hatte seine Entscheidung schon längst gefällt.
Ich bin ein erbärmlicher Egoist, aber ich habe Angst … Angst vor dem Knast und vor dem Tod.
„Versprich mir, dass du es kurz und schmerzlos machst.“
„Aber sicher doch. Adresse?“
„1078 Willowdrive in Hartington. Wo wirst du es tun?“
Henry deutete auf einen großen Baum nahe der Ruhestätte des Mexikaners.
Wortlos schnippte Dave seine Zigarette weg und stieg in den Wagen.
23:48
Die grüne Digitalanzeige seines Weckers war die einzige Lichtquelle in seinem Schlafzimmer. Dave wälzte sich in seinem Bett hin und her. Er konnte kein Auge zu tun. Er musste an Nintinu denken und daran, was in diesem Augenblick, in einem Wald außerhalb des Stadtgebiets, mit ihr geschehen würde.
Lebte sie noch? Hatte Henry sein Versprechen gehalten? Habe ich das Richtige getan?
Natürlich wusste er, dass er falsch gehandelt hatte. Er wollte es lediglich nicht wahrhaben.
Ich bin ein Mörder, ich fliehe vor meiner gerechten Strafe und lasse eine Frau hinrichten, die mir sogar die Chance gelassen hat, mich zu stellen.
Er stand auf, schlenderte in das Badezimmer und betrachtete sich im Spiegel. Die blonden Haare, die blauen Augen, die blasse Haut. Das genaue Gegenteil von ihr.
Sieht so ein herzloses Monster aus?
Er dachte an ihr geheimnisvolles Lächeln und ihre Augen, die sie so häufig über den Nachthimmel schweifen ließ. Der Blick, tief und unergründlich wie das Weltall.
Wie aus einem anderen Zeitalter.
Und stand sie nicht für all das, was ihm fehlte? Frieden, Liebe und Weisheit. Dinge, die es in seinem Geschäft nicht gab. Leute verprügeln, töten und begraben. War das sein Lebensinhalt? Zum zweiten Mal an diesem Tag musste er eine Entscheidung treffen. Er betete, dass es die richtige war.
Er rannte in das Wohnzimmer und griff nach seinem Handy.
Hoffentlich hat Henry es noch nicht getan.
Es läutete. Sekunden verstrichen.
„Geh ran, geh ran, geh ran.“
Ein Piepen. Dann noch eines.
Eine Stimme meldete sich.
Gerade noch rechtzeitig?
Dave atmete auf.
Der gewünschte Teilnehmer kann zurzeit nicht erreicht werden.
„Scheiße!“
Er nahm seinen Revolver aus einer Schublade und verließ hastig die Wohnung.
Henry öffnete den Kofferraum von Brians Golf. Da lag sie, Arme und Beine gefesselt, Panzerband vor dem Mund. Das Band schimmerte im hellen Mondlicht. Dunkle Augen funkelten ihn zornig an, sie schwitzte. Ihr Haare und ihr weißer Pyjama klebten auf ihrer Haut.
Er griff ein Büschel ihres Haars und zerrte sie unsanft aus dem Kofferraum. Als sie auf den Waldboden knallte, entfuhr ihr ein gedämpftes Fluchen.
Es war überraschend einfach gewesen. Brian hatte die Tür ihrer Wohnung mit einem einfachen Handgriff aufgebrochen. Henry hatte das Haus durchsucht, während Brian Wache schob. Die alte Hexe, von der Dave gesprochen hatte, schien nicht anwesend zu sein. Wenige Minuten später hatte er die Kleine in einem der Schlafzimmer vorgefunden. Selig schlummernd, nichts ahnend, wunderschön.
Eigentlich eine Schande.
Sie hatte nicht einmal geschrien, als er sie geweckt hatte. Nicht dass sie das gekonnt hätte - er hatte ihren Mund sofort zugeklebt - aber sie versuchte es nicht einmal. Sie hatte ihn verärgert angeblickt, als hätte er lediglich ihren Lieblingskaffeebecher zerbrochen und wäre nicht gerade drauf und dran, sie zu entführen.
