Mitglied
- Beitritt
- 12.07.2002
- Beiträge
- 589
Die Strategie des Bettlers
Auf der Fall-Skala fiel er tief, bis ganz unten. Bei „–100“ schlug er hart auf. Es tat weh, fürchterlich weh sogar. Aber es hatte einen Vorteil: tiefer runter ging es nicht mehr. Das gab eine gewisse Beruhigung.
Dabei war er noch vor wenigen Jahren stark im Plus-Bereich. Er hatte einen gutbezahlten Job in der Industrie. Er verlor ihn vor einigen Jahren. Wann das genau war – daran wollte er sich gar nicht erinnern. Besser war es, diese Erinnerung zu verdrängen. Es änderte ja doch nichts an der Tatsache, mit der er jetzt konfrontiert war. Ja, damals war die Welt für ihn noch in Ordnung. Und das, was nicht so ganz in Ordnung war, wurde mit Geld und sozialem Ansehen überdeckt – so lange, bis die Oberfläche wieder glatt war und schön glänzte.
Doch dann kam die erste Etappe des Falles. Sie brachte ihn knapp unter die Null-Linie auf der Fall-Skala. Sein Betrieb fusionierte mit der Konkurrenz. Er war im Wettbewerb zum Inhaber der gleichen Position im Konkurrenzbetrieb eindeutig der Zweitbeste. Arbeitsplätze mussten abgebaut werden. Somit war es logisch, dass er der Verlierer war. Das konnte er sogar noch nachvollziehen und verstehen. Schlimmer war: er hatte sich ein Fehlverhalten zu Schulden kommen lassen: Er hatte Bestechungsgelder angenommen. Nicht viel. Aber es reichte aus, dem Unternehmen die unanfechtbare Möglichkeit in die Hand zu geben, ihn fristlos zu entlassen. In der Lokalpresse wurde über diesen „Bestechungs-Skandal“ geschrieben. Natürlich in reißerischer Form. Der Verlag wollte ja möglichst viele Exemplare der Zeitung verkaufen. Als Journalist hätte Pierre wahrscheinlich in einer ähnlichen Form geschrieben.
Was bedeutete das für ihn? Ab sofort keine Lohnfortzahlung mehr. Sein Anspruch auf eine or-dentliche Abfindung, nach der jahrelangen Tätigkeit im Betrieb, war verwirkt. Die Ehefrau trennte sich von ihm und die Familie wandte sich ab. Sie wollte mit einem Versager – noch dazu mit einem korrupten Versager – nichts zu tun haben. Freunde und Bekannte verschwanden plötzlich aus seinem Dunstkreis, oder schlichen sich nach und nach, fast unbemerkt, aus seiner Umgebung.
Pierre war allein. Abgeschnitten von dem, was ihm bisher lieb und teuer war. Orientierungslos. Bereits auf „-20“ angekommen. Gott sei Dank hatte er in den langen Jahren seiner Berufslaufbahn einiges Geld auf die hohe Kante legen können. Ein großer Teil kassiert jetzt seine Ehefrau, die ihn sitzen ließ. „Gut, ist ja auch gerecht“, sagte sich Pierre. Er war immer für einen fairen Umgang miteinander.
Das Nächste: die Suche nach einem neuen Job. Dass er ein bis zwei Stufen tiefer einsteigen musste, war im klar. Entsprechend schrieb er seine Bewerbungen. Pierre kassierte jeweils wenige Wochen nach dem Versand der Bewerbungen die gleiche Anzahl an Absagen. Das war mühsam und frustrierend. Er perfektionierte das Bewerbungssystem: Alle seine Unterlagen (Lebens-lauf, Anschreiben, etc) zerlegte er in verschiedene Textbausteine und legte diese in speziellen Dateien im Computer ab. Jetzt konnte er schneller und flexibler agieren. Noch mehr Bewerbungen pro Woche – und entsprechend mehr Absagen.
Über mehrere Monate hinweg schaffte es Pierre, das Niveau der Energie, die er in das Finden einer neuen Anstellung steckte, konstant hoch zu halten. Als sich dann immer noch kein Erfolg zeigte, baute er ganz schnell ab. Die Anzahl der Bewerbung und deren Qualität wurde von Tag zu Tag bescheidener. Seinen Haushalt, den er ja alleine führen musste, hatte er auf das absolute Minimum herab geschraubt. Noch war alles zwar sparsam, aber sauber und durchdacht. Von seinem früheren Job übernahm Pierre eine gewisse Systematik bei der Erledigung der täglichen Arbeiten.
