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Die Tür
Galahad stapfte durch den Schlamm, geradewegs den Hügel hinauf, direkt auf den Höhleneingang zu. Seit dem frühen Morgen befand sich der Paladin bereits im finsteren Tann, dicht beieinander stehende Nadelbäume ragten hoch in den Himmel und verweigerten Eindringlingen, wie er einer war, das Licht der Sonne. Nun schwanden hinter dem dunklen Grün auch die letzten Strahlen des Tages und das Zwielicht zwischen den Tannen wich einer heraufziehenden Düsternis, wie eine klamme Decke legte sie sich über den Wald.
Dies war in der Tat ein unwirtlicher Ort.
Achtsam behielt Galahad während seines Aufstiegs das Unterholz an beiden Flanken im Blick. Wie er aus seiner Erfahrung des fast vergangenen Tages wusste, konnten daraus jederzeit solch grausige Kreaturen wie Glimmerspinnen, Waldschrate oder auch die gefährlicheren Borkenwölfe hervorbrechen, immer mit der Absicht, ihn zu töten. Doch sollten sie nur kommen, Schädelspalter würde sie gebührend empfangen! Seinen Bidenhänder, auf dem noch das Blut einer kürzlich niedergemetzelten Goblinhorde trocknete, hatte der muskelbepackte Hüne – bereit für den nächsten Kampf – gezogen. Er war stolz auf seine epische Klinge, immerhin hatte er sie zum erfolgreichen Abschluss einer königlichen Queste vom Herrscher Garstwyn II. persönlich überreicht bekommen. Auch Galahads restliche Ausrüstung konnte sich sehen lassen. Hochwertige Stulpenstiefel, ein mit Eisenbändern verstärkter Waffenrock, darüber sein feuerfester Lederharnisch, gefertigt aus den Schuppen eines Lavawarans. Galahads schulterlanges blondes Haar steckte unter einem Spangenhelm, dessen Nasenschutz nach einem feigen Hinterhalt dreier Harpyien, ein gutes Stück den Hügel hinab, leicht verbogen war.
Während der Paladin dem Eingang der Höhle immer näher kam, entspannte er sich ein wenig, kein Monster wagte es, ihn aufzuhalten.
Auf der Kuppe angekommen, sah er sich um. Schaurig anzusehen lag dort der Zutritt in den Berg wenige Schritt vor ihm. Felsnadeln am oberen Rand des Zugangs erinnerten an Reißzähne, sie ließen das Portal wie das aufgerissene Maul einer riesigen Bestie wirken.
Die an den Steinen schwach gülden glimmende Markierung zeigte Galahad sein nächstes Ziel.
Finde den Drachenhort! lautete seine Aufgabe. Er ließ Schädelspalter in die auf dem Rücken befestigte Lederscheide gleiten, löste den Rucksack von seinen muskulösen Schultern und überprüfte die darin befindliche Ausrüstung.
Zwei Heiltränke, vier Portionen Leder, drei Wundverbände, bloß noch ein einziger Zaubertrank.
»Leon, Essen ist fertig!«, ertönte plötzlich eine laute Stimme.
Galahad hielt kurz inne. Er schloss seinen Rucksack.
»Leon, hörst du?!«, rief die Stimme, jetzt energischer.
»Noch zehn Minuten, Mama! Ich bin kurz vor dem Drachen!«, antwortete Leon, wobei er den Blick nicht vom Bildschirm nahm .
»Jetzt sofort! Sonst kommt der Drache hoch und zieht Dir den Stecker!«
Leon sah auf den Monitor. Regungslos verharrte dort Galahad vor dem Höhleneingang, bereit, es mit dem Untier aufzunehmen.
Leon zögerte. Seit Tagen kämpfte er sich bereits an die Bestie heran, es winkte genügend Erfahrung, um eine Stufe aufzusteigen.
»LEON FINN MALATESTA!!!«, schrie seine Mutter ein Stockwerk tiefer, am Fuße der schmalen Holztreppe.
Der Dreizehnjährige seufzte. Beide Vornamen. Plus Nachname. Der Drache würde warten müssen. Er pausierte das Spiel, legte den Controller zur Seite, hastete aus dem Zimmer und die Treppe hinunter. Wobei er die letzten drei Stufen mit einem großen Sprung überwand, ein lauter Knall als er aufkam. Am Fuße bog er links ab in die Küche. Seine Mutter stand am Herd und rührte gerade mit einem langstieligen Holzlöffel in einem Topf. Ihr Blick sprach Bände, als Leon mit Schwung um die Ecke bog.
»Hände gewaschen?«, mahnte sie.
Noch in der Vorwärtsbewegung hielt Leon sich am Türrahmen fest, rutschte auf seinen Socken kurz weg und flitzte um die Ecke ins kleine Bad. Er ließ sich für wenige Sekunden kaltes Wasser über seine Finger laufen und schon war er wieder in der Küche.
»Was gibt’s denn?«, fragte er, wobei er die Antwort bereits kannte, denn der verführerische Duft von Mamas Spaghetti Bolognese hing in dem einfachen Raum, an dessen rechter Seite ein schmaler Esstisch stand. So lange Leon denken konnte, besaßen sie diesen Tisch, auf dessen Plastikoberfläche sich im Laufe der Jahre eine Unzahl Kratzer und Macken angesammelt hatten. Leon zog sich einen der zwei billigen Resopalstühle heran und setzte sich.