Nun war er zum zweiten Mal an diesem Tag in dem Wald.
Unsere Mülldeponie.
Sie lag vor ihm, den Mond im Rücken. Die Bäume waren Silhouetten, Zuschauer bei einem morbiden Spektakel. Stille. Nur das Tröpfeln von Flüssigkeit auf Laub war zu hören. Brian erleichterte sich im Unterholz.
„Wirst du schreien?“, fragte Henry.
Sie zeigte keine Reaktion und starrte ihn weiterhin unbeeindruckt an.
Sie wird nicht schreien.
Er riss ihr das Panzerband vom Gesicht, sie keuchte.
„Weißt du, warum wir hier sind?“
Er sprach laut und deutlich, damit sie verstand, dennoch reagierte sie nicht.
Vielleicht ist sie ja geistig zurückgeblieben oder versteht meine Sprache einfach nicht.
Er rieb sich die Nase, eine Angewohnheit kurz vor einer Hinrichtung.
Brian trat näher.
„Wie spät isses?“, fragte er.
„Was weiß ich, mein Handy is' leer“, antwortete Henry.
„Machen wir's?“
„Hol' endlich deine Schaufel.“
„Is' ja gut“, sagte Brian und ging zum Wagen.
Als er zurückkam, deutet Henry mit dem Kopf zu einem Baum inmitten einer Lichtung.
„Wie wäre es unter dieser Eiche dort? Magst du Eichen, Kleine?“
Sie saß auf dem Boden wie ein trotziges Kind, die Lippen zusammengepresst, die Nasenflügel bebten.
„Scheiß drauf. Wir verscharren sie da einfach.“
„Da is‘ aber 'ne Birke“, sagte Brian.
„Bist du ein scheiß Botaniker, oder was? Eiche, Birke oder verschissener Weihnachtsbaum, fang' an zu graben!“
Brian warf ihm einen verächtlichen Blick zu und trottete davon.
„Endlich allein, was?“, sagte Henry.
Er ging in die Hocke, ihre Gesichter waren auf Augenhöhe.
„Weißt du, was normale Menschen sagen würden, wenn sie sehen könnten, was ich tue? Seht! Ein eiskalter Killer, ein Monster, eine Abscheulichkeit. Und es ist wahr. Ich bin ein kaltblütiges Arschloch. Es ist alles, was ich kenne. Ich hab nie was anderes gelernt. Ich war zwar in der Schule und alles, aber ich war nie gut in etwas. Ich hatte das Gefühl, nutzlos zu sein. Dann habe ich zum ersten Mal getötet. Irgendein schwarzer Drogendealer. Hat meine Kumpels abgezockt. Persönlich hatte ich kein Problem mit ihm, aber dadurch, dass ich ihn erledigt hatte, löste ich die Probleme vieler Menschen. Das fühlte sich gut an. Ich weiß, was du denkst.“
Er hob den Zeigefinger und wackelte damit.
Die Ich-alter-Opa,-du-ungezogenes-Gör-Geste.
„Billige Ausrede, schwache Rechtfertigung. Aber es ist die Wahrheit. Doch dann denke ich: Was wäre, wenn es tatsächlich so etwas wie Karma oder die Hölle gäbe? Ich hab so viele Leben genommen, allein in diesem Wald liegen mehr Leichen begraben, als auf dem Friedhof einer Kleinstadt. Meine Seele ist verkümmert, ich bin ein sicherer Anwärter auf ewiges Fegefeuer.“
Er stand wieder auf und blickte mitleidig auf die Entführte. Die Knarre drückte in seinem Hosenbund und fühlte sich kalt an.
„Wie war noch gleich dein Name?“
Sie starrte auf den silbernen Lauf der Waffe, die im Mondlicht funkelte.
„Komm schon, mach's Maul auf!“
Sie schluckte hörbar und sagte: „Nintinugga.“
„Hat das 'ne Bedeutung?“
„In der Sprache meiner Vorfahren bedeutet das: Herrin, die die Toten belebt.“
„Also für so einen Namen hätt' ich meine Mutter verklagt.“
Er lachte schäbig, sie starrte wieder vor sich hin.
