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Die Strasse
Sie ging mitten durch einen Wald, quer über eine Wiese und auf einer Brücke sogar elegant über einen Fluss. Die Strasse - diese Strasse. Der kleine Igel stand mit grosser Ehrfurcht an ihrem, sich am Horizont verlierenden Rand und war fasziniert. Fasziniert von der Gestalt, von der Kraft, die er fühlte, wenn er hier stand. Es war eine verborgene Kraft, die ihn immer wieder auf die andere Seite
der Strasse zu ziehen versuchte. Niemand aus seiner Familie war je dort gewesen.
Inzwischen war es Abend geworden und im Kopf des kleinen Igels hatten ein weiteres Mal die belehrenden, aber auch ängstlichen Warnungen seiner Eltern über die geheimnisvolle Kraft gesiegt.
Der kleine Igel hatte zwar grosse Angst, war aber auf eine sonderbare Art und Weise auch sehr erregt, als er erfuhr, dass er mit seinem Vater die Strasse überqueren sollte, um dort nach günstigen Wohnplätzen Ausschau zu halten. Sie standen jetzt vor dieser Strasse. Die Mutter hatten sie zurückgelassen, sie hätte es, so sagte sie selbst, nicht mit ansehen können. Vorsichtig schaute der Vater sich nach beiden Seiten um und rannte, sobald ihm die Gelegenheit günstig erschien, so schnell ihn seine kurzen Beinchen trugen, los. Bereits kurz nachdem er losgerannt war, hörte der kleine Igel, wie erstarrt am Rande stehend, ein ihm so vertrautes, in diesem Moment aber lebensgefährliches Geräusch. Ein Auto näherte sich in rasanter Fahrt! Vater schien dies ebenfalls bemerkt zu haben, doch es war zu spät, um umzukehren. Er rief dem kleinen Igel zu, er solle bleiben, wo er sei. Der kleine Igel konnte nicht hinsehen. Er hörte, wie das Auto vorbeirauschte. Als er seine Augen öffnete und wieder der Strasse zuwenden wollte, konnte er nichts erkennen. Es war dunkel. Bei seinen verzweifelten Rufen nach seinem Vater begann sich plötzlich alles um ihn herum zu drehen. Der Abgrund, in den er gezogen wurde, war tief. Er fiel. Schon hörte er sich in seinen Gedanken selbst unten aufprallen!
Am ganzen Leibe zitternd erwachte der kleine Igel und vergewisserte sich, dass er sich in seinem sichern Kämmerchen befand. Er hatte das beklemmende Gefühl, dass dies nicht nur ein schrecklicher Traum gewesen sei. Deshalb hastete er angsterfüllt zu seinen Eltern. Als er seinen Vater erblickte, fiel ihm ein grosser Stein vom Herzen. Er lebte.
Nach jenem Erlebnis mied der kleine Igel die Strasse für längere Zeit. Doch bald schon spürte er in sich wieder die Kraft, die ihn zu der Strasse hinzog. Sie war stärker, als jemals zuvor.
Der kleine Igel stand an der Strasse und betrachtete sie, die vorbeirasenden Autos und auch die andere Strassenseite. Ein letztes Mal wendete er sich von ihr ab und machte sich auf den Heimweg. Am nächsten Tag wollte er es versuchen. Die innere Kraft war jetzt zu stark geworden. Er konnte an diesem Abend kaum einschlafen. Er stellte sich vor, wie es auf der anderen Seite sein könnte, sah
seine Mutter, wie sie ihn bei seiner Rückkehr stolz empfing. Aber es waren nicht diese Vorstellungen, die Ihn nicht zur Ruhe kommen liessen. Er erinnerte sich immer wieder an den Traum, der in ihm einen so tiefen Eindruck hinterlassen hatte - tiefer als reale Begebenheiten dazu in der Lage sind. Die täglichen Warnungen seiner Eltern nährten die Furcht zusätzlich. Der kleine Igel war sich dennoch sicher, dass er es wagen würde.
Die Strasse lag still da. Sie war bestimmt doppelt so breit als sonst. So kam es dem kleinen Igel jedenfalls vor. Er zitterte nun beinahe so heftig wie nach jenem Traum. Er flehte die Strasse ein letztes Mal an, sie möge kein Auto kommen lassen und rannte auf unsicheren Beinchen los. Kaum losgerannt, erschien es ihm wie in seinem Traum, dass sich ihm jenes todbringende Gefährt näherte.
Er hörte sein lauter werdendes Rauschen, die Rufe eines Vaters, das Herz schlug ihm bis zum Hals. Immer lauter tönte es, vor Schreck unfähig sich zu bewegen, blieb er stehen. Er schloss die Augen und es war dunkel.