»Der Kühlschrank ist fast leer, also gibt’s mal wieder Spaghetti«, sagte seine Mutter, stellte die beiden Töpfe – Nudeln und Sauce – auf den Tisch und nahm ebenfalls Platz.
»Macht nichts«, antwortete Leon und füllte seinen Teller mit Nudeln. Es machte ihm wirklich nichts aus, in Wahrheit hätte er jeden Tag Mamas Bolognese essen können. Während sie sich von den Nudeln nahm, übergoß er seine eigenen bereits mit drei großen Kellen voll dampfender Sauce, so dass der Teller beinahe überzulaufen drohte.
Seine Mutter kommentierte dieses Procedere mit einem Zungenschnalzen.
»Hast du auch bestimmt genügend Sauce?«, fragte sie mit hochgezogenen Augenbrauen.
Doch Leon hatte bereits die erste Ladung Nudeln im Mund. Während ihm die Spaghetti aus den Lippen hingen, hob er den Kopf und sah seine Mutter an. Diese konnte sich jetzt ein Grinsen nicht mehr verkneifen.
»Lass´es Dir schmecken, mein Sohn.«
»Bu bir aug«, erwiderte Leon mit vollem Mund. Die Bolognese war wie immer köstlich.
»Was hast du heute noch vor?«, fragte sie, während sie sich mit der Gabel ein Nudelnest auf den Löffel drehte. Leon schluckte hörbar.
»Zocken.«
Seine Mutter seufzte. Sie hielt in der Bewegung inne und sah dann ihrem Sohn beim hinunterschlingen zu.
»Als ich in deinem Alter war, haben wir in den Ferien so oft wie möglich draußen gespielt. Wir haben im Wald Buden gebaut, sind in Pfützen gesprungen, haben uns selber Spiele ausgedacht. Jeder Tag war ein Abenteuer. Ihr heutzutage mit euren Videospielen und eurem YouTube, immer bloß drinnen, nur noch am Bildschirm. Da muss ich mir doch Sorgen machen, dass mein Sohn langsam verblödet.«
»Ich erlebe auch Abenteuer«, erwiderte Leon und drehte sich ein riesiges Knäuel Spaghetti auf die Gabel.
»Keine richtigen«, meinte seine Mutter.
»Doch, finde ich schon. Also mein Paladin...«
»Dein Paladin bist aber nicht Du, Leon.« Er glaubte, eine Spur von Verärgerung in ihrer Stimme auszumachen.
»Doch, ist er. Also bin ich. Ich steuere ihn. Ich bestimme, welche Kleidung er trägt und mit welchen Waffen er kämpft...und...so.« Eine weitere Gabel voll Nudeln mit Sauce fand den Weg in seinen Mund.
Seine Mutter hatte ihr Besteck jetzt an die Seite gelegt und sah ihn mit ernsten Gesichtsausdruck an. »Geht dein Paladin dann auch für dich raus und stellt sich dem echten Leben? Wichtigen Dingen wie...Schulnoten und...Freundschaften und...«, ihre Stimme brach, sie seufzte und beugte sich tief über den Teller, so dass er ihr Gesicht nicht sehen konnte. Stumm schüttelte sie den Kopf, ihre langen schwarzen Haare schaukelten sacht dabei.
Für den Moment aßen beide schweigend.
Als sie den Blick hob, lag ein feuchter Schimmer in ihren Augen, unter denen er seit langem dunkle Ringe erkennen konnte. Mama sah sehr müde aus.
»Leon...das echte Leben…es ist da draußen, weißt du? Und es wartet nicht auf Dich. Auf Dich.« Sie nahm seine Hand in ihre und drückte sie fest.
Er sah ihr in die Augen, den Mund voll´leckerer Spaghetti. Er glaubte zu verstehen, was sie meinte. Doch er wusste, sie würde nicht verstehen, dass es so einfacher für ihn war. Wenn er Galahad war. Galahad war mutig und stark. Galahad wurde für seine Taten bewundert und bejubelt. Galahad besaß Gefährten und Freunde...
Auch wenn Mama voll´ Liebe für ihn war, was das anging würde sie ihn nicht verstehen, also sagte er nichts mehr, nickte bloß und widmete sich statt dessen weiterhin dem Essen.
Als Leon fertig war, schob er seinen leeren Teller von sich und wollte aufstehen.
»Super lecker Mama.« Doch seine Mutter bremste ihn.
»Nicht so schnell. Bevor du wieder hoch düst, bringst du bitte noch den Müll in den Keller.«
»Ooch Mamaaa!« Er hatte keine Zeit für so was, auf ihn wartete doch der Drache!
»Nix ooch Mama. Das hatten wir schon Leon, du bist der Mann im Haus und ich erwarte, dass du mir ab und zu hilfst.«
Du bist der Mann im Haus. Wie immer wenn sie das sagte, versetzte es seinem Herzen einen kleinen Stich. Er wusste, dass sie es nicht bös´ meinte, doch er konnte auch nichts gegen den Schmerz tun.
»Das mache ich später, fest versprochen«, versuchte er seine Mutter zu vertrösten.
