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Die Strasse

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19.08.2002
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Die Strasse

Sie ging mitten durch einen Wald, quer über eine Wiese und auf einer Brücke sogar elegant über einen Fluss. Die Strasse - diese Strasse. Der kleine Igel stand mit grosser Ehrfurcht an ihrem, sich am Horizont verlierenden Rand und war fasziniert. Fasziniert von der Gestalt, von der Kraft, die er fühlte, wenn er hier stand. Es war eine verborgene Kraft, die ihn immer wieder auf die andere Seite
der Strasse zu ziehen versuchte. Niemand aus seiner Familie war je dort gewesen.
Inzwischen war es Abend geworden und im Kopf des kleinen Igels hatten ein weiteres Mal die belehrenden, aber auch ängstlichen Warnungen seiner Eltern über die geheimnisvolle Kraft gesiegt.

Der kleine Igel hatte zwar grosse Angst, war aber auf eine sonderbare Art und Weise auch sehr erregt, als er erfuhr, dass er mit seinem Vater die Strasse überqueren sollte, um dort nach günstigen Wohnplätzen Ausschau zu halten. Sie standen jetzt vor dieser Strasse. Die Mutter hatten sie zurückgelassen, sie hätte es, so sagte sie selbst, nicht mit ansehen können. Vorsichtig schaute der Vater sich nach beiden Seiten um und rannte, sobald ihm die Gelegenheit günstig erschien, so schnell ihn seine kurzen Beinchen trugen, los. Bereits kurz nachdem er losgerannt war, hörte der kleine Igel, wie erstarrt am Rande stehend, ein ihm so vertrautes, in diesem Moment aber lebensgefährliches Geräusch. Ein Auto näherte sich in rasanter Fahrt! Vater schien dies ebenfalls bemerkt zu haben, doch es war zu spät, um umzukehren. Er rief dem kleinen Igel zu, er solle bleiben, wo er sei. Der kleine Igel konnte nicht hinsehen. Er hörte, wie das Auto vorbeirauschte. Als er seine Augen öffnete und wieder der Strasse zuwenden wollte, konnte er nichts erkennen. Es war dunkel. Bei seinen verzweifelten Rufen nach seinem Vater begann sich plötzlich alles um ihn herum zu drehen. Der Abgrund, in den er gezogen wurde, war tief. Er fiel. Schon hörte er sich in seinen Gedanken selbst unten aufprallen!
Am ganzen Leibe zitternd erwachte der kleine Igel und vergewisserte sich, dass er sich in seinem sichern Kämmerchen befand. Er hatte das beklemmende Gefühl, dass dies nicht nur ein schrecklicher Traum gewesen sei. Deshalb hastete er angsterfüllt zu seinen Eltern. Als er seinen Vater erblickte, fiel ihm ein grosser Stein vom Herzen. Er lebte.
Nach jenem Erlebnis mied der kleine Igel die Strasse für längere Zeit. Doch bald schon spürte er in sich wieder die Kraft, die ihn zu der Strasse hinzog. Sie war stärker, als jemals zuvor.
Der kleine Igel stand an der Strasse und betrachtete sie, die vorbeirasenden Autos und auch die andere Strassenseite. Ein letztes Mal wendete er sich von ihr ab und machte sich auf den Heimweg. Am nächsten Tag wollte er es versuchen. Die innere Kraft war jetzt zu stark geworden. Er konnte an diesem Abend kaum einschlafen. Er stellte sich vor, wie es auf der anderen Seite sein könnte, sah
seine Mutter, wie sie ihn bei seiner Rückkehr stolz empfing. Aber es waren nicht diese Vorstellungen, die Ihn nicht zur Ruhe kommen liessen. Er erinnerte sich immer wieder an den Traum, der in ihm einen so tiefen Eindruck hinterlassen hatte - tiefer als reale Begebenheiten dazu in der Lage sind. Die täglichen Warnungen seiner Eltern nährten die Furcht zusätzlich. Der kleine Igel war sich dennoch sicher, dass er es wagen würde.
Die Strasse lag still da. Sie war bestimmt doppelt so breit als sonst. So kam es dem kleinen Igel jedenfalls vor. Er zitterte nun beinahe so heftig wie nach jenem Traum. Er flehte die Strasse ein letztes Mal an, sie möge kein Auto kommen lassen und rannte auf unsicheren Beinchen los. Kaum losgerannt, erschien es ihm wie in seinem Traum, dass sich ihm jenes todbringende Gefährt näherte.
Er hörte sein lauter werdendes Rauschen, die Rufe eines Vaters, das Herz schlug ihm bis zum Hals. Immer lauter tönte es, vor Schreck unfähig sich zu bewegen, blieb er stehen. Er schloss die Augen und es war dunkel.

 

Hallo Ventur!

