Die Terroristen von Łódź
Ein wenig vom Regen der letzten Tage gewellt, vom sommerlichen Lachen der Sonne verblasst und vor allem vom rauen, für die Jahreszeit ungewöhnlichen, Wind zerzaust hängt ein kunterbuntes Plakat an der Wand. Einfach drübergepappt über Dutzende andere Plakate, die an seinen Seiten rauszuquellen scheinen. Fetziges, fleckiges, farbiges Papier, zusammengehalten von einer Portion Leim. Oder nicht?
Ein Zug rauscht vorbei; kreischend die Räder auf den Metallspuren, ächzend die Bremsen und singend der Stromabnehmer auf dem Dach. Der Fahrtwind spielt erst harmlos mit dem Plakat, dann schlägt er mit voller Wucht zu, treibt sich in die kleinen Ritzen und plustert sie auf und zieht schließlich ruhig aber beständig am Augenschmaus. Papier reißt, ratscht, flattert… und bleibt doch hängen.
Eine Zweite Bahn donnert vorbei. Menschen schauen aus Zugfenstern, die Taschen fest im Arm, der Bahnhof nicht mehr fern. Ein Schild huscht vorbei: „Łódź - Fabryczna“. Der Zug wird langsamer. Ein Plakat kündigt die Eröffnung eines neuen Einkaufszentrums an. Die Menschen stehen geduldig, der Zug wird noch langsamer. Vier Menschen stehen ungeduldig. Der Zug hält. Das Plakat, vom Fahrtwind abgerissen, fällt wie müdes Herbstlaub neben die Schienen.
Als sie aus dem Zug stiegen, schauten sie sich nervös um. Die Rucksäcke fest auf dem Rücken geschnallt, mit dünner Schweißschicht darunter. Die Karte im Kopf. Den Zeitplan im Kopf. Die Idee im Kopf. Die Bestimmtheit im Kopf. Angst in den Knochen.
Es war ihr letzter Trip. Das stand fest. Es war eine lange Reise gewesen, über grüne Grenzen und durch fremde Nächte. Viel Geld hatte den Besitzer gewechselt um sie durch die halbe Welt zu schmuggeln und mehr Geld steckte in ihren Taschen um allen Eventualitäten begegnen zu können. Aus dem besetzten Irak. Zur perfekten Rache. Zum letzten Knecht des großen Satans, der noch nicht für seinen Hochmut büßen musste. Nach Polen.
Das größte Einkaufszentrum des Landes würde hier heute seine Pforten eröffnen. Mit vierhundert Litern Freibier, zwei Clowns, dreihundertdreiundachtzig Eröffnungsangeboten, einer Lotterie, fünf Festrednern und erhofften zehntausend Besuchern.
Vier Rucksäcke. Vier Männer. Vier Kilo Sprengstoff. Ein Ziel.
So sah die Rechnung aus, blank und einfach.
Vier Menschen sind nicht viel. Sie fallen auch nicht weiter auf in einer Masse aus Menschenkörpern, die sich hin und her schiebt, ohne sich seiner Identität als Masse bewusst zu sein. Sie fließen einfach mit in diesem großen Abwasserkanal namens Stadt. Sie lassen auch ihre Blicke schweifen, setzen einen Fuß vor den anderen und watscheln im Gänsemarsch eine Route entlang die sie sich in zahlreichen Stunden vor der Karte eingeprägt haben. Steigen in eine Straßenbahn ein und stehen argwöhnisch zwischen fremden Menschen mit Einkaufstüten, lärmenden Schulkindern und einen eingepennten Trinker. Die Türen klappen zu, die Bahn fährt mit einem Ruck an und rumpelt schwankend wie ein Besoffener die Straße hinunter. Steine knirschen unter den Gleisen, die hier vor einem halben Jahrhundert verlegt wurden. Autos knallen mit voller Wucht in Straßenschäden die aussehen wie kleine Kiesbergwerke. Passanten werden mit provisorischen Holzkonstruktionen vor auseinander fallenden Gebäuden beschützt. Ein Bewusstloser liegt, alle Viere von sich gestreckt, auf einem Parkplatz und Autos zirkeln vorsichtig um ihn herum. Jugendliche begegnen sich, schreien sich an, schlagen sich zweimal ins Gesicht und gehen wieder ihrer Wege. Ein kleiner Junge versucht halbvergangene Nelken zu verkaufen. Der Strom fällt aus, die Straßenbahn stoppt, der Schaffner öffnet per Hand die Türen.
Es ist ein Kampf gegen Unterdrückung. Ein Kampf gegen Ungerechtigkeit. Für die Armen und gegen die Reichen. Es ist ein Kampf von Gut gegen Böse. Es ist ein Kampf für eine bessere Welt. Und wir sind die Guten. Es ist nicht unser Wille Krieg zu führen. Doch es ist unsere Pflicht. In einem Kampf, den wir nicht verhindern können, bleibt uns nur noch die Wahl der Waffen. Gegen einen Feind, der über die neueste Technologie verfügt. Gegen einen Feind, der Zehntausende unserer Landsleute umbrachte ohne auch nur Hundert der seinigen zu verlieren. Gegen einen Feind, der den Weltmarkt beherrscht, das globale Kapital, der reich ist, der im Geld schwimmt. Gegen diesen Feind gelten die alten Regeln nicht mehr. Geht in ihre Städte, geht in ihre Kirchen, geht in ihre Parlamente und Polizeistationen und schickt so viele von ihnen in die Hölle wie ihr könnt. Das Volk wird euch danken, Allah wird euch belohnen! - So hatte Ali al Mussadh Radschi gesagt, und so waren sie gegangen. Im festen Glauben an die materielle Überlegenheit des Gegners und an ihre eigene moralische.
Wasser spritzte an eine Hauswand, als ein Auto durch eine Pfütze rauscht. Ein glatzköpfiger Jugendlicher pinkelt grölend und im hohen Bogen auf die Sitzbänke einer Bushaltestelle. Daneben liegt eine tote Katze auf deren milchig schimmernden Augen Ameisen krabbeln. Eine alte Frau beugt sich über die Mülltonne, der schon drei Menschen vor ihr keine Pfandflaschen mehr entlocken konnten. Ein paar Meter weiter quälen drei Kinder einen Hund, ihre hellen Zähne blitzen, während sie lachen. Ein Postbote kommt, leert den Kasten und betastet hastig die Briefe.
Er hält inne. Ein Umschlag wird nervös in den Händen hin und her gedreht. Ein Schritt zur Seite. Ratsch. Ein Bündel Geld wechselt den Besitzer. Glücklich pfeifend geht dieser weiter.
Ein weißer Umschlag flattert auf den Boden, ohne Adressat, ohne Absender, ohne Briefmarke, weiß. Ein ungelesener Brief darin:
Und ihr wollt uns ein besseres Leben bringen? Kauft euch etwas Würde mit diesem Geld. Wenn ihr könnt.
Ein Zug fährt ab. Vier Rucksäcke. Vier Männer. Vier Kilo Sprengstoff. Für eine Stadt, dem eine Explosion wenigstens schaden würde.