Die Suche
„Wir landen in wenigen Minuten in Rio de Janeiro. Schnallen sie sich bitte an“, knackte der Lautsprecher über Johann. Nun war er seinem Traum so nahe! Bald würde er den Sumpfdotterling finden und seiner Karriere als wohl bedeutendster Naturforscher der heutigen Zeit würde nichts mehr im Wege stehen.
Zweifel hatte Johann nicht. Er hatte sein Haus verkauft, im Büro gekündigt und den ersten Flieger nach Brasilien genommen. Er war bereit, sein altes Leben aufzugeben, um ein neues anzutreten. Und dieses Leben begann mit der Erfüllung eines lang gehegten Wunsches: Endlich ein bisher unbekanntes Tier entdecken.
Dass bisher außer ihm noch nie etwas von einem Sumpfdotterling gehört hatte, störte Johann nicht im Geringsten.
„Natürlich kennt ihn keiner“, sagte er seiner Mutter, „deswegen ist er ja auch unbekannt. Aber im Amazonasgebiet wartet er darauf, entdeckt zu werden.“
„Und was machst du dann?“ hatte seine Mutter gefragt.
„Das weiß ich noch nicht“, hatte Johann kleinlaut zugeben müssen. Aber es würde noch genug Zeit bleiben, um darüber nachzudenken. Erst einmal würde er den Sumpfdotterling finden.
Johann stieg aus dem Flugzeug und begann sofort zu schwitzen. Er hatte nicht daran gedacht, dass er zur heißesten Jahreszeit in Brasilien ankam.
„Na ja, dafür ist wenigstens keine Regenzeit“, sagte er sich nur und suchte den nächsten Taxistand auf. Doch nun begannen schon Johanns erste Probleme. Er hatte zwar immer gewusst, dass er am Amazonas nach dem Sumpfdotterling suchen müsste, aber er hatte sich nie Gedanken gemacht, wie er denn genau dahin kommt. Außerdem sprach er kein Wort portugiesisch. Nur ein bisschen si und no. Der Mann am Taxistand redete auf Johann ein, doch der verstand kein Wort. Er versuchte es mit englisch.
„Äh, excuse me, I want to go to the Amazonas.” Der Brasilianer schaute ihn einen Moment verdutzt an und hielt inne. Doch dann drang schon ein neuer Wortschwall auf Johann ein.
„Kann ich Ihnen helfen?“ fragte in diesem Moment eine Stimme von hinten. Johann drehte sich um. Die Stimme gehörte einer jungen Frau, offensichtlich eine Deutsche. Sie trug einen blauen Blazer, an ihrer Brust hatte sie ein TUI-Namensschild. Es zeigte den Namen Heike Sommerfeldt.
„Ja. Ich möchte zum Amazonas“, begann Johann zögerlich.
„Da sind Sie aber ganz falsch“, antwortete Frau Sommerfeldt, „da hätten Sie besser nach Belém oder Manaus fliegen sollen. Das liegt viel weiter im Norden.“
„Oh. Das liegt wohl daran, dass ich den erstbesten Flieger genommen habe, ohne zu gucken, welcher überhaupt zum Amazonas geht. Jetzt habe ich kaum noch Geld und kann mir den Flug wohl nicht mehr leisten.“ Jetzt saß Johann ganz schön in der Klemme. Warum hatte er seine Forschungsexpedition nicht länger geplant?
„Das ist natürlich eine schöne Bescherung“, meinte Frau Sommerfeldt, „Kommen Sie erst mal mit, wir gehen einen Kaffee trinken. Dann werden wir sehen, was wir für Sie tun können.“
Da konnte Johann nicht nein sagen. Nach einer halben Stunde saßen Sie in einem kleinen Café in Rio. Johann wusste immer noch nicht, was er machen sollte. Doch er hatte das Gefühl, dem Sumpfdotterling ganz weit entfernt zu sein.
„Was führt Sie eigentlich dazu, nach Brasilien zu reisen, wenn ich fragen darf. Sie scheinen hier etwas verloren.“ Mit dieser Frage hatte Johann gerechnet und er nahm es der Dame noch nicht mal übel. Er machte wohl wirklich einen komischen Eindruck.
Doch er erzählte ihr die ganze Geschichte, wie er als Kind den Traum hatte, ein unbekanntes Tier zu entdecken und wie er nicht mehr davon los gekommen war.
„Diese Suche hat meinem Leben einen Sinn gegeben. Ich wollte nicht einfach nur ein Mensch sein, der in einer Bank arbeitet und am Wochenende ab und zu tanzen geht. Ich wollte etwas aus meinem Leben machen.“
„Und was bitte ist ein Sumpfdotterling?“ fragte seine Gesprächspartnerin, „Von so was habe ich noch nie gehört.“
„Können Sie ja auch nicht. Er wurde noch nicht entdeckt. Aber er streunt irgendwo durchs Amazonasgebiet und wartet auf mich.“
„Dann haben Sie also keine Beweise für seine Existenz?“ wunderte sich Frau Sommerfeldt.
„Nein. Die brauche ich nicht.“
„Warum suchen Sie dann? Sie werden sehr enttäuscht sein, wenn Sie herausfinden, dass Ihr Sumpfdotterling nicht existiert.“
Das versetzte Johann einen Schlag. Den Fall, dass er scheitern könnte, hatte er noch nie durchdacht. Aber was sie sagte, wahr zweifellos richtig. Es war komisch. Obwohl Johann sich bisher stets sicher gewesen war, dass nichts seinem Ziel im Wege stehen würde, war seine Motivation mit einem Mal auf ein Minimum gesunken.
Machte es jetzt noch Sinn zu suchen? Würde nicht unweigerlich der Moment kommen, wo Johann seine Suche bereuen würde?