Ich fühlte mich zurück versetzt in die Zeit meiner Kindheit wo ich ausdrucksstarke Bilderbücher so sehr liebte. Tiere die mit riesigen Augen in ihre Seelen schauen ließen. Dunkelheit und Lichtblitze, Geräusche die man glaubt sehend wahrzunehmen. Mir gefiel auch sehr gut die immer wieder betont beschriebene Kraft die von der anderen Seite ausging. Nur eine kleine Hilfestellung bräuchte ich jetzt doch von dir - ist der kleine Igel nur tot oder hat er sich nur in die Dunkelheit der geschlossenen Augen geflüchtet?
Lieben Gruß - schnee.eule

 

Ob der Igel nun tot ist oder nur die Augen schliesst, ist Interpretationsspielraum für den Leser. Der Schluss ist bewusst offen gelassen, da man dann direkter gezwungen ist, darüber nachzudenken. Persönlich bevorzuge ich die Variante mit dem Tod, welcher aber durch seine eigene Angst und die dadurch verursachte Handlungsunfähigkeit eingetreten ist. Ich bin der Meinung, dass man Situationen mit der richtigen Überzeugung meistern kann, mit der falschen, negativen Einstellung wohl aber oft scheitert. Ob das negative Gefühl des Igels nun gleich zu seinem Tod führt oder ob er mit einem blauen Auge davonkommt, sei hier dahingestellt und jedem selbst überlassen...
gruss, Ventur

 

Hallo, Ventur!

Sehr schön, deine KG!
Unentschlossenheit des Einzelnen ist in vielen Bereichen des täglichen Lebens die Ursache für kleine und große Katastrophen.
Nicht nur, dass er durch seinen Wankelmut sich selber schaden kann, so ist der Zögerliche eine nicht zu unterschätzende Gefahr für die Allgemeinheit.
Sei es durch fehlende Initiative bezüglich des Eingreifens in lebensbedrohenden Situationen, als auch durch mangelndes Kundtun seiner oppositionären Meinung.

Gut gelungene Fabel!

Ciao
Antonia

 

Hallo Ventur!

Auch von mir bekommst Du Lob für diese Geschichte! :thumbsup:

Wirklich phantastisch umgesetzt und viel zum Nachdenken mitgeliefert - das gefällt mir.

Schließe mich den Überlegungen von Antonia großteils an und möchte noch die Frage hinzufügen:
Warum sind wir nie mit dem zufrieden, was wir haben? Warum ist der Drang zum schwer bzw. nicht Erreichbaren, oder auch Verbotenen, oft so unwiderstehlich groß?

Vier Dinge muß ich noch anmerken:

Mach bitte beim Schreiben der Geschichten keinen Zeilenwechsel. Editiere diese bitte aus dem Text heraus, es liest sich schlecht, wenn mitten im Satz eine neue Zeile anfängt.

zur Ruhe kommen liessen
- ließen

Er flehte die Strasse in letztes
Mal an,...
- ein

"Strasse" = Straße - auch in der neuen Rechtschreibung (langer Selbstlaut davor)

Ausbessern kannst Du, indem Du den Button "Editieren" am unteren Rand des Postings mit Deiner Geschichte anklickst. ;)

Liebe Grüße
Susi

 

Hallo Häferl!

Vielen Dank für den Kommentar und die Verbesserungsvorschläge. Die Zeilenwechsel habe ich etwas auskorrigiert. Die Angelegenheit mit dem "ß" aber werd ich so belassen. In der Schweiz existiert nämlich dieses Zeichen nicht wirklich und es darf nach schweizer Rechtschreibung immer "ss" geschrieben werden.
Vielleicht werde ich auf deine inhaltlichen Zusatzfragen bei Gelegenheit in einer andern Geschichte stärker Bezug nehmen...
Gruss, Ventur

 

Hi Ventur!

Ich verstehe das mit den "ß", da ich ja, wie Du das Schweizerische, das Österreichische verteidige. (Ist es dann nicht "sz"?)

Aber einen großen Einwand - oder vielmehr Tip - hab ich doch:

Fast niemand weiß das, daß Du so schreibst, weil es eine schweizer Eigenart ist. - So sieht es für andere aus, als hättest Du schon im Titel einen Fehler... Dann machen oft gleich gar nicht so viele Leute den Thread auf, weil sie sich dahinter noch mehr Fehler erwarten usw. - Verstehst Du, was ich meine?

(Falls Du den Titel ändern willst, kannst Du das einem Moderator, in dem Fall Armelle, Ben oder Raven, mitteilen. ;) )

Alles liebe
Susi

 

Hallo Ventur,

eine nett erzählte Geschichte über Angst und Willen. „Die Straße“ und die „andere Seite“ können doch sicher auch Symbol für gesellschaftliche oder psychische Hindernisse bzw. Ziele und Träume sein?

Tschüß... Woltochinon

 

Ich finde auch, dass man das so sehen kann, Woltochinon. Er scheitert aber nicht am Ziel selbst, sondern an seiner Unfähigkeit bei der Ausführung, bedingt durch die Angst und die Zweifel, die er nicht unter Kontrolle zu bringen vermag. Um besagte Hindernisse zu überwinden, sollte es in seiner eigenen Psyche stimmen, sonst wird der Igel überrollt...
Gruss, Ventur

 

Also Ventur, jetzt weiss ich nicht genau, was mit dem Igel geworden ist, aber okay, so würde ich es auch machen.

Klar diese Geschichte find ich besser als "Fortschritt" sogar viel besser.
Aber das liegt natürlich daran wie ich selber schreibe.

Es war ne schön-traurige Geschichte, hat mir gefallen.

Oder schafft es der Igel? Nee, glaub nicht

liebe grüsse Archetyp

 

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