Die Straße, die es nicht gibt
Diese Geschichte entstand nach einer wahren Begebenheit!
Als Polizeibeamtem passieren einem immer wieder Dinge, die andere Menschen kaum erleben. Unvergesslich sind mir insbesondere Gegebenheiten mit Kindern. An den Mann, der damals, im Herbst 1999, die kleine Jennifer aufs Revier brachte, kann ich mich kaum noch erinnern. Aber an sie. Und das war so:
„Die Kleine hat sich wohl verlaufen“, sagte der Mann zu mir. „Sie will in der Waldmeisterstraße wohnen, aber ehrlich gesagt, weiß ich nicht, wo die hier in Mellendorf sein soll.“
„Das weiß ich auch nicht“, gab ich freimütig zu. „Aber ich glaube, dass wir der kleinen Dame schon helfen können.“ Eine so banale Sache wie Adresse herausfinden und Eltern anrufen, sollte mir eigentlich keine Schwierigkeiten bereiten, dachte ich.
„Brauchen Sie mich noch?“, fragte der Mann. „Ich hab’ es nämlich eilig.“
„Nein“, antwortete ich, „gehen Sie ruhig, ich kümmere mich schon um das Mädchen.“
Da stand sie nun vor dem Wachpult: Ein Mädchen, vielleicht sechs oder sieben Jahre alt, mit langen blonden Haaren. Ihre blauen Augen blickten mich erwartungsvoll an.
„Na, dann komm’ mal um das Pult herum auf die Wache“, sagte ich zu ihr.
Dieser Aufforderung kam sie sofort nach. Ich schob ihr einen Stuhl hin, und ohne Scheu setzte sie sich.
„Sag’ mir doch erst einmal, wie du heißt.“
„Ich heiße Jennifer. Jennifer Roter.“
„Und du wohnst in der Waldmeisterstraße?“
„Genau!“
Diese Straße gab es nicht; da war ich mir immer noch völlig sicher „Aber eine Waldmeisterstraße gibt es in der ganzen Wedemark nicht“, entgegnete ich ihr. „Da musst du dich irren.“
„Aber ich wohne doch in der Waldmeisterstraße“, sagte sie. Eigentlich sollte man als Polizist nach fünf Jahren seinen Revierbereich kennen, aber diese absolute Bestimmtheit, die aus ihren Worten herausklang, ließ mich zweifeln. Ich sah also auf der Gemeindekarte nach, ob es eine Waldmeisterstraße vielleicht doch gab. Es gab sie nicht. Wahrscheinlich wohnte die kleine Jennifer in einer Straße, die ähnlich klang.
Mit einigen Fragen zur Umgebung ihres Hauses versuchte ich, ihr eine Ortsbeschreibung zu entlocken und schließlich war ich mir sicher, dass sie im Kreuzheister wohnen würde.
Das bestritt sie heftig: „Nein, ich wohne in der Waldmeisterstraße!“
Der nächste Versuch, ihre Eltern telefonisch zu verständigen, scheiterte daran, dass sie nicht im Telefonbuch standen und Jennifer die Nummer auch nicht wusste.
Aus dem Aktenbock neben dem Wachpult kramte ich den Ordner mit der alten Einwohnermeldeliste hervor. Während ich nach ihrem Namen suchte, kam mir die Idee, Jennifer ein wenig zu verblüffen.
„So“, sagte ich dann gedehnt, „du heißt also Jennifer Roter. Dann bis du jetzt 6 Jahre alt und hast am Vierten März Geburtstag.“
Sie glotzte mich mit weit aufgerissenen Augen an. „Woher weißt du das?“
„Polizisten wissen viel“, antwortete ich ihr mit einem verschmitzten Lächeln und wartete gleich mit der nächsten Überraschung auf. „Du wohnst nicht zufällig in der Nähe des Bahnhofs?“
„Da habe ich mal gewohnt, noch vor drei Wochen“, rief sie strahlend. „Von meinem Zimmer aus habe ich immer die Züge beobachtet. Aber, woher weißt du das alles?“
„Ich sagte doch schon, wir Polizisten wissen eine ganze Menge, das gehört nun mal zu unserem Beruf.“
Ich griff zum Telefonhörer. „Und nun pass’ auf! Ich rufe jetzt einen Kollegen an, der mir genau sagen wird, wo du jetzt wohnst. Dann bringe ich dich nach Hause.“
Ich tippte die Nummer des Lagezentrums ein und stellte das Telefon auf Mithören. Nachdem ich dem Kollege gesagt hatte, dass ich eine Auskunft aus der Einwohnermeldeliste brauchte, nannte ich das Geburtsdatum von Jennifer.
