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Die Subkultur
Ich hatte mal ein Tütchen mit Urzeitkrebsen aus einem Comicheft für Kinder. Die Eier habe ich in ein kleines Aquarium geschüttet und gut umgerührt. Wenige Tage später waren vier kleine Krabbelwesen geschlüpft, die ich alsdann mit einiger Neugier über den Beckenrand hinweg beobachtete.
Schon bald hatte sich unter dem Völkchen eine Aufteilung auf die vier Ecken ergeben. Der erste Krebs verkroch sich in ein ausgehöhltes Wurzelholz. Der Zweite machte es sich unter einem Stein bequem. Der Dritte richtete sich unter einer langblättrigen Wasserpflanze ein. Der Vierte residierte zwischen zwei in den körnigen Sandboden gerammten Tonscherben. Ich wollte ihnen nette Namen geben, aber es fiel mir nichts gescheites ein – zu gleich waren sie einander.
Wie ich eines Tages von oben in das Becken spähte, sammelten sich unten die Bewohner in Erwartung jener Portion Trockenfutter, die ich allabendlich auf die Wasseroberfläche zu bröckeln pflegte.
Der Erste sprach zu den anderen: “Seht, dort oben, das ist unser Schöpfer. Ihm verdanken wir unsere Existenz, er gibt uns täglich Futter, sodass wir es hier unten gut haben. Wir wollen ihn loben und verehren. Er soll den Namen ‘Er ist Der Er ist Dort’ tragen.”
“Das ist würdig, mir aber nicht recht…” sprach der Zweite und erklärte seinen Einwand: “Einmal hat er uns nicht gefüttert und das ist einzig darauf zurückzuführen, dass ihr ihm nicht zur Genüge huldigt. Ich trage ihm jeden Tag einen Fetzen Alge oder einen schönen Kiesel in die Mitte des Beckens um ihn milde zu stimmen. Wir wollen ihn den ‘gestrengen Allmächtigen’ nennen.”
“Sachte, meine Freunde, sein Wesen ist gütig und gnädig. Er gab uns das Wasser, das wir zum atmen brauchen. Er wird uns lieben, solange wir nur jeden Tag einen Kreistanz der Freude für ihn aufführen – Sein Name sei “Der feine Herr über uns” und jetzt kommt und reiht euch ein!“ rief der Dritte und ließ kleine Staubwolken unter seinen Tanzschritten emporwirbeln, wie ich mit einiger Verwunderung durch die sich kräuselnde Wasseroberfläche zur Kenntnis nahm.
Der Vierte schwieg lange und brachte dann verhalten vor: "Was wissen wir schon über ihn, er wird es schon gut mit uns meinen, sonst würde er sich doch wohl nicht um uns kümmern. Ich möchte ihn einfach "den da oben” nennen und vertraue darauf, dass er uns nicht im Stich lässt.“
Mit diesen Worten zog er den Unmut der anderen auf sich, die ihn sogleich mit ihren Scheren fixierten und ihm unter großem Zorn für seine lasterhafte Rede ein Bein abtrennten, woraufhin sich alle Viere mit energischen Schwanzschlägen in ihre Ecken verkrochen.
Tags darauf kam der Erste beschwingt aus seiner Wurzel gekraxelt. "Er ist mir im Traum erschienen! Er sprach zu mir: du bist zu allererst aus deinem Ei geschlüpft. Du bist der unter meinen warmen Gedanken Ausgebrütete! Du sollst die anderen im Glanze meiner Herrlichkeit vereinen!”
“Firlefanz” entfuhr es dem Zweiten, der seine Fühler aus einer Gesteinspalte spitzen ließ. “Ich vernahm seine Worte nächtens aus dem inneren des Steins. "Führe sie mit scharfer Schere und sorge nur dafür dass meinem Namen Ehre wiederfährt”, donnerte er mich an.“ Inzwischen auf den Gipfel seines Steinbrockens geklettert rief er aus: "Dies ist das oberste Gebot, wer es verletzt, den trifft sein unbändiger Zorn!”
“Das alles möchte ich euch gerne glauben, aber hört wie mir der feine Herr erschien: meine schöne Alge ward diese Nacht in gleissendes Magnesium getaucht, und daraus flackerte sein strahlendes Antlitz hervor. "Ihr habt mich sehr erquicket, mit eurem kecken Tanz”, sprach er, “doch gebt nur gut acht auf eure Beinarbeit, denn ich bin nicht leicht zu erheitern, also strebt nach Perfektion und tanzet fleißig sieben mal am Tage und dreimal in der Nacht!” Und nun kommt, Freunde, tut es mir gleich…“ tönte der Dritte und seine beschwingten Pirouetten schleuderten braune Wolken aus feinem Sediment durchs Wasser.
