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Die Suche
Rote Ampel.
42 Minuten zu spät ...
„Yoga“ steht auf dem gefalteten Flyer, den ich in der Hand halte.
Kann das auch mein Weg zum Glück sein, frage ich mich und schaue auf den Hochglanzprospekt. Glücklich sehen sie aus, die Menschen auf dem Foto unter der Überschrift. Doch hat das Mädchen, das die Flyer verteilte, glücklich ausgesehen?
Ich erinnere mich an ihre traurigen Augen.
Und wie steht es mit mir? Bin ich glücklich?
Entspannt bin ich auf jeden Fall nicht. Mein Herz schlägt, wie so oft, viel zu schnell. Heute sind es die zweiundvierzig Minuten, die es nicht zur Ruhe kommen lassen. Was ist es eigentlich die anderen Tage?
„Du sehnst dich nach Glück?“, ertönt es in meinem Kopf.
Da ist er wieder, der Denker in mir. Er ist hartnäckig, macht alles noch schlimmer. Der schnelle Herzschlag und Hektik nähren ihn.
Mein Dämon scheint amüsiert: „Du rennst eh an deinem Glück vorbei, trittst es eher mit Füßen.“
Ich stehe in der Schlange der Menschen, die wie ich darauf warten, dass das Signal umspringt. Mein Blick wandert umher. Einige Leute schauen stur geradeaus, so unter Stress, dass ihre angespannten Beinmuskeln sich unter der Hose abzeichnen. Werden sie gleich losrennen? Lässt sich Glück eigentlich einholen, wenn man ihm hinterher sprintet?
Und die Anderen? Bei ihnen wechseln die Blicke zwischen Handydisplay und Ampelanlage, konzentriert mit verbissener Miene. Die Ausnahme macht ein Junge mit Basecap auf dem Kopf. Auch er sieht auf den Bildschirm in seiner Hand, doch er lächelt.
Ist er verliebt? Ist es eine Nachricht seiner Freundin, die ihn die Welt mit glücklichen Augen sehen lässt?
Die Sonne blinzelt zwischen zwei Häusern hervor, lässt den Straßendreck glitzern wie Goldstaub. Und da ist das leuchtende Grün eines Grashalms, der sich an der Bürgersteigkante mühsam durch ein Loch im Asphalt nach oben gekämpft hat.
Der Junge, die Sonne – ich lächle, verspüre Entspannung.
Die Ampelanlage für den Autoverkehr springt auf Gelb. Mein Herzschlag beschleunigt wieder, ruft den Denker erneut auf den Plan.
„Sieh zu, dass du dich beeilst. Oder willst du dich noch mehr verspäten?“
Immer von oben herab – stets mit erhobenem Zeigefinger. „... und der Zettel, schmeiß ihn endlich weg!“
Ich denke nicht dran, denke stattdessen an den letzten Urlaub. Schneebedeckte Berge, Wald, sattes Grün ...
„Träumer!“
Schnell verzieht sich mein quälender Geist wieder in den Hintergrund, wetzt seine Krallen für den nächsten Angriff.
Ein elegant gekleideter Yuppie steht vor mir. Er trägt einen dunkelgrauen Anzug, hält einen schwarzen Aktenkoffer. Schon vom Aussehen her passt er in das palastähnliche Bankgebäude, das auf der anderen Straßenseite steht. Die Welt der Leute dort – Zahlen, Analysen, Geld jagen!
Macht ihn das glücklich, oder könnte er sich ebenso gut mit nichts anderem wie dem strahlenden Vormittag zufriedengeben?
Doch auch wenn er das Strahlen der Sonne mitnehmen könnte – das Gebäude selber bliebe grau. Grau wie der Laternenmast, der bleifarben auf dem Mittelstreifen steht und auf dessen gebogenem Ende, hoch über der Fahrbahn, ein Rabe hockt.
Ich schweife zum Urlaub zurück. Mir ist, als rieche ich den Duft der Wiesen mit ihren Kräutern, fühle wie der Wind meine Haare zerzaust, als er von den Steilhängen talwärts rollt. Brauche ich wirklich Yoga? Macht mich das Sitzen inmitten einer wogenden Grasfläche nicht glücklicher?
Die Ampel springt auf Grün.
Ich mache den ersten Schritt, hebe das Bein. Exakt wie die Sonne, die täglich ihren Bogen am Himmel zeichnet und versinkt, neigt sich auch mein Fuß wieder der Erde entgegen – der Untergang für den Halm, der aus dem Asphalt ragt.
Kein Todesschrei hallt durch die Luft, nur etwas grüner Saft, sein Blut, drückt sich als nasser Fleck auf die Oberfläche der Straße.
Ich bemerke es nicht, bin in Gedanken weiter auf der Wiese. Gerne würde ich die Schuhe ausziehen, das Kitzeln der Halme an meinen Fußsohlen spüren, doch stattdessen betrete ich eine betonierte Verkehrsinsel, auf der ich erneut warten muss. Nochmals schaue ich auf den Flyer. Vielleicht sollte ich einfach Leben, statt so viel zu Denken!
„... oder nicht so blind sein!“, meldet sich mein innerer Dämon.
Ich habe genug, mein Blick geht nach oben. Klare Sicht, nicht der Hauch einer Wolke – nur hellblauer Himmel und ein tiefschwarzer Rabe.
Er pickt nach Etwas.
Erneut springt das Signal um, wieder setze ich mich mit den Menschentieren in Bewegung – träumerisch.
Der Rabe! Er ist frei! Ebenso wie ein bunter Schmetterling, der auf einem Halm inmitten einer grünen Wiese sitzt. Bedeutet Glück, einfach wegfliegen zu können?
Ich bemerke die feinen Partikel in der Luft nicht, laufe durch sie hindurch. Der Schmetterling in meinen Gedanken klappt seine Flügel auf und zu – im Gegensatz zu dem, der vor mir zu Boden taumelt, weil ein Rabe nach ihm geschnappt hat.
Nie wieder wird er auf einem Halm sitzen. Ohne seine Schuppen, die als pudriger Staub vom Himmel regnen, wird er sich nicht mehr in die Luft erheben können.
Nicht der einzige Schatten, der sich auf ihn herabsenkt – da ist noch die Schuhsohle, durch die er sterben wird.
Ich beachte die Menschen mit ihren starren Mienen nicht. Ich lächle, habe dieses Bild im Kopf und es macht mich glücklich. Es ist keine Yoga-Position – es ist das Bild eines Schmetterlings auf einem grünen Halm.
Warum ist es so schwer, frage ich mich. Ich nehme mir vor, Urlaub zu beantragen, sobald ich auf der Arbeit bin. Ich will dorthin – auf diese Wiese! Nicht umsonst heißt es doch, dass das Glück oft in den kleinen Dingen liegt. Man muss nur die Augen offen halten.
Nichts kann diesen Gedanken trüben. Nicht die Tatsache, dass ich mich verspätet habe und auch nicht das knirschende Geräusch eines zerberstenden Chitinpanzers unter meiner Sohle.
Längst ist die Fußgängerampel wieder auf Rot. Ein Auto bremst, weil ich zu langsam bin. Fluchend reckt der Fahrer seine Faust heraus.
Lächelnd reiche ich ihm den Flyer durch das Seitenfenster.
„Entspann dich“, sage ich zu ihm, „und genieße das Leben!“