Keinen Humor die Gute.
„Also, Ninitwasauchimmer. Du fragst dich sicher, warum ich dir das erzähle. Ich mache diesen Job seit 20 Jahren, mein Karma ist im Arsch. Ich will versuchen, das wenigstens etwas auszugleichen, bevor es zu spät ist.“
Sie hob erwartungsvoll den Kopf.
„Mach dir keine falschen Hoffnungen, Kleine. Du wirst sterben, aber du wirst mein letztes Opfer sein.“
Er sah sich um. Brian war außer Hörweite.
Gut, denn das sollte er besser nicht mitkriegen.
„Ich habe einen Deal mit den Mexikanern gemacht. Ich verraten ihnen alles über meinen Boss und seine Organisation. Namen, Gesichter, Vorgehensweisen, Strukturen. Kurz: Alles, was ich weiß. Im Gegenzug platzieren sie eine Leiche in meiner Wohnung und fackeln alles ab. Keiner wird eindeutig sagen können, dass ich die Leiche wäre, aber ich werde verschwinden und jeder wird annehmen, dass ich Geschichte sei. Die Cholos schmuggeln mich über die Grenze und ich bin raus aus dem Geschäft. Cocktails und Meer in Acapulco. Nur noch ein Gefallen für einen guten Freund, dann heißt es: Hola Ruhestand. Ich hab genug von Mord und Totschlag für ein Menschenleben.“
Er richtete die Pistole auf ihre Stirn. Sie begann zu zittern.
Endlich eine Reaktion, das war ja schon fast unheimlich.
„Willst du knien, oder lieber stehen?“
Sie kniete sich hin.
„In den Hinterkopf, oder willst du es kommen sehen?“
„Ich will es sehen.“
Mutiges Biest, das muss ich ihr lassen.
„Bringen wir es hinter uns.“
Sein Finger wickelte sich um den Abzug. Das Metall war eiskalt. Er sah ihr in die Augen.
Fenster in uralte Gefilde.
Was habe ich da gerade gedacht?
Drück ab.
Tu es endlich.
Diese Frau … ist so anders, wie aus einem anderen Zeitalter.
Die Antike.
Sumer.
… Was?
Hab ich ihr Leben in der Hand, oder sie meines?
Es ist nicht das erste Mal, dass du eine Frau erschießt, sentimentaler Idiot!
Doch die Pistole in seiner Hand wurde immer schwerer, jetzt begann er zu zittern. Ein bisher unbekanntes Gefühl durchströmte ihn. Angst. Ihm brach der Schweiß aus, seine Kehle wurde trocken, die Gerüche des Waldes wurden intensiver. Erde, Tau, Schweiß, Staub. Er senkte die Pistole.
„Gib mir noch fünf Minuten“, sagte er matt.
Dave raste über den Highway, im Rückspiegel die Lichter Chicagos. Es war mitten in der Woche und um diese Uhrzeit war die Straße frei. Er trat das Gaspedal bis auf den Boden.
Keine Bullen, bloß keine Bullen.
Der Tank war fast leer, die Anzeige kam dem roten E bedrohlich nahe. Er verfluchte seinen Wagen.
Verdammter Spritschlucker.
Um das Tanken würde er sich später Gedanken machen müssen. Zunächst galt es, den Wald zu erreichen, Nintinu zu finden und eine Katastrophe zu verhindern.
Warum habe ich das getan? Warum habe ich Henry darum gebeten?
Für Reue war keine Zeit.
Das ist die Abfahrt, nicht mehr weit.
Der holprige Weg kündigte das baldige Erreichen seines Zieles an.
Er erreichte den Wald eine halbe Stunde nachdem er seine Wohnung verlassen hatte. Im Handschuhfach befand sich sein Revolver.
Nur zur Sicherheit, ich will niemanden verletzen.
Jetzt nur noch die Lichtung finden.
Er war so mit seinen Gedanken und der Suche nach der Lichtung beschäftigt, dass er nicht bemerkte, wie der Mond eine rote Färbung annahm.
„Du kannst mich nicht töten.“
Henry erschrak, als er ihre Stimme vernahm. Tief und unnatürlich.