»Nichts da, ich muss gleich los zur Nachtschicht und die Eimer fangen schon an zu stinken. Du machst das jetzt.« Leon kannte seine Mutter, es hatte keinen Sinn mit ihr über diese Anweisung zu diskutieren. So trottete er mit hängendem Kopf zum Doppelmülleimer unter der kleinen Spüle und während Mama aufaß, verschnürte er die zwei schwarzen Plastiksäcke mit den dafür vorgesehenen Zugbändern. Dabei hielt er den Atem an, denn der Abfall begann tatsächlich bereits übel zu müffeln. Er zog die Säcke durch den schmalen Wohnungsflur hinter sich her und verließ das Appartement.
Das ungepflegte Treppenhaus vor sich, schliff er auf seinem Weg nach unten die beiden Müllsäcke über den Beton, so dass es bei jeder Stufe schepperte. Das Geländer zu seiner Rechten war wie das Gebäude selbst alt und reparaturbedürftig. Die Wände zur linken in jedem Stock übersät mit Graffiti, bunte Tags, manche fast schon kunstvolle Schriftzüge, die meisten jedoch obzöne Beleidungen, viele davon richteten sich gegen die Polizei.
Im Erdgeschoss angekommen, erblickte Leon die rostige Kellertür.
Er schluckte. Leon hasste den Keller.
Da unten war das Reich des Geiers.
Eigentlich Herr Geirowski, wurde der Hausmeister hinter seinem Rücken von den Mietern bloß beim Spitznamen genannt. Das passte, wirkte der alte Mann doch aufgrund seiner stets leicht gekrümmten Körperhaltung, seines Gangs und vor allem seiner markanten Nase wie ein großer, gruseliger Raubvogel.
So lange Leon denken konnte, herrschte der Geier über den Keller mit eiserner Kralle, er hatte sein Nest in einem kleinen Kabuff neben dem Hauptsicherungskasten gebaut. Meist hielt er sich dort auf, hörte traurige Balladen aus vergangenen Zeiten auf einem uralten Transistorradio, welche man schon von weitem blechern durch die dunklen, tief mit Rohren verhangenen Gänge hallen hörte. Wenn er nicht in seinem Nest hockte, schob der Geier einen brusthohen Putzwagen durch die Gänge, den Kopf dabei nach vorne gestreckt, langsam schlurfend.
Der Geier hasste die Kinder im Haus und wehe, man verärgerte ihn, oder schlimmer noch, spielte ihm Streiche. Die Geschichte erzählte, zwei Jungen hätten sich dort unten vor Jahren aus Spaß an der Heizungsanlage zu schaffen gemacht. Der Geier ertappte sie auf frischer Tat und schliff sie an den Ohren zu ihren Eltern in den dritten Stock. Dabei packte er so kräftig zu, dass er einem der beiden mit seinen scharfen Fingernägeln das Ohr glatt abgetrennt haben soll…!
Leon öffnete die Kellertür, wobei den Angeln ein unangenehm hoher Quietschton entwich. Vor ihm lag die steile Kellertreppe, eine einzelne nackte Glühbirne ließ weit unten den Fuß in trübem Gelb erscheinen. Leon atmete einmal tief durch und machte sich an den Abstieg. Als die Müllsäcke auf den ersten Stufen erneut schepperten, kam ihm dieses Geräusch unnatürlich laut und auch falsch vor. Also hob er die Säcke an, so dass er die Stufen lautlos nehmen konnte. Gerade als er in den Lichtschein der Birne eintrat, hörte er es. Trauriger Gesang drang durch die Katakomben, eine einzelne Frauenstimme, leiernd und uralt. Leons Nackenhaare stellten sich auf. Plötzlich schienen ihm die Säcke in seinen Händen schwerer und er fing an zu schwitzen.
Bloß weg hier, dachte er und nahm den ersten Gang zu seiner Rechten, von dem er wusste, dass ihn dieser zu den Müllcontainern führte. In großen Abständen beleuchteten Leuchtstoffröhren die Gänge, die unheimliche Musik schwoll an, je näher er seinem Ziel kam.
Was sollte das? Hatte der Geier etwa sein Nest verlegt? Hauste er jetzt direkt bei den Müllcontainern? Die Musik wurde lauter je weiter er ging und nach kurzer Zeit hörte Leon die traurige Frauenstimme ganz nah, hinter der nächsten Biegung, wo er auch sein Ziel erwartete. Sie sang in einer Sprache die er nicht verstand, war das französisch? Er packte die Säcke fester und bog um die Ecke. Dort standen die sechs Müllcontainer in einer Reihe, schmutzig und massiv, aus dunkelblauem Metall, so wie erwartet. Doch dort stand auch das Radio des Geiers, neben seinem Putzwagen, auf dem staubigen Fußboden, laut leierte die Musik daraus hervor.
Misstrauisch beäugte Leon erst das Radio, dann den Wagen und schließlich wanderte sein Blick über den Rest des Raumes. Vom Geier fehlte jede Spur. Hier unten roch es nach Müll und Moder. Der Gesang endete in einem anhaltenden leisen Rauschen und für einen Moment legte sich Stille über den Kellerraum. Leon wollte gerade die beiden Müllsäcke zu dem ersten Stahlcontainer ziehen, da erregte etwas Seltsames am anderen Ende des Raumes seine Aufmerksamkeit.
Hinter den Habseligkeiten des Geiers glitzerte ein großes Rechteck, an der ihm gegenüberliegenden Wand. Erst dachte Leon, er bilde sich das Ganze nur ein, als wäre es eine optische Täuschung, wie wenn man zu lange in die Sonne schaut und den Umriss noch für einen Moment danach vor Augen hat. Doch als er die Säcke abstellte und genau hinsah, erkannte er, dass es tatsächlich dort war und auch nicht verschwand.
