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Die Stoffhändlerin
»Ey, hinten anstellen«, rief ein schmieriger, junger Mann aus der Schlange. Kunstlederjacke, Haare petrifiziert, unsympathisch. Junkie. Unbeeindruckt ging Julie an ihm und der Schlange vorbei, weiter auf den Haupteingang des QuoVertis zu. Ein paar Stufen hinauf und schon stand sie vor Wenzel, dem Rausschmeißer und Besitzer des Clubs. Wenzel zwinkerte ihr zu und Julie holte fünf kleine, rote Pillen aus ihrem Gürtel hervor, um sie ihm in die riesige Pranke zu drücken.
Wenzel zählte die Pillen zufrieden und machte einen kleinen Knicks, was bei einem Mann von seiner Größe komisch wirkte. »Na dann rein mit euch.« Bevor Julie und ihr Begleiter Clive das QuoVertis betraten, drehte sie sich noch einmal zur Menschenschlange um. Die Blicke, die man ihr zuwarf, reichten von feindselig über gleichgültig bis hin zu freundlich von denjenigen, die sie bereits kannten. Es war ein vielversprechender Abend.
Clive schob sie vor sich durch den dunklen, gepolsterten Flur, immer weiter dem ohrenbetäubenden Wummern entgegen.
»Pass auf dich auf.«
»Ich dachte, das machst du für mich.«
»Sicher. Wie ein Schatten. Und was bekomme ich dafür von dir?«
Julie fingerte an ihrem Gürtel herum und holte ein paar schneeweiße Pillen hervor, von denen sie eine in die Luft warf und kunstvoll mit dem Mund auffing, und die übrigen Clive gab.
»Wenn du mehr brauchst, frag mich. Aber nicht alle auf einmal nehmen. Und bitte nichts verschenken.«
Clive nickte, er kannte das Spiel. Sie erreichten die Grube, in der sich schillernde Leiber zuckend zur dröhnenden, monotonen Musik bewegten. Julie drängelte sich zwischen sie und begann ihre Arbeit, während das Pernix zu kicken begann. Kurz darauf signalisierte ihr der erste Kunde durch die Menge hindurch zu ihm herüberzukommen. Fisch angebissen. Sie zwängte sich im Takt der Musik zu ihm herüber. Der glatzköpfige Mann mittleren Alters kam ihr bekannt vor, er war öfters hier.
»Keenn det ... psycho schillat ... oda, Mädel?«
»Bitte?« Besser nachfragen, wenn man nur die Hälfte versteht.
Der Glatzkopf presste ihr ein paar kleine Metallplättchen in die Hand, das wiederum verstand sie. Julie steckte das Metall ein und gab ihm ein Tütchen voller silberner Pillen, das er zufrieden an die Herumtanzenden verteilte.
Julie erspähte ihren nächsten Kunden und schob sich zu ihm herüber. Kein bekannter Fisch. Er schrie gegen die Musik in ihr Ohr und sie gab ihm ein paar hellgraue Pillen. Der Mann hielt sie hoch und beäugte sie kritisch im Blitzgewitter der Flutlichtanlage.
»Ich wollte ... keine Celerities.«
»Multiplex ist auch grau.«
Zur Sicherheit legte sie sich eine von den grauen Pillen vor seinen Augen auf die Zunge. Der Kunde gab ihr grinsend ein paar Metallplättchen und schob sich ebenfalls eine der grauen Pillen zwischen die Zähne.
Sie bediente einen weiteren Fisch, ein aufgetakeltes Mädchen mit Ohrringen, die fast hinab bis auf ihre Schultern hingen. Julie erkannte das Molekül, das sie darstellten, und gab ihr die entsprechende tiefblaue Pille. Dann tanzte plötzlich Clive neben ihr, der bereits alles Pernix geschluckt oder verschenkt hatte, und sie gab ihm ein paar von den Silbernen, worauf er wieder in der Menge verschwand. Die Multiplex fing an zu wirken und Julie begann Farben zu sehen, wo vorher keine waren.
Der Abend zog sich hin und sie warf ein, was sie nicht verkaufte. Die perfekte Mischung zu erreichen war eine Kunst. Es kam auf die richtige Menge und das richtige Timing an, und natürlich auf die Art der Droge. Pernix zum Beispiel vertrug sich gut mit Multiplex, schnelle Farben bei klarem Verstand. Kaum Nebenwirkungen. Dopex sollte man nicht mit Cleos kombinieren, wobei man gegen die Kopfschmerzen Glacies nehmen könnte. Das würde jedoch nicht nur die Nebenwirkungen, sondern auch die Hauptwirkung reduzieren. Die Wissenschaft aller Wissenschaften, empirisch im Selbstversuch erforschbar.
Julie schätzte den Bestand in ihrem Gürtel ab und stellte fest, dass es ihr zunehmend schwieriger fiel sich zu konzentrieren. Einem inneren Impuls folgend glitt sie durch die überbunte, fischige Masse. Dass ihr irgendjemand im Gedränge grob an die Brüste griff, merkte sie kaum durch die Plastikbluse hindurch. Sie erreichte die Multisextoilette und blieb am Waschbecken hängen, um sich zwei Handvoll klares Wasser ins Gesicht zu spritzen. Kaltes Wasser, nachwievor die beste aller Drogen. Aus einer der Kabinen drang lustvolles Gestöhne und Julie fragte sich, ob sie den Menschen darin im Laufe des Abends hellblaue Cleos vertickt hatte.
