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Die Suche der weißen Frau
Durch einen schmalen Eingang zwängten wir uns eine Treppe hinab ins Souterrain. In dem gewölbeartigen Saal stampfte, in einem mintgrünen Strampler, das wütende Geburtstagskind. Wild gestikulierend und mit hochrotem Kopf beschwerte es sich, dass die Technik nicht funktionierte. Im Vorbeigehen rempelte mich eine Frau mit langen, glänzend schwarzen Haaren und einem struppigen Wolfspelz über den Schultern an. Begleitet wurde sie von einem verhältnismäßig kleinen, dünnen Mann, der als Reh verkleidetet war. Hinter uns stolperten zwei ziemlich kräftige Männer in mittelalterlicher Tracht die Treppe hinunter, als wir dem Geburtstagskind gratulierten. Eher missmutig lotste es uns, mit verschwitztem Gesicht, in ein kleines Separee. Wir fädelten uns durch ein Labyrinth von Sitzecken, deren Tischplatten aus Spiegeln bestanden, um an die Bar zu gelangen. Das Besondere daran war, dass durch die spiegelnden Tische das Kerzenlicht wieder in den Raum zurückgeworfen wurde, was dem Ganzen ein romantisches und zugleich düsteres Flair verlieh. Ein in blau-grüne Tücher gewickelter Mann hinterm Tresen putzte erst sorgfältig seine Brille, bevor er uns einen Aschenbescher rüberschob.
„Ich bin die Quelle des Lebens“, grinste er uns aus seinem türkis-geschminkten Gesicht an.
Wolf und Reh saaßen uns schräg gegenüber. Sie debattierten über Hobbes und sein Naturrecht. Wir stießen schnell mit dem Geburtstagskind an, während sich die Party langsam füllte. Das mittelalterliche Paar gesellte sich nun auch an die Theke, als in diesem Moment vier Männer in schwarzen Gewändern auftauchten. Nachdem sie ihre Steckenpferde an die Wand gelehnt hatten, lümmelten sie sich auf eines der Sofas in der Ecke neben der Tür. Einer der Vier bestellte, über die Köpfe von Wolf und Reh, die erste Runde Bier, wobei er umständlich versuchte, seinen Morgenstern über die Schulter zu hängen. Nebenbei lauschte er dem Gespräch der beiden Tiere. Wären seine Freunde nicht so ungeduldig gewesen, hätte er sich wohl gern in den leidenschaftlichen Austausch über rationale und empirische Erkenntnisphilosophien eingemischt. Augenzwinkernd reichte Die Quelle des Lebens jeder von uns ein Glas Sekt. Er deutete mit einer Kopfbewegung in die Richtung des mittelalterlichen Paares.
„Hier, von Christian und die Holde“, schnaufte er, „So was Komisches. Also, wenn ihr mich fragt, dann sehen die wohl eher aus wie Romeo und Julia!“
Die etwas stämmige Isolde zwinkerte Clara zu. Sie sagte nichts. Wenn sie etwas nicht konnte, dann war es, ihre Gefühlszustände zu verbergen. So war es auch diesmal, als sich die Sommersprossen auf ihrer zarten, schmalen Nase kräuselten. Sie fühlte, sich genauso fehl am Platz wie ich.
Ganz klar ist mir bis heute nicht, warum Clara gerade mich gefragt hatte, als ihre Braut, zu dieser Mottoparty zu gehen. Wo sie doch weiß, dass ich so etwas nicht ausstehen kann.
Nebenan hub nun endlich, die vom Gastgeber lang ersehnte Musik an. Wir versuchten, uns über das lautstarke Gespräch der vier merkwürdigen Reiter hinweg zu unterhalten, was in Kombination mit der dröhnenden Musik kaum möglich erschien. Sie tranken ziemlich schnell. Das steckte irgendwie an. Ich war, innerhalb dieser kurzen Zeit, nun schon bei meinem dritten Glas Sekt. Wie vom Blitz getroffen, fuhr einer der ominösen Reiter auf. Er erzählte von einem Spiel, das er immer auf den Klassenfahrten gespielt hätte. Mein Bräutigam besorgte uns jeweils noch ein weiteres Glas, während ich versuchte, den Ausführungen des wichtigen Reiters, unauffällig zu folgen. Das Spiel, welches er beschrieb, nannte er Die weiße Frau. Es hatte damals wohl als eine Art Mutprobe gegolten. Dabei ginge es darum, dass man sich mit einer Kerze vor einen Spiegel stelle und eine bestimmte Formel aufsage, wonach dann Die weiße Frau im Spiegelbild erscheinen solle. Langsam wurde ich entspannter. Ich begann, mich sogar ein wenig zu amüsieren. Die Hungersnot hatte für den Nebentisch noch schnell eine Runde Bier geholt.