Silbrig glänzende Linien in der Form einer Tür, wobei auf den ersten Blick keine Klinke oder Griff zu erkennen war. Leon blinzelte, rieb sich die Augen. Was war das? Fasziniert von dem glitzernden Umriss, wurde er auf wie auf magische Weise davon angezogen.
Ohne nachzudenken ging er weitere Schritte darauf zu. Ein schwaches Flüstern ging von den funkelnden Linien aus, jetzt wo er näher kam hörte er es. Unartikulierte Zischlaute schienen aus dem Umriss zu dringen. Nur noch zwei Schritte entfernt, streckte er die Hand danach aus, seine Fingerspitzen berührten beinahe die Wand.
»Was machst Du da?!« Die krächzende Stimme hinter ihm schreckte Leon auf, im Reflex drehte er seinen Kopf. Da stand der Geier in gekrümmter Haltung, einen Besen in der Hand. Das fettige Haar hing dem Alten ins Gesicht, zwei Strähnen liefen entlang der Hakennase, er glotzte Leon aus großen Augen an. »Weg von der Wand!« knurrte der Hausmeister und hielt den Besenstiel wie eine Waffe vor sich. Er schlurfte zwei Schritte in Leons Richtung, so dass der Teenager zurückwich. »Wer bist Du und was machst Du hier?!«, rief der Geier und machte einen weiteren Schritt in seine Richtung.
»Ich..äh..ich wollte...«, stammelte Leon und war wie erstarrt, er konnte seinen Blick nicht von dem Mann abwenden. Dessen Augen weiteten sich mit einem Mal, sein Mund klappte auf und entblößte eine Reihe ungepflegter Zähne.
»Du bist es!«, kreischte der Geier. »Bleib da stehen! Rühr dich nicht, bis ich bei Dir bin«, schrie er und bewegte sich auf einmal schneller auf ihn zu, als Leon es erwartet hatte. Die plötzliche Gewandtheit des Alten jagte ihm einen Stoß eiskalter Panik das Rückgrat hinauf, er fürchtete sich so sehr, dass er instinktiv handelte. Mit einem langen Satz sprang er am Geier vorbei, über seine Müllsäcke am Boden hinweg und hinein in den nächsten Kellergang. Eine der Klauen des Mannes grapschte dabei noch nach seinem Arm, verfehlte ihn jedoch um Haaresbreite. Leon rannte um die nächste Ecke, bloß weg von dem schrecklichen Freak.
»Bleib stehen hab´ ich gesagt!«, hörte er den Alten hinter sich schreien.
Leon rannte und rannte, immer tiefer hinein in die Eingeweide des Kellers. Mal bog er links ab, dann wieder rechts. Jeder Gang sah gleich aus, schon bald wusste er nicht mehr, wo genau er sich befand. Sein Herz pochte hart in seiner Brust, er besaß nur wenig Kondition und bekam mit einem Mal schlecht Luft. Notgedrungen blieb er hinter einer der zahlreichen Ecken stehen, lauschte schwer atmend hinein ins schummrige Halbdunkel.
Kein Geräusch war zu hören. Er hatte den Alten abgehängt.
Es dauerte eine Weile, bis Leon wieder zu Atem kam und sein Puls sich beruhigt hatte. Seine Gedanken überschlugen sich, wobei ein einzelner davon schnell die Oberhand gewann: Er musste hier raus; und zwar sofort.
Schleichend bewegte er sich von da an zügig durch die Kellergänge. Immer wieder hielt er kurz an, horchte, ob sich die schlurfenden Schritte des Geiers näherten, was nicht der Fall war. Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als er schließlich die rettende Kellertreppe erreichte. Leon sprintete die Stufen hinauf, stieß die quietschende Tür auf und war zum ersten Mal so froh, das dreckige, mit Graffiti übersäte Treppenhaus erreicht zu haben, dass er vor Glück beinahe laut aufgeschrien hätte. Den Impuls unterdrückend, lief er die Stufen hinauf und sah zu, dass er in seine Wohnung kam.
Einmal angekommen, schloss Leon die Tür und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Mit einem Mal fühlten sich seine Beine an, als wären sie aus Gummi. Er ließ sich zu Boden sinken und atmete tief durch. Was zur Hölle war da gerade passiert? Hatte er dieses merkwürdige Gebilde an der Wand wirklich gesehen? Das Flüstern tatsächlich gehört? Er bekam Kopfschmerzen, je länger er darüber nachdachte, zudem schob sich immer wieder das Bild des Geiers vor sein inneres Auge, wie er da stand und auf einmal einen Satz auf ihn zu machte.
»Du bist es!«, hatte der Hausmeister gekreischt, nachdem Leon glaubte, eine Art Erkenntnis in seinen Augen ausgemacht zu haben.
Shit! Wusste der Geier etwa, wer er war? Plötzlich kam es Leon nicht sehr clever vor, direkt hinter der Wohnungstür zu sitzen. Was, wenn der Alte sich auf den Weg zu ihm nach oben machte? Wenn er gleich bei ihm klingeln würde? Leon rappelte sich auf und ging rückwärts von der Tür weg, hinein in die Wohnung. Von seiner Mutter fehlte jede Spur, doch in der Küche fand er eine Notiz.
