Die Tanne
Die Tanne
Ein dichter Tannenwald im hohen Norden Europas. Der durchgefrorene Boden ist von frischem Neuschnee bedeckt und eine unwirkliche Stille liegt über der Lichtung, welche im Schein des Neumondes mystisch anmutet. Der Schnee lässt die Wipfel der Nadelbäume tiefer hängen und bildet einen starken Kontrast zum dunkelblauen Nachthimmel, welcher von unzähligen weißen Lichterpunkten geschmückt wird. Nichts deutet auf die Präsenz von irgendwelchen Kreaturen in diesem Teil des Waldes, keine Spur im Schnee, sei sie menschlicher oder tierischer Natur, unterbricht den durchgehenden Schneeteppich, der sich ausgebreitet hat. Überhaupt herrscht eine merkwürdig wirkende Leblosigkeit an diesem Ort, obwohl es doch schließlich der Wald ist, der für gewöhnlich nur so vor Leben strotzt. Bäume, kleines und großes Getier, der Gesang von Vögeln machen den Wald normalerweise für ein Symbol der Natur und des Lebens. An jener Lichtung jedoch findet sich nur Totenstille. Die Anordnung der Bäume und ihr Äußeres wirken wie durchgeplant und strukturiert, es ist als hätte irgendjemand ihnen die Vorgabe gemacht in ebendieser Formation zu wachsen. Lediglich ein Baum bricht mit dieser Ordnung. Dieser Baum, welcher auf den ersten Blick gar nicht so anders aussieht als die übrigen, wirkt bei näherer Betrachtung fehl am Platz. Auch er steht nebst der anderen Tannen und scheint sich in ihr streng gegliedertes Bataillon fügen zu wollen, was ihm jedoch aus irgendeinem Grund nicht gelingt. Der Schnee bedeckt seine Wipfel auch nur teilweise und allen voran die oberen Äste bleiben grün. Klein und hilflos erscheint der Baum neben den mächtigen gleichgeschalteten schneeweißen Tannen in seiner Umgebung. Ein leichter Wind rührt sich, möglicherweise deutet sich ein Sturm an. In diesem Teil des Landes ist während des Winters häufiger mit heftigen Böen und Unwettern zu rechnen. Ein leises Pfeifen ist durch den Windzug, welcher die Bäume durchquert zu vernehmen und die obersten Schneepartikel auf der Erde versetzen sich in Bewegung, wodurch eine Art wenige Centimeter hoher Nebel über dem Boden entsteht. Mit der Zeit nimmt der Wind zu und die ersten Tannen beginnen ihr wahres, ungeschmücktes Antlitz zu entblößen. Der Sturm befreit sie von der Last der Tarnung. Schon bald ist im dichten Schneegestöber nichts zu erkennen, doch sobald der Schnee sich gelegt hat wird unsere Tanne nicht mehr so wirken wie wie vor dem Sturm. Die fehlende weiße Kontur, welche den anderen Bäumen vorbehalten war, wird nun keinem Baum mehr zustehen.