„Das ist gut, das machen wir!“, rief Der Krieg leicht schwankend aus.
Clara fing an, sich zu langweilen. Weil sich nebenan die Tanzfläche füllte, schlängelten wir uns an den spiegeltischflüsternden Reitern vorbei zu den Tänzern.
Der Raum war, trotz vieler Scheinwerfer, nur spärlich beleuchtet. Der DJ wechselte. Worauf der Neue seine Schlagerplatte auflegte. Ich sah mich nur kurz um. Doch da war es geschehen. Ich hatte meinen Bräutigam verloren, weshalb ich beschloss, in die Bar zurückzugehen, um dort auf sie zu warten. Als ich den Raum betrat, saßen Tristan, Isolde, Wolf und Reh bei den apokalyptischen Reitern und wisperten in den Spiegel auf der Suche nach Der weißen Frau. Dies dehnte sich über die anderen Tische aus. Der Raum war mit flüsternden Wesen aus griechischer und römischer Mythologie gefüllt, die über die Spiegeltische glotzten und hofften die weiße Frau zu sehen. Selbst Die Quelle des Lebens holte ich aus seiner Trance, als ich noch ein Glas Sekt bestellte. Meine Stimme war, entgegen meiner Erwartung, unglaublich laut. Die Brille zurückschiebend, starrte er mich mit offenem Mund an, während er das Glas füllte. Einzig Der Tod bemerkte mich. Sein trüber Blick, der aus seinem apathischen Gesicht kroch, wurde mit einem Mal eisig klar und traf mich wie ein Pfeil.
„Krass, das funktioniert ja wirklich!“, sagte er.
Ich schnappte nach Luft, griff mein Glas und machte mich auf die Suche nach Clara.
Hier drinnen war die Party in vollem Gang, derweil es draußen zu rieseln anfing. Der Zigarettenrauch brannte in meinen Augen. Das Kleid war total verdreckt. Ich begann, mich nicht mehr wohl zu fühlen. Lauter in Masken und Gewänder verhüllte Gestalten wippten mehr oder weniger im Takt, wobei die schlaffen Gesichtszüge zum Rhythmus ihrer Bewegungen hin und her schlackerten. Verloren wandelte ich durch die Katakomben, eine staubige Steintreppe hinauf, wo vereinzelte Grüppchen in kleine Spiegel murmelten. Mit heiserer Stimme rief ich nach Clara, was durch die Mauern wieder zu mir zurück hallte. Gekrümmt saßen Tristan und Isolde in einer Ecke und gafften mich entgeistert an. In der obersten Etage schaute ich aus einem Fenster. Außer ein paar Fußabdrücken im weichen Neuschnee war nichts zu sehen.
Jetzt kann ich nicht mehr sagen, warum wir ausgerechnet als Brautpaar zu dem Motto Liebe, Leid und Leben gehen mussten. Dafür hatte sich Clara von ihrem schlaksigen und verwitweten Opa, einen Anzug mit Zylinder geliehen. Er war etwas groß für sie, aber ich hätte, schon allein, aus dem Hemdkragen nicht herausgucken können. Deshalb gab sie mir das alte, schneeweiße Hochzeitskleid. Es war ein über Generationen vererbtes Stück, welches bereits für Claras nächsten Lebensabschnitt in ihrem Schrank hing. Heute würde ich es nicht mehr annehmen.
