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Die Teufelsfalle
Die Teufelsfalle
Er wurde nur Pero Vesla genannt, das bedeutet ‚Pero mit den Rudern’, und das kam so:
„Sein Vater war früh gestorben, deshalb musste er schon mit zwölf Jahren alleine hinaus aufs Meer zum Fischfang fahren.“ Seine Mutter war sehr stolz auf ihn, versorgte er sie und seine vier jüngeren Geschwister doch mit dem Nötigsten zum Leben. Pero war immer schon größer und kräftiger gewesen als andere Kinder in seinem Alter gewesen. Jetzt mit sechzehn Jahren überragte er sogar viele Erwachsene in ihrem Dorf und war ein sehr guter Fischer. Dschana war die Einzige, mit der er hin und wieder sprach. Die anderen Kinder des Ortes verspotteten ihn nur und spielten ihm Streiche.
In dem kleinen Fischerort an der Adria hatte es solange man denken konnte keinen Diebstahl gegeben. Die Türen der Häuser waren nicht verschlossen, viele hatten nicht einmal Schlösser. Auch ließen die Fischer ihre Ausrüstung in den Booten, wenn diese abends im Hafen festgemacht wurden.
Die Kinder des Ortes nutzten das für ihre Späße. So wurden Tische und Stühle in den Vorgärten von Nachbarn vertauscht oder sogar die Wäsche auf der Leine. Selbst als ein Fass mit eingelegten Fischen den Platz einer Regentonne einnahm, quittierten das die Erwachsenen mit einem Lächeln.
Auch Pero war sehr überrascht, als eines morgens die Ruder aus seinem Boot verschwunden waren. Dschana war mit ihrem Opa in der Nähe gewesen und hatte beobachtete, wie er dastand und in sein Boot starrte. Keine Ruder! Das bedeutete: Er konnte nicht zum Fischen hinaus fahren und das bedeutete, es würde kein Essen für seine Familie geben. Zunächst aufgeregt, dann verzweifelt, lief er am Kai auf und ab. Er war zu verwirrt, um irgendwo zu suchen. Auch kam er nicht auf die Idee, dass ihm ein böser Streich gespielt worden war. Schließlich brachte ihm ein anderer Fischer seine Ruder, die die Kinder hinter einer Hausecke versteckt hatten. Von diesem Tag an nahm Pero seine Ruder nach dem Fischen mit nach Hause und alle nannten ihn nur noch ‚Pero mit den Rudern’.
„Pero“, fragte Dschana, „kennst du die Eishöhle oben in den Bergen?“
Pero nickte. Heute hatte er sein Boot auf den Strand gezogen, um den Rumpf von Muscheln, Schnecken und Algen zu befreien.
„Mein Opa hat gesagt, dass die Leute früher, als es noch keine Kühlschränke gab, dort Eis geholt haben, um Fleisch und Fische kühl zu halten.“
Pero wandte sich von seiner Arbeit ab, sah Dschana an, nickte wieder bestätigend und winkte zwei Mal mit der Hand ab, was bedeutete: ‚Das ist schon lange her’.
Abrupt wandte er sein Gesicht wieder dem Bootsrumpf zu, und Dschana hörte hinter sich eine Stimme.
„He, Pero Vesla, du hast ja wieder keine Ruder!“
Der so Angesprochene fuhr erschrocken auf, atmete dann aber erleichtert aus, als er die Ruder nach einem Blick in das Boot dort entdeckte.
„Hör sofort damit auf! Lass ihn in Ruhe!“, schimpfte Dschana ihren Vetter Gino aus, der auf der Strandmauer stand und grinste.
Der winkte nur verächtlich ab und sagte: „Ich treffe mich jetzt mit Dodo und Mirko, wir gehen rauf zur Eishöhle.“
„Das wirst du schön bleiben lassen“, sagte Dschana mit ernstem Gesicht, „das ist viel zu gefährlich.“
„Mann, ich war schon so oft in den Bergen, da gibt es nichts Gefährliches“, antwortete Gino und fuhr fort, „ich bringe dir auch ein Stück Eis mit.“
Gino, Dodo und Mirko waren die besten Freunde und hatten zusammen schon eine Menge Blödsinn angestellt. Dass sie nun in die Eishöhle wollten, gefiel Dschana gar nicht. Ihr Opa hatte ihnen davon erzählt und auch die Jungen hatten gehört, dass es nur mit Seilen möglich war, in die Höhle hinab zu steigen.
„Warte“, sagte sie, „ich komme mit euch.“
„Nein, nein, bleib du mal hier, das ist nichts für Mädchen“, sagte Gino großspurig und wollte sich umdrehen.
„Dann gehe ich zu Opa und erzähle ihm was ihr vorhabt“, konterte Dschana.
In diesem Moment bogen Mirko und Dodo in die Promenadenstraße ein. Beide trugen Seile über ihren Schultern.
„Na gut“, willigte Gino zähneknirschend ein und ging auf seine Freunde zu.
Dschana war sehr oft in den Bergen gewesen. Ihre Familie besaß dort Land. Vom Dorf aus mussten sie zunächst durch den Olivenhain gehen, anschließend durch den Piniengürtel. Danach nahmen sie den steilen Pfad hinauf in die kahle Felswand. Keine halbe Stunde war vergangen, da hatten sie den Pass am Berg erreicht. Vor ihnen lag nun das Hochplateau mit seinen Hügeln und Senken, die übersäht waren mit weißen, teilweise haushohen Sandsteinfelsen. Dazwischen wuchsen Birken, niedrige Sträucher und Gräser. In der Ferne wurde das Plateau von noch höheren Bergen eingegrenzt. Hier oben wohnten weit und breit keine Menschen.
