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Die tausend Augen
Milenas Karateschläge knallten betonhart in den Virtuellspiegel. Nachaerobische Duschfrische ermunterten ihren außen wartenden Hund "Faß!" zu reißendem Gebell.
Konferenz der Detekteileitung. Milena hörte den Einsatzplan: LauschGuck-Operation morgen. Ein Secretbau der Verwaltung von XY-Stadt war Zielobjekt. Die Stadtoberen dort dachten nur noch an die Beaufsichtigung von Einwohnern per Schwenkkamera. Schwacher Bürgerprotest drückte sich im provokatorischen lesen des Romans "1984" aus. Aber dies war nicht das Problem! Der Auftraggeber der Detektei, die Verwaltung der Grossregion, wollte einen besorgniserregenden Zusatzquant zum Überwachungsstaat aufgeklärt haben. Mit Hinweis auf die Verwendung modernster Methoden und Einsatzmittel konnte die Detektei Proctor & Proctor den Auftrag aquirieren.
Es goß in der Nacht, hin und wieder rollten U-Cars von P&P spritzend durch Strassenpfützen. Milena saß mit "Faß!" in einem solchen Unsichtbarkeitsauto, dessen Chassis mit flexiblem Flachbildschirmmaterial beklebt war und den Bildhintergrund jeweils auf die Betrachterseite flimmern lies. Ankunft in einer Szenerie wie "Der Spion, der aus der Kälte kam". Das Geheimgebäude ebenerdig mit einem beleuchtetem Zaun drumherum. Milena preßte die gläsern filigrane Bohrstange durch den Zaun bis die Sensoren ins Innere des Gebäudes spähen konnten. Der Weitwinkelwinzling zeigte in hellem Neonlicht Monitore, die Umrisse von Strassenszenen der City in cad-artiger geometrischer Strichumhüllung zeigten. In den dahinter liegenden Schaltschränken fand vermutlich irgendeine Auswertung dieser geometrischen Abstraktion statt. Die Leitstelle von P&P spielte noch einen "Strassenzwischenfall" ein. Reklameautos kreisten randalierend immer wieder "um den Pudding". Im belauschten Objekt erwachten fieberhafte Aktivitäten, alle Abbildungen der Reklameraser wurden von den Bildschirmen verbannt. Erst nach den Verhaftungsszenen ging es "normal" weiter.
Abbruch und Auswertung im Lagezentrum der Detektei. Die Interpretation des Gesehenen erhitzte die Gemüter. Handelte es sich um empirische Datenerfassungen? Könnte es sich um die Neutechnologie der verdeckt operierenden "No-Name-Organisation" handeln? Ja! Die geometrisch abstrakte Abbildung des Öffentlichen Raumes war das Computerprogramm der Stadtverwaltung. Nicht sequentielle Datenverarbeitung, sondern Ansicht von Bildszenen als schier unendliche Bit-Mannigfaltigkeiten, die es erlaubten zu steuern und inhaltlich zu gestalten. Nur normierte Szenen erhielten so Erlaubnisrang. "Faß!" zerrte und bellte: Fertig! Abschlußbericht und Rechnung.
In der schon regierenden Chefetage blinkte es weiß durch die Sichtlöcher der Vorlagenmappe: Der P&P-Abschlußbericht. Die Sekretärin versuchte in den Alkoholnebel ihres Chefs vorzudringen. Wie könnte die Großadministration auf solche neuartig extreme Datenverarbeitung reagieren? "Ganz oben" sollte entscheiden, er wäre nur Strohmann.
Die Reiseakte fuhr Fahrstuhl. Erst aufwärts, dahin, wo nur Zusatzschlüssel die Weiterfahrt gestatteten. Speisen wurden hier magerer und frischer, mit Salat und fein abgestimmten Soßen und Suppen vom Büfett. Wie die verschlungenen Pfade des Kabelsalates, so abrupt änderte sich dann der Weg des Liftes. Uniformierte Hausmeister wiesen auf den Abwärtsfahrstuhl zum betonierten Kellerlabyrinth. Weißgekalkte Gänge leiteten an schweren Stahltüren mit runden Sichtverglasungen vorbei. Hinter ihnen vermutete man eher eine biochemische Welt. "Ganz oben", der Gipfel der Administration, hatte eine Kelleretage als Großquartier. Der Dezernent mit der Akte transpirierte leicht als sich "Ganz oben" zeigte: Ein transplantiertes Hybridwesen entpuppte sich als seine Dienstherrin. Ihr körperloser Zweimeterkopf war mit Leitungsbündeln verkabelt. Grienend diktierte sie ihre Anweisungen: Wenn die Stadtverwaltung von XY-Stadt ihre EDV mit den "Rush-Hour-Szenen" betriebe, dann sei dies verboten. Alle Überwachungskameras in XY-City aus! Umkonfiguration in normale speicherprogrammierbare sequentielle EDV. In den Glaßgefäßen, die ihre mehrstufige Schnittstelle zwischen Biologie und Elektronik bildeten, blubberte leicht die Plasmaflüssigkeit. "Alle Anlagen hier betreibe ich mit den normierten Zufallsdaten der umliegenden Städte und Landkreise. Da kann XY nicht tun, was will sie denn." Draussen heulte "Faß!", der Dezernent hatte Milena ein Date versprochen.