Aus dem leisen Rieseln entwickelte sich allmählich ein Schneegestöber. Der Bund des Kleides hatte sich an einigen Stellen gelöst. Wie sollte ich das nur meinem Bräutigam erklären? Das Kribbeln unter meinen Füßen ließ mich vermuten, dass ich über dem Tanzsaal war. Wie viel Zeit wohl schon vergangen sein mochte? Ich befürchtete, mich zu verlaufen, weshalb ich wieder zurückging. Auf dem Weg hinab, kämpfte ich gegen eine schier unüberwindbare Nebelwand aus Rauchschwaden an. Meine Augen gewöhnten sich nur langsam an die Dunkelheit. Schemenhaft konnte ich erkennen, dass sich Die apokalyptischen Reiter auch auf die Tanzfläche begeben hatten. Sie hüpften mit ihren Steckenpferden zu Live is Live durch das Gewimmel. Die Quelle des Lebens schwankte mit beschlagenen Brillengläsern an mir vorbei und drückte mir noch ein Glas Sekt in die Hand. Für einen besseren Überblick, stellte ich mich auf eine Art Podest. In genau diesem Moment versagte die Technik. Das Einzige, was die dunstige Stille zerbrach, war die fluchende Fistelstimme des Geburtstagsbabys. Nach einer gefühlten Ewigkeit setzte ohrenbetäubende Drum and Bass ein. Als das Licht wieder anging, färbte sich mein Kleid blau. Meine Augen tränten im Rauch. Geblendet hielt ich mir die Hand vors Gesicht. Nur vage konnte ich den Tod erkennen, der dem Krieg etwas ins Ohr flüsterte und mit dem Finger auf mich zeigte. Schlagartig überkam mich eine Übelkeit. Bei dem Versuch, mich durch die Tanzwütigen nach draußen zu drängen, zerriss mir das Kleid endgültig. Die Schneeflocken schimmerten im Laternenlicht, die immer heftiger auf meine nackten Schultern hinabfielen.
Durstig sog ich die klare Luft, wie ein frisches Glas Wasser auf unerträglichen Durst, ein.
„Die Quelle des Lebens“, dachte ich und musste laut lachen.
Plötzlich stand Der Tod neben mir. All meinen Mut zusammennehmend fragte ich ihn, ob er meinen Bräutigam gesehen hätte.
„Klar, ich habe vorhin mit ihm getanzt“, hauchte er.
Überfordert von der unwirklichen Wirklichkeit packte ich ihn am Kragen und schrie ihn an:
„Wo ist sie? Was hast du mit ihr gemacht?“
Neugierig gesellte sich Der Krieg dazu. Er fragte, was denn los wäre. Ich konnte nicht mehr und begann zu weinen, während der Wind versuchte mir den letzten Fetzen des Kleides, vom Körper zu ziehen. Ich fror, war müde und wollte doch bloß zu Clara.
„Jetzt entspann dich mal“, knirschte er mit angespanntem Kiefer, als Der Tod versuchte mir seinen Mantel umzulegen. In diesem Augenblick bog Clara um die Ecke.
„Da bist du ja. Ich habe dich überall gesucht!“
Völlig verzweifelt fiel ich ihr um den Hals. Sie lächelte mich amüsiert an. Erst jetzt wurde mir mein desolater Zustand bewusst. Tod und Krieg ließen wir, mit etwas bedröppelten Gesichtern, im Schnee zurück. Wir holten unsere Sachen und verabschiedeten uns beim Riesenbaby.
Mühselig stapfte ich durch den Schnee, wobei mich Clara scheuchte, ich solle mich doch beeilen. Der letzte Bus, der uns nach Hause gebracht hätte, fuhr gerade an uns vorbei. In der sich vom Straßenlaternenlicht spiegelnden Heckscheibe zeichnete sich eine nebelartige Erscheinung ab. Da war sie. Die weiße Frau. Ich schüttelte den Kopf. Erschöpft waberte ich stumm neben Clara her, die im richtigen Augenblick den Daumen raushielt. Sie war wütend mit mir und machte, wie immer, keine Anstalten, dies zu verbergen.
Angesichts meines Zustandes, konnte ich mich damals nicht damit auseinandersetzen, dass ich ihr kostbares Erbstück zerstört hatte.
Aus dem Anhalterauto grinste uns, mit lässig über die Lehne gehängtem Arm, Die Pest entgegen.
Als wir losschlidderten, hickste ich: „Übrigens, das ist Die heilige Maria“.
„Wie?“, latschte die Pest kaugummikauend.
„Man sieht in den Spiegel und sagt zehnmal heilige Maria“
„Ist ja bescheuert“, räusperte er sich, „So was Krankes hab ich ja noch nie gehört. Das könnt ich nicht“
Für den Rest der Fahrt sagte ich lieber nichts mehr.
Wir verabschiedeten uns, bei nur noch vereinzelten Flöckchen. Erst als ich die Tür aufschloss, hatte es aufgehört zu schneien. Mein Hund begrüßte mich freudig, wie immer. Ich streichelte ihm über den Kopf. Meinem Freund gab ich noch einen Gute-Nacht-Kuss. Er fragte mich, wie es denn gewesen sei. Doch ich schlief sofort ein.
Seitdem habe ich nie wieder etwas von Clara gehört.