Gino hatte wie immer das Kommando übernommen und führte sie in Richtung Norden. Er deutete auf einen weit entfernten, besonders großen Felsen und erklärte, dort sei der Eingang zur Eishöhle. Dschana überlegte fieberhaft, wie sie die Jungen davon abhalten könne in die Höhle hinab zu steigen, doch ihr fiel nichts ein.
Nach einer weiteren halben Stunde erreichten sie ihr Ziel. Es war nicht nur ein einzelner riesiger Stein, es war eine ganze Gruppe, die aussah wie ein kleines Gebirge. Nach einigem Klettern und Suchen entdeckte Dodo den Höhleneingang zwischen den Felsen.
Während die drei Freunde das dunkle Loch in Augenschein nahmen, schaute Dschana sich um. Weiter im Norden über dem Gebirge waren tief schwarze Wolken aufgezogen und Blitze zuckten daraus hervor. Sie wusste zwar, dass das Gewitter nicht bis zur Küste vordringen würde, aber einen Versuch war es wert.
„Es wird ein Unwetter geben“, rief sie, „wir sollten zusehen, dass wir von hier verschwinden!“
Gino lachte nur.
„In der Höhle sind wir geschützt. Abgesehen davon hat Opa furchtbar übertrieben. Komm her und sieh selber. Wir brauchen die Seile nicht. Es ist gar nicht so steil.“
Gino hatte recht. Auch war es nicht so dunkel, wie Opa berichtet hatte. Schräg nach unten, wie in einer Röhre, ging es in den Berg hinein und unten im Dämmerlicht war als Letztes ein Rinnsal zu erkennen.
„Na los, kommt schon“, sagte Gino ungeduldig und ging voran.
Zögernd folgten ihm Dodo und Mirko. Dschana lief vor Aufregung einige Male vor dem Höhleneingang auf und ab. Schließlich entschloss sie sich, den Freunden zu folgen. Nur so konnte sie die Drei möglicherweise von noch größeren Dummheiten abhalten. Vorsichtig setzte sie eine Fuß in die Höhle, als sie unvermittelt von hinten ergriffen und herausgehoben wurde. Noch nie hatte sie einen solchen Schreck bekommen. Sie konnte einmal schreien.
Die Jungs hatten das Rinnsal erreichten und sahen, dass es ein kleiner Bach war, der aus einer breiten Spalte im Berg kam. Auf seiner gegenüberliegenden Seite öffnete sich eine Felsengrotte. Wie groß sie war, konnten sie nicht ausmachen, da sie sich in völliger Dunkelheit verlor. Gino sprang über das Wasser auf die andere Seite und schrie plötzlich vor Schmerzen laut auf.
„Pero!“, schimpfte Dschana vorwurfsvoll, „was soll das? Was machst du überhaupt hier?“
Pero hatte Dschana wieder auf den Boden gestellt. Er sah sie mit dem gleichen verzweifelten Gesichtsausdruck an wie damals, als seine Ruder verschwunden waren.
„Das ist nicht die Eishöhle, das ist die Teufelsfalle! Sieh, das Unwetter!“
Unter großer Anstrengung hatte er die Worte hervorgebracht und deutete mit der Hand in Richtung des Gewitters. Dann, mit hastigen Bewegungen, suchte er die Gegend um den Höhleneingang ab. Schließlich nahm er ein Seil auf, das die Jungs zurückgelassen hatten, und verschwand in der Höhle. Dschana starrte ihm hinterher.
Pero band ein Ende des Seils um eine Felsnase und das andere um seinen Körper. Er watete durch das Wasser des inzwischen stark angeschwollenen Baches und erreichte Gino. Der saß auf dem Boden und hielt sich seinen Knöchel. Pero streckte ihm seine Hand entgegen, und als der nicht reagierte, hob er ihn einfach auf.
Ein entferntes Grollen war zu hören. Schnell wuchs es zu einem starken Rauschen an, um dann zu einem ohrenbetäubenden Getöse zu werden.
„Raus, raus!“, schrie Pero, der, auf dem Weg zurück, in der Mitte des Baches nun schon bis zu den Hüften von Wasser umspült wurde. Dodo und Gino, die die Rettungsaktion beobachtet hatten, kletterten eilig dem Höhlenausgang entgegen. Gerade als Pero und Gino die rettende Seite erreichten, brach ein Höllenlärm los. Mit einem Knall, wie bei einer Explosion, stürzten Wassermassen durch den Felsspalt. Binnen Sekunden stieg der Wasserspiegel so weit an, dass er die Höhlendecke erreichte. Pero rutschte aus, strauchelte und konnte sich wieder fangen. Immer noch stieg das Wasser, und nur mit allerletzter Anstrengung erreichten sie den Ausgang.
Da Gino sich den Fuß verstaucht hatte, musste Pero ihn den ganzen Weg zurück ins Dorf tragen. Schnell hatte sich die Rettungsaktion herumgesprochen und auf dem Weg zu Ginos Haus wurden sie von vielen Dorfbewohnern begleitet. Seit diesem Ereignis hat sich vieles geändert. Pero, der aus Sorge um Dschana den Kindern gefolgt war, wurde nicht mehr gehänselt. Selbst die Erwachsenen begegneten ihm mit mehr Achtung. Gino hatte sogar vorgeschlagen Pero einen neuen Namen zu geben, ihn nun ‚Pero der Held’ zu nennen. Doch Pero hatte nur lächelnd den Kopf geschüttelt.
„Ne, ne“, hatte er gesagt, „ich bin Pero Vesla“, hatte seine Ruder über die Schulter gelegt und sie nach Hause getragen.