Der Vierte indes schwieg beharrlich und weil er also offenbar kein Wunder der höheren Macht empfangen hatte, waren die anderen drei sich schnell einig, ihn mit ihren Scheren zu fixieren und wiederum sahen sie sich auserkoren den Ruf ihrer Ikone zu schützen, indem sie dem Frevler unter angestrengten Zorneslauten ein weiteres Bein entrissen. Empört über die Verbohrtheit der anderen zogen sich alle in ihr Revier zurück und warteten auf weitere Zeichen von oben.
Als ich am Abend ein abgetrenntes Urzeit-Bein durchs trübe Wasser schweben sah, dachte ich, mein kleines Völkchen wäre erkrankt und träufelte sogleich eine Pipette voll Nährstofflösung in den Lebensraum. In öligen Schlieren schwebte ein Dutzend dunkler Tröpfchen dem Grund entgegen. Da kam Leben ins Becken und unten sammelte sich das Meervolk um dem Spektakel beizuwohnen. "Wahrhaftig, dies ist das Wunder, das mir verkündet wurde!” entfuhr es dem Ersten “nun brechen goldene Zeiten an, denn alles was von diesen Tropfen benetzt wird, wird mit dem ewigen Leben beschenkt!”
“Von wegen” fiel der Zweite ein “das ist der Untergang für alle die nicht Willens sind, sich ihm zu unterwerfen. Er wird das Wasser schwärzen bis wir kein Tageslicht mehr sehen. In ewige Dunkelheit wird er uns hüllen, wenn wir ihm nicht gleich ein Opfer bringen!”
“Nur keine Furcht” mischte sich der Dritte ein “das ist nur mein Regentanz, der Wirkung gezeigt hat. Jetzt wird alles gedeihen und in satten Farben aufblühen. Wir werden in einem paradiesischen Riff leben und jeden Tag Kaviar essen.”
“Seid ihr noch bei Trost?” seufzte der Vierte “Ein Regentanz… Im Aquarium?! Ewiges Leben in Dunkelheit und Kaviarverköstigung?!” Er hatte sich auf seinen verbliebenen Beinen ins Zentrum geschleppt und kostete von den inzwischen weitgehend aufgelösten Tropfen. “Das sind feinste Nährstoffe, das schmeckt doch jede Kaulquappe. Er da oben meint es eben gut mit uns. Sperrt die Kiemen auf und lasst es euch schmecken”
Die anderen blickten einander an. Zweifellos, das waren feinste Nährstoffe. Wie beiläufig filterten sie sich das feine Substitut hinein, darauf bedacht sich kein Wohlgefallen anmerken zu lassen. Der Vierte, der sich inzwischen wieder zwischen seine Tonscherben verkrochen hatte, mochte wohl Recht gehabt haben mit seiner nüchternen Logik. Mit hängenden Köpfen suchten sie ihn in seiner Behausung auf.
Dort fixierten sie ihn mit ihren Scheren, rissen an seinen verbliebenen Beinen herum und trennten diese mitsamt dem zappelnden Rumpf von seinem ach so klugen Kopf, der nach vollendetem Exzess kreiselnd davontrieb. In gegenseitigem Zuspruch, dass man genau richtig gehandelt habe und es sich ohne den Ungläubigen für alle besser leben ließe, verzogen sich die verbliebenen drei in ihre Quartiere.
Was weiter geschah, habe ich nicht mehr mitbekommen. Ich war weg übers Wochenende. Dass ich die Gasheizung aus reiner Gewohnheit abgedreht hatte, wurde mir erst hinterher bewusst, als ich zurückkam und im Aquarium nur ein solider Eisblock vorzufinden war. Studentenbude, Altbau, Jahrhundertwinter. So war das eben. Ich habe den gefrorenen Klotz mit dem Hammer kleingehauen und im Klo runter gespült. Am Ende war ich eh enttäuscht, denn auf der illustrierten Verpackung der “Seamonkeys” haben die niedlichen Geschöpfe kleine Gebäude errichtet, getanzt und zusammen Ball gespielt, kurzum eine richtige kleine Kultur entwickelt. Und das war ja tatsächlich eher nicht der Fall.