Bin weg zur Arbeit,
zock´ nicht mehr so lange.
Hab dich lieb,
M
Der Drache! Ein Grinsen schoss Leon ins Gesicht. Für den Moment beiseitegeschoben von der Aussicht auf neue Heldentaten des Paladin Gahalad, verschwanden das mysteriöse Wandgebilde und der gruselige Hausmeister in seinem Kopf. Leon blieb noch kurz in der Küche, rührte sich ein großes Glas kalten Kakao an und trug es vorsichtig die Treppe empor zu seinem Zimmer. Die Spielkonsole lag vor ihm, wie er sie verlassen hatte. Spiel pausiert prangte mittig im Bildschirm, eingerahmt in goldene Linien.
Sicherheitshalber setzte er seine veralteten, zerschlissenen Kopfhörer auf, sollte der Geier tatsächlich bei ihm klingeln, würde er es mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht hören. Den Kakao neben sich, beendete er die Pause und Galahad, der mutige Paladin, setzte seine Queste fort, hinein in die Höhle.
Leon benötigte ein halbes Dutzend Versuche, dann hatte er den Drachen besiegt. Was Galahad einen Aufstieg in Stufe 15. einbrachte. Leon spielte noch eine weitere halbe Stunde, verbrachte Sorgfalt darauf, des Paladins Eigenschaften Mut und Entschlossenheit zu stärken. Als ihm irgendwann zum wiederholten Male die Augen zufielen, beschloss er, schlafen zu gehen.
Ein klirrendes Geräusch weckte ihn.
Schlaftrunken richtete er sich im Bett auf. Hatte er geträumt? Erneut klirrte es ein Stockwerk tiefer, ganz so, als ob dort Glas zerbreche.
Leon sah auf seinen digitalen Wecker. Zwanzig vor Vier. Für Mama zu früh. Die Nachtschicht im Krankenhaus ging normalerweise von 20:00 Uhr bis 06:30 Uhr am Morgen. Leon horchte, ob er weitere Geräusche von unten vernahm. Und tatsächlich, Metall klapperte, irgendjemand machte sich in der Küche zu schaffen. Wie schon vor wenigen Stunden im Keller, kroch die Furcht in seinen Körper, doch nicht im Bruchteil einer Sekunde wie beim Geier, sondern langsam, als ob ein garstiges Monster eine mit Klauen bewehrte Pranke um sein Rückgrat gelegt; und ihn so durch eiskalten Druck bewegungsunfähig machte. Starr vor Angst, hielt Leon die Bettdecke bis an sein Kinn gezogen und lauschte ins Dunkel. Sein Blick lag dabei auf der Zimmertür, diese war bloß angelehnt, durch den Spalt hatte er die Geräusche wahrgenommen.
Für den Moment hörte er nichts mehr, dafür sickerte jetzt ein schwacher Schimmer grün-gelblichen Lichts von der Holztreppe durch den Türspalt empor. Der Schimmer gewann an Strahlkraft, wurde rasch zu einem Leuchten, irgendjemand oder irgendetwas in Besitz einer Lichtquelle kam lautlos die Treppe herauf!
Die Tür schwang langsam auf, der Lichtschein war jetzt unmittelbar vor der Schwelle.
Leon hielt den Atem an.
Und traute seinen Augen nicht.
Zwei faustgroße, grüngelbe Kugeln schwebten langsam auf Hüfthöhe ins Zimmer, die eine schien unkontrolliert nach links und rechts zu schlingern, sackte immer wieder ab und fing sich wieder, die andere hingegen flog schnurstracks und geradewegs auf sein Bett zu. Ein schwaches Summen ging von ihnen aus. Als die Kugeln das Bettende erreichten, war ihr Leuchten so stark, dass Leon sich die Hand vor die Augen hielt, sonst wäre er geblendet worden.
Die Strahlkraft der Kugeln verringerte sich, ihr Licht wurde schwächer und als er zwischen seinen Fingern hervorlugte, erkannte Leon, dass dort zwei Handtellergroße Wesen vor ihm schwebten! Sie sahen aus wie winzige Frauen, mit brünettem Kurzhaarschnitt und spitzen Ohren, gekleidet in grüne, eng gegürtete Gewänder, aus denen je vier Flügel an ihren Rücken herausragten. Das Summen kam offensichtlich von eben jenen Flügeln, denn diese schienen so schnell zu schlagen, dass sie eine Art Vibration erzeugten.
Leons Mund stand offen, er gaffte die fliegenden Wesen an, unfähig auch nur ein Wort zu sprechen.
Die rechte, stabil schwebende, flog ein Stück näher an ihn heran, ihr Gesichtsausdruck erschien ihm neugierig. Sie war wunderschön, mit fein geschnittenen Gesichtszügen, hohen Wangenknochen und einer eleganten geraden Nase. Die andere – nicht weniger hübsch - wirkte angeschlagen, sie schlingerte in der Luft und schlug seltsame Grimassen, allem Anschein nach ging es ihr nicht gut.
»Issa´das?«, fragte die angeschlagene, ihre Stimme klang hoch und gleichzeitig schleppend.
»Ich glaube er ist es«, erwiderte die andere, und landete auf Leons Bettdecke, eine Armlänge von seinem Gesicht entfernt. Ihr Tonfall dabei war sanft und ruhig. Die Vibration verstummte, als ihre vier Flügel knisternd hinter ihrem Rücken verschwanden.