Hatten sich ihre Augen verändert?
Waren sie vorher noch bernsteinfarben, schienen sie jetzt giftgrün. Sie stand auf.
„Knie dich wieder hin!“
Sie ging auf ihn zu.
„Schlampe! Hinknien!“
Brian hörte sein Brüllen und kam angerannt.
„Gibt's ein Problem, Henry?“
Aber er hörte ihn nicht. Es gab nur noch sie und ihn. Die Welt war ein Tunnel, der ihn zu ersticken drohte. Um heraus zu gelangen, musste er an ihr vorbei.
Jetzt oder nie, tu es!
Er schaffte es, erneut auf sie zu zielen. Den Finger zu krümmen, war anstrengender als Gewichte heben.
Das Metall gab nach, der Hahn schlug nieder und entlud seine tödliche Ladung im Gesicht der Frau. Blut und Hirnmasse schossen durch die Luft, ein Auge flog aus ihrem Schädel und landete im Dreck. Sie ging auf die Knie und verharre in dieser Position, wie ein Sünder bei der Beichte. Sie öffnete den Mund, als wolle sie etwas sagen, brachte aber nur ein Gurgeln hervor. Dann fiel sie endlich, mit dem Gesicht voran, zu Boden.
„Das war unheimlich“, sagte Brian und ging zu der Leiche.
Frag mich mal.
„Hilfst du mir tragen? Henry?“
Er fühlt sich nicht besser. Seine Glieder schienen noch immer träge zu sein, seine Gedanken vernebelt. Er sah das Auge auf dem Boden liegen, es starrte ihn an. Dann war er woanders.
Ein Stufentempel.
Zikkurat.
Eine Menschenmenge hatte sich versammelt. Die Sonne brannte vom Himmel. Männer wie Frauen trugen seltsame Gewänder in der Farbe des Wüstensandes. Ihre Haare schwarz, ihre Haut braun, ihre Blicke leer auf die Spitze der Zikkurat gerichtet. Ein Mann stand dort. Nackt, nur mit einem Lendenschurz bekleidet. Er hatte ein Dutzend Schlangen um den Hals gewickelt. Er sprach zu der Menge, die Sprache kehlig und fremdartig. Henry verstand sie dennoch.
„Brüder und Schwestern, wir haben uns versammelt, um Ereschkigal ein Opfer zu bringen. Die Gutäer wollen uns ausrotten, unsere Tempel schänden und unsere Götter verbannen. Das werden wir heute verhindern. Wir schenken der Herrin eine unsterbliche Tochter.“
Zustimmendes Gebrüll. Die Menge johlte, als eine junge Frau aus der Menge trat und die Stufen hinaufstieg.
Nintinugga.
„Bist du bereit, dein körperliches Gefäß zu geben, um der Schlangenherrin zu dienen?“, fragte der Hohepriester.
„Ich bin.“
Der Priester sprach wirre Worte und schnitt der Frau die Augen aus. Die Menge fiel auf die Knie. Ihr schreiender Körper wurde die Stufen hinuntergeworfen. Ihre Knochen brachen, mit jeder Stufe ein erneutes Knacken. Ihr Leichnam wurde durch die Menge gereicht, ihre Gliedmaßen zu grotesken Formen verdreht.
Der Priester hielt die bernsteinfarbenen Augen in die Luft und schluckte sie anschließend hinunter.
„Nun das Blutopfer. Möge Erschkigal, Herrin der Unterwelt und Mutter der Schlangen, es als würdig erachten.“
Mit diesen Worten rammte sich der Priester das Messer in die Brust. Die Menschen schrien auf und hoben ihre Arme gen Himmel. Gedämpfte Rufe ertönten.
"Für Ereschkigal!"
"Möge sie alle Zeitalter überdauern!"
"Bringen wir unser Opfer, geben wir unser Blut!"
Dann brach die Hölle los.
Kinder wurden in ihren Betten erdrosselt, Menschen ertränkten sich im Persischen Golf, schnitten sich die Kehlen durch oder stachen sich die Augen aus. Bis in die Nacht hinein, war die Luft von Schreien erfüllt. Der Mond leuchtete blutrot und eine gigantische Schlange stieg vom Himmel herab.