„Umschulung“ und „Weiterbildung“ waren danach die Schlagworte, die seinen Tagesablauf bestimmten. Verschiedene Trainer brachten einer Gruppe von Gescheiterten bei, wie wichtig es sei, Geist und Körper fit zu halten, sich zu pflegen um überall einen guten Eindruck hinterlassen zu können. In der Gesellschaft und in einem eventuell neuen Berufsleben. „Sie müssen Ihrer Umgebung täglich beweisen, dass Positives in Ihnen steckt“, sagte einer der klugen Menschen am Rednerpult. Pierre machte die Kurse voll motiviert mit – bis zu dem Zeitpunkt, wo von der Behörde der Bescheid eintraf, man würde ihm das Arbeitslosengeld kürzen. Die kompliziert ausge-drückte Begründung konnte er nicht ganz verstehen. Einen Anwalt, der ihm bei der Interpretation des Briefes hätte helfen können, konnte sich Pierre nicht leisten. Jetzt war der Zeitpunkt erreicht, wo das Geld nicht mehr nur knapp reichte – jetzt reichte es überhaupt nicht mehr zum Leben.
Der Alkohol hatte für Pierre zwei wesentliche Vorteile: Erstens verkürzte er ihm die immer länger werdenden Tage seiner Einsamkeit, und zweitens regten er seine Phantasie an. Schade nur, dass ein vernünftiges alkoholisches Getränk so verdammt teuer ist. Der nächste Sturz auf der Fall-Skala war schon vorprogrammiert. Gleich würde er bei „-80“ landen. Dann bleiben nur noch „20“. Wie lang wohl dieser letzte Teilabschnitt war?
Es war weit nach Mitternacht, als Pierre vor einer halbvollen Flasche Schnaps das Resümee zog: Regelmäßige Arbeit hatte er keine und wird wahrscheinlich auch keine mehr bekommen. Der Traum vom geborgenen Familienleben ist längst in Scherben zerschellt. Das soziale Netz stellte sich für ihn als ein Netz mit beängstigend großen Maschen dar; außerdem waren die Fäden, die ihn auffangen sollten extrem dünn. „Ohne Netz und doppelten Boden“, sinnierte Pierre vor sich hin und drehte die leere Flasche, um ihr noch den letzten Tropfen zu entlocken, „für Hochseilartisten ein besonderes Prädikat. Immerhin setzen sie bei jedem Auftritt, oft also mehrmals täglich, ihr Leben aufs Spiel“. Der Gedanke setzte sich mit großer Bitterkeit fort: „und was tut ein Ge-strandeter, in der gleichen Situation? Setzt er nicht auch sein Leben als Pfand ein?“ Wenigstens vernebelte der Alkohol an diesem Abend die Realität etwas. In gnädiger Weise. Pierre richtete sich vor der leeren Flasche auf und zwang sich, weiter zu denken. „Wenn ich mir also kein Geld verdienen kann, und mir der Staat nicht unter die Arme greift, bleiben nur noch zwei reelle Möglichkeiten. Ich klaue, oder ich bettle.“
Pierre entschloss sich zum Betteln. Das war zwar mit Sicherheit die Lösung, die ihn als Menschen am meisten demütigte. Aber die kriminelle Variante hatte er ja schon probiert und die Folgen waren für ihn verheerend. Diesen Weg wollte er also nicht nochmals gehen.
„Wo bettle ich am erfolgreichsten?“ war die nächste Frage, die er sich beantworten musste. Er entschied sich für eine belebte Geschäftsstraße, in der Nähe einer bedeutenden Kirche, die auch einige Touristen anlockte. Kirchengänger sind sicher mildtätig, dachte er.
Am nächsten Morgen wusch er sich äußerst sorgfältig, kleidete sich einfach, aber sauber und spülte mehrmals mit Mundwasser, damit sich die Alkoholfahne verflüchtigte. Er nahm einen klei-nen Teppichvorleger aus der Wohnung mit und seinen Hut. Erwartungsvoll nahm er den vorher ausgesuchten Platz, nahe beim Eingang zur Kirche, ein, legte den leeren Hut eine Armlänge entfernt vor sich auf die Straße und hoffte auf einen Almosen.
Er hoffte vergebens. Die Leute beachteten ihn nicht, hasteten entweder geschäftig an ihm vorbei, oder flüchteten in den kühlen Schatten der Kirche. Nach drei Stunden in der sengenden Hitze gab Pierre auf. Die Ausbeute bedeckte im Hut nicht mal die Bodenfläche. Lauter kleine und kleinste Münzen. Für jede dieser Münzen sagte Pierre dem Spender ein herzliches Dankeschön und blickte ihn von unten freundlich an. Den Spendern, die gleich ins Portal der Kirche abbogen, rief er noch ein „Vergelt’s Gott“ nach. Als schneller Rechner überschlug er im Kopf: bestenfalls ein sehr einfaches Mittagessen – aber wirklich nur bestenfalls. Natürlich ohne Wein. Er kaufte sich im Supermarkt etwas Brot und Käse, dazu trank er Wasser aus dem nahegelegenen Brunnen. Danach setzte er sich auf eine schattige Parkbank und versuchte, die Situation zu analysieren. Das Ergebnis von drei Stunden Betteln war niederschmetternd und entwürdigend. Er fragte sich: „warum nehmen mich die Menschen kaum wahr“, und „warum geben mir diese Menschen nur so kleine Münzen?“ Pierre machte etwas falsch.