»Bissu´sicha? Wiesoglotz´erso?«, lallte die erste, rülpste laut und sackte ein gutes Stück nach unten, wodurch sie hinter dem Bettgestell ausser Leons Sicht geriet.
Neugierig betrachtete das Wesen auf der Bettdecke den Teenager vor sich. Leon nahm all´ seinen Mut zusammen und sprach sie an.
»W...was seid ihr?«, stammelte er.
Ein Lächeln huschte über das Gesicht des Wesens, als es Leons Worte vernahm. Die Miniaturfrau verbeugte sich tief vor ihm, wobei sie einen Knicks beschrieb und ihren linken Arm dabei vor ihre Hüfte hielt. Schließlich richtete sie sich wieder auf und sah Leon in die Augen.
»Mein Prinz, erlaubt mir, mich vorzustellen. Mein Name ist Lyani vom Stamme der Bree. Ich bin eine Meliai.«
Als sie Leons Gesichtsausdruck las, überlegte sie kurz, dann fügte sie hinzu »Vielleicht würde euch die Bezeichnung Baumnymphe eher zusagen, eure Hoheit?«
Leon starrte sie weiterhin mit offenem Mund an, zu mehr war er nicht im Stande. Die Nymphe runzelte daraufhin die Stirn. »Versteht ihr, was ich sage, eure Hoheit?«
Leon brachte ein Nicken zustande. »Baumnymphe«, sagte er stumpf.
Lyani strahlte jetzt über das ganze Gesicht. »Eschennymphe, um genau zu sein, doch wollen wir die Dinge nicht schon zu Beginn verkomplizieren, nicht wahr, eure Hoheit?«
Jetzt war es an Leon, die Stirn zu runzeln. Ihm war leicht schwindelig, er schüttelte den Kopf.
»Warum nennt ihr mich so?«, fragte er die Nymphe.
»Warum nenne ich euch wie, Hoheit?« fragte Lyani.
»Hoheit«, sagte Leon.
»Jaaa?«, sagte Lyani gedehnt, jedoch unsicher, als hätte sie etwas Falsches gesagt.
»Na, warum nennt ihr mich so?«, fragte Leon.
Die kleine Frau setzte gerade zu einer Antwort an, da erschien das andere Wesen, der Erscheinung nach ebenfalls eine Nymphe, bloß ein wenig dünner als die, die sich als Lyani vorgestellt hatte. Leon sah dabei zu, wie sie auf das hölzerne Bettgestell kletterte. Mit sichtlicher Anstrengung zog sie sich unter Stöhnen und Ächzen auf das Fußteil, blieb dort kurz schwankend stehen und hatte anscheinend Schwierigkeiten, Leon zu fixieren. Torkelnd beschrieb sie eine weit weniger elegante Abart der jüngst von Lyani vollzogenen Verbeugung, auch sie richtete sich im Anschluss wieder auf.
»Eure Hochheit...erlaupt mich mir vosuställen...«, krakeelte sie. Es entstand eine unheilschwangere Pause, in welcher Leon aus dem Augenwinkel zu erkennen glaubte, wie Lyani beim Anblick ihrer Gefährtin die Augen verdrehte.
»...mein Name ist Nylla vom Stamme der Bree...und ich...bin...betrunken.«, schloss die Nymphe, drehte sich um und kotzte vom Fußteil des Bettes einen Miniaturstrahl auf den Teppich.
Peinlich berührt, schlug Lyani die Hand vor die Augen.
»Ihr müsst meine Schwester entschuldigen, Hoheit«, sagte sie an Leon gerichtet, »sie hat ganz offensichtlich ein Alkoholproblem.«
»Ganz offensichtlich«, murmelte Leon, der nicht so Recht wusste, was genau hier geschah. Es vergingen wenige Augenblicke in welchen bloß Nyllas reflexartiges Würgen zu hören war, unterbrochen von einem gestöhnten »Boah, ich drinke nie wieda wass«, während Lyani ihr den Rücken täschelte.
Leon versuchte derweil, die Geschehnisse zu verarbeiten. Das hier passierte wirklich. Es war kein Traum. Zur Probe kniff er sich fest in das weiche Fleisch seines Oberarms, es tat weh. Kein Traum. Die beiden Dinger erschienen ihm nicht gefährlich, im Gegenteil er glaubte, dass wenn sie ihn angreifen würden, er sie wie lästige Wespen gegen die Wand klatschen konnte.
Besoffene Baumnymphen.
In seinem Zimmer.
Er konnte im Moment nicht klar denken.
Die Nymphe mit dem Namen Nylla hatte sich anscheinend ausgekotzt, denn jetzt drehten sich beide Frauen wieder zu Leon um. Es war Lyani, die das Wort als erste ergriff.
»Bitte verzeiht meiner Schwester den Mangel an höfischer Etikette, mein Prinz. Es wird nicht wieder vorkommen«
»´tschuldigung«, nuschelte Nylla sichtlich erschöpft, hielt sich ihre klitzekleine Faust vor den Mund und stieß auf.
Leon hob abwehrend die Hand. »Ihr nennt mich immer Prinz. Oder Hoheit. Wieso macht ihr das?«
Lyani sah ihn mit einem Stirnrunzeln an.
