Die Suche nach der Zeit
Warum kann ich nur nicht einschlafen? Habe ich Durst? Oder ist es nur die Aufregung vor meinem 18. Geburtstag, die mir den Durst vorgaukelt? Nein, mein Mund ist trocken. Schnell nochmal in die Küche um etwas zu trinken. Ich muss einschlafen, sonst sehe ich morgen in der Schule aus wie eine Leiche...
Huch! Ach... Es ist nur mein Spiegelbild... Mein Gott, bin ich alt geworden. Morgen ist schon mein 18. Geburtstag. Mir kommt es vor, als wäre es erst gestern gewesen: Ich wurde eingeschult mit einer Schultüte, die fast größer war als ich selbst. Als ich fast jeden Nachmittag mit meinen Freunden im Poststadion kicken war und immer versucht habe die neuesten Tricks meiner Vorbilder aus den großen Clubs aus aller Welt nachzueifern. Rechts angetäuscht, links angetäuscht, Schuss, Tor! Oder damals, als ich mit meinen Eltern am Wochenende an der Spree spazieren ging und mich halb zu Tode gelacht habe, als mein kleiner Bruder halb stolpert, halb rennt, den Enten hinterherjagend, vornüber stolpert und mit der Nase auf dem Gras landete. Als ich jeden Tag mit aufgeschürften oder grasverschmierten Knien nach Hause kam und meine Mutter, halb kreischen, halb schreiend, aber trotzdem mir klarzumachend, dass es doch nicht schlimm sei, meckerte. Ihr Gesichtsausdruck war zu einem Teil böse, weil mal wieder die neue Hose ruiniert war, zu einem Teil besorgt, da meine Kniee fast genauso rampuniert aussahen wie die Hose und zu einem Teil halb belustigt, dass ihr Sohn, jedes Mal wenn er zurückkam vom Spielplatz in der Waldstraße, es geschafft hatte, wie so unzählige Male davor, auf seine Kleidung zu achten.
Oder, als mir jede Information, die ich auf der James Krüss bekam, als die wichtigste auf der Welt erschien. Als mir noch jedes neu Erlernte, wie etwas erfrischendes, wichtiges und einem Schritt zum Erwachsenwerden vorkam.
Oder, als ich jeden Herbst und jeden Frühling vollkommen begeistert über die Turmstraße während des Straßenfests lief, um den neuesten Ramsch mitzubekommen und immer die selben Fahraktivitäten bestieg, welche mir trotzdem immer wieder Spaß machten, jedes Mal aufs Neue. Oder, als ich nach der Schule durch die Birkenstraße, rechts in die Bredowstraße und dann links in die Wiclefstraße geflitzt bin, um bloß nicht den Anfang von Pokemon oder Dragonball zu verpassen.
Ach, wo ist diese Zeit? Wo ist nur meine Kindheit geblieben!? Es kommt mir vor wie ein Wimpernschlag oder ein Fingerschnippsen zwischen meinem 10. und 18. Geburtstag. Wer hat mir die Zeit und die damit verbundene Kindheit gestohlen? Wer ist schuld?
Sind es die Medien? Das ständige sitzen vor dem Fernseher, das Chatten am PC, sowie es mir meine Mutter immer predigt, wenn ich dem verfalle? Wie mein Vater mir immer vorwurfsvoll sagt, durch den Fernseher und durch das Internet, bleibe mir kaum Zeit für das wahre Leben. Sind die Medien es nicht gewesen, durch ihre Profitgeilheit und die Chance uns mit Werbung zu bombardieren, die hungrig meine Zeit verschlingen, unersättich, zur Sucht der unnötigen Information verleitend? Aber andererseits muss ich lediglich einen Knopf drücken und schon gibt die Kiste ruh. Also ist die Macht in meiner Hand um die Beeinflussung durch sie zu verhindern...
Doch wer könnte es sonst sein? Vielleicht Albert Einstein? Dadurch, dass er uns auf die Relativität aufmerksam gemacht hat, ist uns die Kunst, den Moment zu genießen, entrissen worden. Dadurch, dass die Relativität ohnehin schon existiert, aber durch Albert Eisntein in die Köpfe gepflanzt wurde, kommen einem die schönen Momente, aus Angst, dass sie schnell vorüberziehen könnten, noch schneller vor, als sie eh schon sind. Wobei, eigentlich meine Kindheit, zwar aus sehr vielen schönen, aber nicht nur schönen Momenten bestand. Außerdem kannte ich ja überhaupt noch nicht Albert Einsteins Theorie vor der 10. Klasse und dennoch raste die Zeit.
