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Die Sucht
Der Tag an dem alles endete, ist der Tag an dem ich im Morgengrauen in die Tiefe starrte.
Doch bevor ihr verstehen könnt, warum ich an jenem Tag auf dem Dach stand und nach unten schaute, auf die graue Straße, die wie ein toter Fluss, vor Abgasen schimmerte, müsst ihr wissen, wie alles seinen Anfang nahm.
Eine Sucht. Schlimmer als alles andere. Ein Verbrechen, so groß das ich mir selbst nicht mehr ins Angesicht blicken konnte. Meine Seele lag schon in den tiefsten Abgründen.
Ja. Es ist unglaublich. Die Sucht nach Wassereis!
Es begann bereits nach meinem 13. Geburtstag. Zwei Freunde und ich zogen los, unsere Kapuzen tief in die Stirn geschoben und Sido in den Ohren. Wir gingen an einen gefürchteten Ort.
Ein Ort an dem, in den Sommerabenden, Jugendliche lauerten – mit ihren Zigaretten in den Mündern und Messern in den Taschen. Der Konsum übermäßigen Zuckers ließen ihre Zähne bereits faulen und sie zähen Schleim auf den Boden spucken. Ja, an einen solchen Ort gingen wir, eines schönen Sommertages. Die Vögel sangen und die Blumen dufteten, doch unsere Stimmung war düster. So düster, dass ich mich wunderte, warum die Blumen nicht welkten und die Vögel nicht vom Himmel fielen . Die Lettern an der bröckelnden Hausfassade leuchteten in einem blutigen Rot und giftigen Grün. Ein Sichtfenster gewährte Einblick in die Finstere Grube der Karies-, Rauch-, und Saufdämonen. Wahrscheinlich wisst ihr mittlerweile von welchem Ort ich rede. Auch wenn ihr es euch noch nicht vorstellen vermögt. Doch ja. Wir gingen zu einem Kiosk!
Der Verkäufer lächelte uns an, verführte uns mit seinen spitzen weißen Zähnen. Er war wie ein Vampir, verführerisch und mächtig. Seine Augen blitzten, als wir uns vorbeugten und durch das Sichtfenster spähten. Seine Hände zuckten, entschlossen uns etwas barbarisches zu verkaufen. Und wir taten es. Ja, wir taten es. Wir kauften uns ein Wassereis. Diese chemische Verbindung des Grauens, von Wasser, Farb- und Süßstoffen. Die länglichen Stäbe, umschlossen in durchsichtigen, beweglichen Reagenzgläsern zum Aufreißen. Schon die erste Berührung mit unseren Zungen, besiegelte unser Schicksal. Wir waren verzaubert, verführt durch die Aromen, die unseren Gaumen hinunter liefen. Sofort wurde mir eiskalt, doch ich verlor mich im Strudel des puren Genusses.
Ihr könnt euch denken, wohin das führte. Wir kamen wieder und wieder und verloren die Angst vor dem Höllenschlund. Der Verkäufer erschien uns nun wie ein Engel und die Jugendlichen, mit ihren Zigaretten in den Mündern, und Messern in den Taschen. Wie dessen Kinder. Denn wir leckten an Wassereis, unsere Zungen kälter als der Tod, unser Blut süßer als das eines Diabetikers. Wir schwänzten die Schule, denn unser Körper verlangte nach Nachschub! Wir schwitzten kalten Schweiß, bebten und zitterten jede Nacht, nachdem der Kiosk geschlossen hatte. Wir lungerten auf der Straße davor herum, wie ausgehungerte Hyänen und fletschten die Zähne, bereit zum Kauf von mehr und mehr Wassereis, in verschiedensten Farben und Formen. Gezüchtet in der eiskalten Truhe des Verderbens.
Wir erkannten, dass wir bereits keine Menschen mehr waren, sondern Untertanen, Diener des Wassereises. Wir erhofften eines Tages selbst die teuflische Macht zu besitzen, um Wassereis herzustellen und es an unschuldige Seelen zu verkaufen. Ja, so waren wir geworden. Verdorben bis ins tiefste Mark. Und dann kam der Tag, an dem meine Mutter mir das Taschengeld strich. Glühend heiße Messer durchstachen mein Herz. Die Welt drehte sich und sich wusste keinen Rat. Wie sollte ich ohne mein geliebtes Wassereis auskommen? Ich weinte drei Tage und Nächte lang, schrie und jammerte jämmerlich, bis etwas in mir zerbrach und ich dem inneren Flehen nach ging und Wassereis klaute...
Selbst meine Freunde waren schockiert von mir! Doch sie hatten leicht reden! Hatten immer noch die Mittel der Sucht nach zu gehen! Und mir gaben sie nichts ab! Verschlangen alles selbst, in ihrer gierigen Hast! Deshalb sah ich mich gezwungen kriminell zu werden. Und so klaute ich weiter, getrieben wie ein Wolf vom Monde, bis die Hundefänger – die Polizisten kamen und mich mit nahmen.
Danach steckten mich meine Eltern in eine Klinik. Ich erinnere mich noch ganz genau an mein weißes, kahles Zimmer, ,mit grauem Bettgestell und ebenso grauen Tisch. Jegliche Farbe fehlte und das bunte Wassereis tanzte vor meinen Augen, wie eine Halluzination. Eine wunderschöne, dämonische Halluzination – doch sie schnürte mir die Kehle zu, ließ mich nach Luft ringen und mit meinen Fingernägeln gegen die Tür scharren. Alles schien zu spät für mich. Ich saß zusammengekauert in einer Ecke und redete mit niemanden. Ärzte kamen und gingen, doch ich war gefangen in meiner Sehnsucht nach Wassereis. Eines Tages keimte in mir ein kleiner Gedanke. Und dieser Gedanke wurde durch meine Verzweiflung genährt, wurde größer und größer, bis ich schließlich eine Entscheidung traf, die alles veränderte.
Der Morgen graute und in der Entzugsklinik schliefen noch alle. Mit einer Haarnadel knackte ich das Schloss meiner Zimmertüre. Sie öffnete sich mit einem leisen Knarren und ich schlüpfte hinaus. Der Wind zerrte an meinem dünnen Schlafanzug, als ich durch die Straßen ging. Nur ein Ziel vor Augen. Das Alles zu beenden!
Nun kommen wir zu dem Punkt, als ich auf dem Gebäude stand und auf sie Straße starrte, auf denen die Autos brausten und mich mit aller Kraft ignorierten. Ich breitete meine Arme aus, starrte in den Himmel, starrte in die grauen Wolken, die viel zu schnell an mir vorüber zogen. An diesem Morgen sang kein Vogel und keine Blume duftete. Es stank nach Abgasen und Mülleimerdunst. Ein letztes Mal, dachte ich an das Wunderbare, vor Kälte dampfende Wassereis. Es schwebte so plastisch vor mir, als wäre es wirklich da. Doch ich griff nicht mehr danach. Stattdessen ließ ich mich fallen. Es war ganz leicht. Ich durchstieß die Illusion mit meinem Körper, spürte den Wind, der meine Haare nach hinten riss und fiel. Ich fiel und fiel und dann hatte ich es geschafft. Ich vergaß das Wassereis und gab mich einer neuen Sucht hin. Die Sucht von niederen und mittel hohen Objekten zu springen.