»Issas´n Test?«, fragte Nylla, woraufhin Lyani ihr die Hand auf den Arm legte. Nyllas Mimik wirkte argwöhnisch. Lyani trat über die Bettdecke noch näher an Leon heran.
»Ihr seid Leon Finn Malatesta, Sohn des Königs, rechtmäßiger Thronfolger, Prinz von Eventyr.«
Leon schüttelte entschieden den Kopf. »Nein. Sorry, ihr habt den Falschen.«
»Scheiße!«, fluchte Nylla, torkelte zu ihrer Schwester und boxte sie auf den Arm. »Ichab´gesacht wir sin´falsch. Sieht der Digge da aus wie´n Prins?« Sie fuchtelte mit ihrem Ärmchen in Leons Richtung.
Mit ernstem Blick sah Lyani jetzt Leon an. Sie entfaltete ihre Flügel, stieß sich von der Bettdecke ab und surrte summend dicht vor sein Gesicht. Die Arme vor der Brust verschränkt, schwebte sie auf der Stelle.
»Erklärt euch! Wer seid ihr?«
Leon riß die Augen auf, die Nymphe kam ihm auf einmal doch sehr nah.
»Ich...bin...Leon Finn Malatesta, aber...mein Vater ist kein König.« Da war er wieder, der stechende Schmerz in seinem Herzen.
»Wie lautet der Name eures Vaters?«, fragte die Nymphe fordernd.
Leon hatte einen Kloß im Hals. Er spürte, wie Tränen in ihm aufstiegen. »Er hieß...Marco.«
Lyani nickte. »Marco Alberico Malatesta I., Bewahrer des Friedens, Bezwinger der Bestie von Kattax, rechtmäßiger Herrscher über ganz Eventyr, sowie die Varjonischen Inseln.«
Leon schluckte den Kloß hinunter, er schüttelte den Kopf. Traurig sah er der Nymphe ins Gesicht.
»Nein. Du irrst dich. Mein Vater ist tot.«, sagte er.
Jetzt war es an der Nymphe, entschieden den Kopf zu schütteln. »Mitnichten, Hoheit. Euer Vater lebt und er benötigt dringend eure Hilfe. Nicht weniger als das Schicksal Eventyrs steht auf dem Spiel.« Ohne eine Antwort abzuwarten drehte sie sich zu ihrer Schwester um. »Nylla, mir scheint, wir sind hier richtig.« Die betrunkene Nymphe saß auf dem Fußende des Bettes, hatte die Knie angezogen und den Kopf dazwischen vergraben. Ohne aufzusehen, streckte sie ihren Arm aus und zeigte mit dem Daumen nach oben.
Lyani drehte sich wieder zu Leon um. »Hoheit, unsere Queste lautet, euch an den Hof zu eskortieren. Die Zeit verrinnt rasch, wir sollten uns daher auf den Weg machen.« Sie besah ihn abschätzend, mit kritischem Blick. »Ist dies euer Reisegewand?«
Leon schaute an sich herunter. »Das nennt man Schlafanzug.«
»Das muss reichen«, entgegnete die Nymphe. Sie griff an ihren Gürtel und zog einen für Leons Augen winzigen Lederbeutel hervor. Mit geübtem Griff löste sie die Schnürung des Beutels und versenkte ihre Hand darin. »Hoheit, seid ihr mit dem Vorgang des Raumhüpfens vertraut?«
Leon schwirrte der Kopf. Das alles ging ihm zu schnell. »Du meinst, ob ich schon mal in einem Raum herumgehüpft bin?«
Die Nymphe nickte, die Hand noch immer im Beutel.
»Klar, ich war schließlich auch mal klein«, sagte Leon und schon im nächsten Moment wurde ihm die Dämlichkeit der eigenen Aussage bewusst.
»Ausgezeichnet mein Prinz«, sagte Lyani und strahlte plötzlich über das ganze Gesicht. »Dann macht euch für einen Hüpfer bereit.« An Nylla gewandt sagte sie »Schwesterherz, kommst Du?«
»Nichts wie weg hier«, grummelte die Nymphe, erhob sich und auch sie löste die Schnur ihres Beutels am Gürtel.
Bevor Leon etwas sagen konnte, geschweige denn wusste wie ihm geschah, zogen die kleinen Wesen ihre Fäuste aus den Lederbeuteln und schleuderten ihm eine Handvoll glitzernden Staubes entgegen. Das Zeug roch stark nach Lakritze und kitzelte Leon in der Nase. Er musste plötzlich niesen, was Nylla mit einem lauten »Gesundheit, mein Prinz!« kommentierte.
Zum dritten Mal in kürzester Zeit fuhr Leon der Schreck in die Glieder, als erst die eine und dann die andere Nymphe vor seinen Augen mit einem kleinen Knall explodierten.
Er blinzelte. Sie waren weg. Auseinandergerissen in tausend Teile. Reste des funkelnden Staubs waberten in der Luft umher, ungläubig beäugte er, wie die kleinen Partikel zur Bettdecke sanken.
In seinem Unterleib verspürte er einen anschwellenden Druck. Sein eh´ nicht gerade flacher Bauch schien sich mit Luft zu füllen. Unangenehm. Der Druck nahm weiter zu, jetzt spürte Leon ihn plötzlich auch in seinen Ohren. Er schloss seine Augen, hielt sich die Nase zu und schluckte.
Schlagartig verschwand das drückende Gefühl, doch irgendetwas war anders.
Leon öffnete die Augen...und taumelte vor Schrecken rückwärts.