„Da habe ich die Jennifer Roter“, kam es aus dem Telefon zurück, „die wohnt seit drei Wochen im Kreuzheister Nr. 23.“
Ich bedankte mich und legte den Hörer auf. „Siehst du“, sagte ich zu Jennifer, die vor Staunen den Mund nicht mehr zubekam, „du wohnst im Kreuzheister 23. Und da fahre ich dich jetzt hin!“
Jennifer durfte sich den Streifenwagen aussuchen, mit dem ich sie nach Hause fahren wollte. Und um die ganze Sache abzurunden, durfte sie auch noch vorne sitzen. Diese kleine Gesetzesübertretung konnte ich wohl verantworten, denn es war nur eine kurze Fahrt durch ruhige Nebenstraßen.
Als wir vor ihrem Haus angekommen waren, rief sie auch gleich: „Ja, hier wohne ich!“
Wir stiegen aus, und gingen zum Hauseingang. Auf der untersten Klingel fand ich den Namen Roter, und nach einem kurzen Läuten wurde uns geöffnet.
In der Wohnungstür im ersten Stock stand eine Frau und blickte mich entsetzt an, als ich mit Jennifer die Treppe heraufkam. Das musste wohl die Mutter sein, denn sie überfiel mich gleich mit der Frage: „Na, was hat meine Tochter schon wieder angestellt?“
„Gar nichts!“, antwortete ich ihr. „Sie hat sich bloß verlaufen, und ein freundlicher Mensch hat sie zu mir auf die Wache gebracht.“
„Sie hat sich verlaufen? Wieso? Sie war doch bei ihrer Freundin.“
„Da war ich auch, Mama“, sagte Jennifer. „Aber Luise musste doch heute Nachmittag zum Flötenunterricht. Ich bin dann nach Hause gegangen.“
„Warum bist du dann nicht hier geblieben?“, fragte die Mutter zurück.
„Es war niemand da, der mich reingelassen hat. Ich wollte dann zu dir auf die Arbeit gehen, damit ich nicht so allein bin. Aber ich hab’ das nicht mehr gefunden.“ Jennifer fing an zu weinen. Dicke Tränen rollten ihre Wangen hinunter.
Die Mutter nahm das Mädchen in die Arme. „Hör auf zu weinen, Jennifer!“, sagte sie. „Jetzt bist du ja wieder bei mir. Es ist doch alles gut aus gegangen.“
Sie hob Jennifer auf. „Ich danke Ihnen, dass sie meine Tochter nach Hause gebracht haben.“
„Danken Sie nicht mir, sondern dem Mann, der so freundlich war, Jennifer zur Polizei zu bringen. Ich will Ihnen ja keine Angst machen, Frau Roter, aber heutzutage ist das nicht gerade selbstverständlich. Sie sollten sich für den Fall, dass sie nicht zu Hause sind, etwas überlegen. Vielleicht kann ein Nachbar vorübergehend auf Jennifer aufpassen.“
„Sie haben Recht. Es war wirklich etwas leichtsinnig von mir. Nochmals vielen Dank für Ihre Mühe.“
„Nicht der Rede wert“, sagte ich. „Dafür sind wir ja da. Und ich glaube Jennifer hat es bei uns auf der Wache auch gefallen.“
„Klar!“, sagte sie, nachdem sie sich die Tränen im Pullover abgewischt hatte. „Darf ich dich mal wieder besuchen?“
„Jederzeit! Wann immer du Lust dazu hast.“
Jennifer lachte ihrer Mutter zu: „Mama, das war echt super. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was die alles wissen.“
Auch ich fing nun an zu lachen, verabschiedete mich dann von Jennifer und Frau Roter und ging die Treppe hinunter.