Alles, was ihm in den verschiedenen Schulungen und Trainings in Bezug auf Eigen-Marketing beigebracht wurde, hatte er doch sorgfältig umgesetzt. Er versuchte – trotz des Budgets das zum Sterben zuviel und zum Leben ganz sicher zu wenig war – sauber und adrett zu erscheinen. So etwas wirkt vertrauenserweckend und schafft Sympathie, hatte er gelernt. Auch machte er die ganze Zeit ein freundliches Gesicht und bedankte sich bei den edlen Spendern mit echter Freude, auch wenn es ihm mit höher werdendem Stand der Sonne immer schwerer fiel. Pierre verstand die Welt nicht mehr. Seine Stimmung zog ihn auf „-90“.
Aber Pierre war lernfähig. Er ging in der Mittagspause ein paar Häuserblöcke weiter. Er erinnerte sich, dort oft einen Bettler gesehen zu haben. Und tatsächlich saß einer dort, unter dem kleinen Vordach im Schatten. Pierre setzte sich auf einen Mauervorsprung schräg gegenüber und beobachtete seinen „Kollegen“. Es viel sofort auf, dass ihm mehr Menschen Geld gaben, als Pierre in seinem Hut am ganzen Vormittag kassieren konnte. Was machte dieser Bettler anders?
Er saß im kühlen Schatten und nicht in der prallen Sonne. Sein Erscheinungsbild war konträr zu dem von Pierre: schmuddelig die Kleidung und fett die Haare. Aus seiner Alkoholsucht machte dieser Kollege keinen Hehl: er stellte die halbleere Flasche Fusel einfach vor sich hin. Die vor-beigehenden Menschen schienen ihm völlig gleichgültig zu sein. Auch die, die ihm Geld in seinen Hut warfen. Kein Dankeschön und kein freundliches Lächeln. Als Pierre auf dem Weg zurück wieder am Hut seines Kollegen vorbeikam, sah er gerade, wie der Bettler die Münzen entnahm und diese in die Tasche steckte. Er ließ bewusst einige Münzen – und nicht die wertlosesten – im Hut zurück. Die nächsten Passanten sollten ruhig sehen, was ihre Vorgänger in den Hut des Bettlers warfen.
Pierre wollte es nicht wahr haben. Es konnte doch einfach nicht sein, dass alles, was er in den letzten Jahren gelernt hatte, was er verstanden und verinnerlicht hatte, jetzt nicht mehr Gültigkeit haben kann. Er ging zurück zu seinem Platz neben dem Eingang zur Kirche. Zum Glück war die Sonne schon ein Stück weiter gewandert, so dass er sich im etwas kühleren Schattenstreifen niederlassen konnte. Er gab sich besonders Mühe, Sympathie und Vertrauen auszustrahlen. Das Ergebnis war niederschmetternd.
Gegen siebzehn Uhr kam ein junger Mann vorbei. Er beugte sich kurz zu ihm herunter und zischte ihm böse entgegen: „Würdest lieber mal was arbeiten, Opa, statt hier der Allgemeinheit auf den Keks zu fallen. Es reicht schon, dass wir für dich Steuern bezahlen, du Schmarotzer“. Und da fiel Pierre mit einem Schlag auf „-100“. Der Aufprall tat weh, fürchterlich weh sogar. Pierre gab auf. Er rollte den kleinen Teppich ein, nahm den Hut vom Boden auf und ging nach Hause.
Jetzt war er also ganz unten. Er hatte den tiefsten Punkt auf der Skala erreicht. Jetzt gab er sein Ich und all seine Überzeugungen auf.
Er brauchte zwei Tage dazu. Dann erschien er als Clochard mit wirrem Haar, unrasiert und schmutzigem Aussehen in der Stadt. Die Alkoholfahne roch man von weitem. Und die Almosen flossen reichlich.
Bei einem schon fast fürstlichen Mittagessen – dem ersten warmen Essen seit Tagen - wurde ihm klar: Die Menschen sind zwar alle gleich, aber sie werden mit unterschiedlichen Ellen gemessen. Nur wer sich darauf einstellen kann, hat Chancen zu überleben. Tugenden für den ei-nen waren tödlich für den anderen. Gilt diese einfache Regel auch im Umkehrschluss? Pierre war es egal. Ihn berührte es nicht mehr. Er genoss die Flasche Rotwein. Jetzt passte er exakt in das Klischee, das sich die Menschen von einen Clochard machten.
Das Überleben war mehr als gesichert.
Ab jetzt geht es aufwärts.