Als Henry aus diesem Albtraum erwachte, sah er Brian vor sich liegen. Die Frau war nicht zu sehen.
Das Auge ist auch weg.
Als er den Blick gen Himmel hob, sah er die Silhouette einer Schlange vor dem Mond.
Er leuchtet blutrot.
Ihr schwarzer Körper schlängelte sich durch die Luft. Geräuschlos, majestätisch, auf der Jagd.
Henrys Augen brannten, Tränen liefen seine Wangen hinab.
"Bitte ..."
Er schrie, die Welt wurde dunkel.
Dave erreichte die Lichtung und fand die Leichen von Brian und Henry vor. Beiden fehlten die Augen.
Was ist denn hier passiert? Was für ein Albtraum ist das?
Nintinugga stand neben einer Birke. Sie war unverletzt. Eine Schlange hatte sich um sie gewickelt. Sie hatte dieselben Augen wie Nintinuggas Mutter.
Eine Mutter beschützt ihr Kind.
„Du bist unwürdig!“, zischte Ereschkigal.
„Warum hast du das getan?“, fragte Nintinugga.
Er wusste nicht, was er sagen sollte. Sprachlos starrte er mit offenem Mund in das Antlitz der Schlange. Ihre Schuppen glitzerten.
„Keine Angst, Sterblicher. Wir werden nicht über dich richten, sie werden.“
Nintinugga deutete auf Henry und Brian. Mit unnatürlichen Zuckbewegungen erhoben sich ihre Leichen. Aus den Augenhöhlen sickerte Blut.
„Der, der du unfähig warst, selbstlos zu handeln und deine Sünden einzugestehen, mögest du dein Ende finden“, zischelte das Ungetüm.
Die Schlange stieg in die Luft, ihre Tochter auf dem Rückgrat. Sie entschwanden in den Nachthimmel, während die Leichen immer näher kamen.
Dave zückte den Revolver und schoss Henry den Unterkiefer weg. Unbeeindruckt marschierte dieser weiter. Blut rann zähflüssig zu Boden, wie Geifer aus dem Maul eines Kampfhundes. Er schoss wieder und wieder, er wusste nicht wie oft, doch sie waren nicht zu stoppen. Er rannte zum Wagen zurück, wollte fliehen. Er steckte den Schlüssel ins Zündschloss. Keine Reaktion.
Komm schon, Scheißteil!
Der Motor jaulte auf, ein Freudenschrei entfuhr Dave. Doch kaum hatte er fünf Meter zurückgelegt, erstarb der Motor wieder. Der Tank war leer.
„Fuck!“
Dann eben zu Fuß.
Er rannte über die Lichtung, die Leichen humpelten hinterher. Adrenalin pumpte durch seine Adern. Adrenalin, gemischt mit überwältigender Panik. Ein Blick über seine Schulter sagte ihm, dass er seine Kollegen bald abhängen würde.
Lahmarschige Zombies!
Euphorisch rannte er weiter, bis er ins Leere trat.
Er übersah das Loch, welches Brian gegraben hatte. Der Aufprall war hart und schmerzhaft. Er knallte mit dem Kopf auf einen Stein, die Welt verschwamm, er verlor das Bewusstsein. Als er kurze Zeit später erwachte, blickte er in verweste Gesichter. Mexikaner, Mafiosi, Menschen, die sich mit dem Boss angelegt hatten. Sie alle umringten die Grube und starrten auf ihn hinab.
Dies wird wohl mein Grab, meine letzte Ruhestätte.
Sein Atem war ruhig und regelmäßig, der Kampf war vorbei, das Monster in die Enge getrieben.
Das Spiel ist aus.
Er überprüfte seinen Revolver.
Nur noch eine Kugel.
Da erblickte er Henrys deformiertes Gesicht.
„Sorry, Kumpel. Schöne Scheiße habe ich uns da eingebrockt.“
Er war ein Mörder, würde es immer bleiben.
Er hob den Revolver. Heute Nacht würde er wieder morden.
Nur noch ein letztes Opfer.