Er blickte in das Gesicht des Geiers, dieser stand direkt vor ihm, denn Leon befand sich plötzlich im Keller! Im Raum mit den Müllcontainern, aus dem er noch vor wenigen Stunden geflüchtet war. Mit rudernden Armen stolperte er nach hinten, konnte sein Gleichgewicht nicht halten und fiel schmerzhaft auf den Hintern. Gerade wollte er panisch weiter zurück krabbeln, als er bemerkte, dass der Hausmeister seinen Besen weggelegt und ihm sachte die Hände mit den Handflächen nach außen entgegen streckte, als wolle er sagen: Keine Panik.
Und da waren auch wieder die beiden Baumnymphen, sie flankierten den alten Mann, schwebten ungefähr auf Schulterhöhe, und beäugten Leon. Er glaubte, Verwunderung auf ihren Gesichtern zu erkennen. Der Geier war der erste, der das Wort ergriff.
»Habt keine Angst, mein Prinz«, krächzte er und vollführte ebenso eine tiefe Verbeugung, wie die Schwestern zuvor.
Mit großen Augen sah Leon zu dem Hausmeister auf. Er konnte nicht fassen, dass der Geier, der Schrecken aller Kinder, sich vor ihm verbeugte.
Die Nymphe Lyani flog heran. »Hoheit, wir verlieren kostbare Zeit, ich schlage vor, dass ihr euch erhebt.« Als wäre dies sein Stichwort, machte der Geier einen Schritt nach vorne und hielt Leon seine ausgestreckte Hand hin. Leon zuckte zurück. Lyani erkannte seine Angst, die Nymphe beschrieb einen kleinen Schlenker und landete auf der geöffneten Handfläche des Geiers, dicht vor Leons Gesicht. Mit ruhiger Stimme redete sie auf Leon ein.
»Mein Prinz, fürchtet euch nicht. Dies ist Pompurri. Er ist ein...Weltenwächter.«
»Pompurri«, flüsterte Leon und beäugte den Geier, welcher behutsam die Nymphe hielt.
»Hüter wie er beschützen die magischen Türen, welche verborgen vor den Augen der Unwissenden den Durchgang zwischen zwei Welten beschreiben.«
Leon blinzelte.
Mit einem Mal hatte der alte Mann beinahe nichts bedrohliches oder unheimliches mehr an sich. Zögernd streckte der Junge die Hand aus, Lyani lächelte, stieß sich ab und flog zur Seite. Die Handfläche des Hausmeisters fühlte sich rau und schwielig an, als dieser Leon sanft auf die Füße zog. Anschließend hob der Alte seinen Besen vom Boden auf und schlurfte zur hinteren Wand, an der Leon jetzt wieder den silbrig glitzernden Umriss in Form einer Tür erkennen konnte.
Die beiden Baumnymphen folgten dem Geier, alle drei warteten jetzt auf Leon und sahen ihm dabei zu, wie er sich dem Umriss näherte.
Noch zwei Schritte von der Gruppe entfernt, richtete der Geier erneut das Wort an Leon.
»Verzeiht, wenn ich euch in der Vergangenheit erschreckt haben sollte, Hoheit. Dies lag nicht in meiner Absicht.«
»Und mir tut´s leid, dass ich euch dick genannt habe, mein Prinz«, rief Nylla von der Seite. »Ihr seid definitiv im Vorteil, sollte man euch einmal entführen wollen«, fügte sie hinzu, was ihr einen tadelnden Blick von Lyani einbrachte.
»Schon gut«, murmelte Leon, in Gedanken noch immer mit dem Wandel des Hausmeisters beschäftigt.
»Wollen wir, Hoheit?«, fragte Lyani und flog in Richtung des schimmernden Umrisses.
Leon baute sich jetzt mittig vor der Tür auf. Aus dieser Nähe hörte er wieder das Flüstern, welches aus den Ritzen zu quellen schien.
Mit einem Mal musste er an seine Mutter denken. Er wäre nicht da, wenn sie von der Nachtschicht nach Hause käme.
»Kann ich...wieder zurück?«, fragte er zaghaft.
»Mein Prinz?«
»Wenn es mir dort nicht gefällt...oder...ich Heimweh habe. Kann ich dann wieder zurück?«
Die Nymphe runzelte die Stirn. Sie sah kurz zu dem Geier, dieser erwiderte den Blick, sagte jedoch nichts.
»Das ist noch nie vorgekommen, eure Hoheit. Niemand der Eventyr einmal betreten hat, wollte unser Reich jemals wieder verlassen.« Als ob sie seine Zweifel spüren konnte, fügte sie hinzu »Wenn es euch beruhigt, so schwöre ich hiermit, euch nach Hause zurück zu geleiten, sofern dies euer Wunsch ist.«
Das flüsternde Zischeln der Tür schwoll allmählich an.
»Was erwartet mich dort?«, fragte er unsicher.
»Euer Vater, der König. Und ein ganzes Reich voll´ Wagnis und Abenteuer«, sagte Lyani mit feierlicher Miene.
Leon betrachtete den glitzernden Umriss. In seinem Kopf hörte er die Stimme seiner Mutter.
Das echte Leben, es ist da draußen. Und es wartet nicht auf Dich. Auf Dich.
Sein Vater. Der am Leben war und König.
»Gehen wir«, sagte Leon und schritt durch den Stein.