Liegt es vielleicht am unaufhaltbar schnellen Fortschritt der Menschheit? Ich denke nicht, dass meine Urgroßeltern de Zeit als so schnell wahrgenommen, wie ich, im frisch angebrochenen 21. Jahrhundert. Keine Autos, keine Flugzeuge, kein Internet, kein Telefon. Eine Information über hunderte von Kilometern zu transportieren, dauerte nicht nur einige Augenblicke bzw. Millisekunden, sondern mehrere Tage. Die Leute hatten einen ruhigeren Zeitgeist, da sie nicht von einem Termin zum Nächsten, von einem Land zum Nächsten mussten oder der Grundsatz nur bedingt galt, dass Zeit Geld sei. Schnelligkeit und Eile waren noch ganz anders definiert. Wenn man heutzutage nur 2 Minuten zu spät ist, reagieren uns höher Gestellte so, als ob wir uns selbst und ihnen erheblich kostbare Lebenszeit gestohlen hätten. Aber auf der anderen Seite ist der Fortschritt etwas, der uns ja auch Vorteile bringt. Ohne den Fortschritt hätte ich nicht so schnell, so viele Länder oder allein nur meine Großeltern besuchen können.
Liegt es vielleicht am Zwang erwachsen zu werden, welcher durch Schule, Eltern und Umfeld ausgeübt wurde? In der Schule wurde ich immer zu Disziplin, mehr Reife und Benehmen aufgefordert bzw. gemaßregelt. Meine Eltern fingen schon damals bei meiner Einschulung an mir einzureden, ich solle bloß immer lernen, fleißig sein und nicht mit den Mitschülern herumalbern, damit ich später einen gute Karriere hinlege.
Mein Umfeld? Mein damaliger Freundeskreis? Dieser Freundeskreis, welcher mich schon im zarten Teenageralter zum Rauchen und Trinken, wilden Partys und Rebellion überredet hat, sodass meine letzten Jahre mehr danach aussahen, wie das eines entgleisten Halberwachsenen, der sich nichts mehr sagen ließ und auf sich beharrte. Gegen Einsicht und Belehrung wehrte ich mich mit Körper und Geist. Alles Kindliche versuchte ich durch einen innerlichen und zugleich äußerlichen Zwang von mir abzuschütteln. Ich löste mich von meinen Freunden vom Fußballplatz und ‚chillte‘ lieber im Park mit zwiespältigen Personen, statt Spaß zu haben oder der Schule nachzugehen. Dennoch ist die Beeinflussung der Freunde für mich vergleichbar mit der Beeinflussung durch die Medien und tauchte desweiteren auch erst zur gleichen Zeit auf wie die Theorie vom Albert. Der Schule und den Eltern kann ich ja keine Vorfwürfe machen, da sie ja nur mein Bestes wollen und meine kindliche Phantasie und meinen Spieltrieb ja nicht unterdrückten.
Wer ist denn nun Schuld? Was ist mächtig genug sowas wertvolles wie die Zeit eines Kindes zu stehlen? Wer ist ähig zu so einer Tat?
Die Medien sind es nicht, das Umfeld ist es nicht, die Eltern sind es nicht, die Schule ist es nicht, selbst der Fortschritt war es nicht und Albert Einstein erst recht nicht... Wer war es denn dann?!
Wie ein Sprichwort besagt: ‚Bevor du den Fehler bei anderen suchst, fasse dir an die eigene Nase...‘.
Eigentlich ist ja das auch eine der logischsten Schlussfolgerungen, wenn man bedenkt, dass man selbst der Schmied seiner eigenen Zeit ist. Man selbst hat die Kontrolle über sein Leben und über seine Zeit, zumindest im gröberen Maße. Doch hat man selbst keine Kontrolle auf das, was um einem herumströmt und zum mitschwimmen lockt. Nein... Der Großteil kann nur an mir liegen. Ich war es selbst, der so schnell erwachsen werden wollte, der, der sich Ziele, die noch nicht mal auf dem Tagestisch gelegen haben, gesetzt hat, immer mit dem Blick in die Zukunft und damit den Moment verpassend auf etwas hinzustrebte, was noch nicht mal im weitesten Sinne für mich greifbar war, geschweige denn überhaupt Einfluss auf mich nehmen konnte. So muss ich mir das Genießen des Momentes wohl abgewöhnt haben und somit auch des Lebens. Eindrücke zogen an mir vorbei und nahm ich nur verschommen wahr im Rausche der Zukunftsillusion. So habe ich also mein Leben einer Illusion hingegeben, auf die wir möglicherweise im weitesten Sinne keinen Einfluss haben. So habe ich vergessen, verlernt, den Blick auf den Moment zu richten, auf den ich mindestens bedingten Einfluss nehmen kann oder in meinem Fall schon teilweise könnte. So gingen mir Gelegenheiten, Chancen und besondere Augenblicke verloren, für immer...
Alles was für mich jetzt so kostbar an der Vergangheit war, da ich am Sprung zwischen Kindheit und Erwachsensein stehe, scheint mir entglitten und in der Ferne immer kleiner, immer kleiner, immer kleiner, fast nur noch als Schatten seiner selbst. Dadurch, dass ich fast immer erwachsen sein wollte und nur meine Zukunft im Visier hatte, verlor ich den Blick auf das Wesentliche im Leben und teilweise sogar den Spaß. Ich ließ das Erwachsensein nicht auf mich zukommen, sonder versuchte krampfhaft es herbeizuzwingen.
Es war noch zu früh. Es war einfach noch zu früh um erwachsen zu werden. Und jetzt stehe ich so vor dem Spiegel und frage mich wo die Zeit geblieben ist.
Faruk Tuncer & Moussa Hakal