Sie starrte ihrem Spiegelbild entgegen. Ihre Augen waren von feinen, roten Linien durchzogen und mit schwarzen Ringen untermalt, die Haare fettig und trotz Petrifizierung durcheinander. Sie sah grauenhaft aus. Ein paar von den Gelben würden Wunder wirken, aber sie hatte alle verkauft. Valentulum war der Renner im QuoVertis und stets zuerst an den Mann gebracht.
In der rechten Ecke des Spiegels bemerkte sie, wie jemand die Multisextoilette betrat. Es war der unsympathische Typ, der sie vorhin angepöbelt hatte, als sie an der Schlange vor dem Eingang vorbeigegangen war. Hinter ihm betrat ein nicht weniger unangenehm wirkender Kamerad den schwarzgekachelten Raum.
Beide wirkten überrascht sie hier zu treffen.
»Na sieh mal einer an. Wenn das nicht unsere kleine Vordränglerin von vorhin ist.«
»Wollt ihr was kaufen?«
»Was verkaufst du denn?«
»Alles, außer Valentulum.«
Er musterte Julie geringschätzig und sagte zu seinem Kameraden: »Was meinst du, wollen wir sie kaufen?«
Der andere drückte seine Zustimmung mit einem Grunzen aus.
»Das könntet ihr nicht bezahlen.«
»Zu schade. Normalerweise nehmen wir uns einfach, was wir nicht bezahlen können.«
Der andere Kerl trat hinter sie und drehte ihr schmerzhaft die Arme auf den Rücken. Das Stöhnen aus der Kabine nebenan war verstummt und Julie war zu drauf und zu überrascht, um rechtzeitig zu reagieren. Der Unsympathische strich mit den Fingern an ihrer Plastikbluse abwärts und blieb an ihrem Gürtel hängen, der sowohl ihr Sortiment als auch ihr Geld enthielt. Er fingerte an einem der zahlreichen Fächer herum und stellte verärgert fest, dass es sich nicht öffnen ließ.
»Was ist das für ein Quatsch?«
Julie wandte den Kopf ab und blieb an der Szene im Spiegel hängen. Sie sah zwei Männer, die dabei waren, eine junge Frau auf der Toilette eines Clubs auszurauben und zu vergewaltigen. Aber das war nicht sie. Das war irgendwer anderes.
»Na los, mach ihn auf, sonst brech ich dir die Finger!«
Er packte ihr Gesicht und drehte es vom Spiegel weg, so dass sie gezwungen war ihm in die Augen zu schauen. Sie waren von zahlreichen, roten Linien durchzogen. Victrix machte Frauen angstfrei und Männer gewalttätig. Sie hatten es beide genommen.
In diesem Moment sprang eine Kabinentür auf und Clive stürzte heraus, oben ohne und mit offen stehender Hose. Ohne Vorwarnung schlug er dem Kerl, der Julies Kopf festhielt, mit voller Wucht ins Gesicht und schleuderte ihn rückwärts gegen den Spiegel. Der Andere ließ ihre Arme los, zögerte jedoch zu lange und Clive stieß seinen Kopf mit beiden Händen gegen die schwarzgeflieste Wand hinter ihm. Er sackte daran zu Boden und rührte sich nicht mehr.
Der Erste rappelte sich auf und hielt sich die blutende Nase, während er aus der Multisextoilette taumelte und in den Tiefen des QuoVertis verschwand. Hinter ihnen erschien ein zerzaustes Wesen in der Tür der Kabine, aus der Clive gesprungen war, und Julie erkannte das Mädchen mit den Molekülohrringen, der sie vorhin Torpeskin verkauft hatte. Sie war ebenfalls oben ohne und hielt sich nun verwirrt an der Türklinke fest.
Julie ließ sich neben dem regungslosen Kerl, der sie festgehalten hatte, an der Wand nieder und Clive ging vor ihr in die Hocke. Er strich ihr über die fettigen Haare und betrachtete sie besorgt.
»Geht's dir gut?«
Den Drogen geht's gut.
»Deine Hose ist offen.«
Er schaute hinab, als ob ihn das überrascht hätte, und knöpfte sich die Hose zu.
»Vielleicht sollten wir langsam mal nach Hause. Wir wollten noch eine kleine Nachfeier machen, ich und sie, du kannst auch gerne mitkommen.«
»Danke. Aber ich glaube, ich brauch ein bisschen Zeit für mich. Um wieder runterzukommen. Mach dir einen schönen Abend mit ihr.«
»Lexi heißt sie«, und er deutete in Richtung des halbnackten, völlig dichten Mädchens in der Kabine.
»Habt ihr noch was?«
Clive schüttelte den Kopf. Daraufhin griff sie in ihren Gürtel und gab ihm ein paar hellblaue und zwei glasklare Pillen. Dann erhob sie sich und zwängte sich ein letztes Mal durch die Fischmasse, um hinaus in die kühle Nacht zu treten.
Ohne zu wissen, wohin ihre Füße sie trugen, huschte sie über den Gehsteig. Die Werbung unter ihr passte sich ihrem Gang an und eilte vor ihren Sohlen her, so dass man sie zwangsweise anschauen musste. »Nicht vergessen: Senatswahlen am kommenden Freitag.« Fünftagewoche. Was interessierte sie das? Nur Senatsmitglieder durften wählen, und sie war keines. Kaum zu glauben, aber früher hatten Staatsformen existiert, die nicht von Wissenschaftlern geleitet wurden. Jetzt wählte der Senat jedes Jahr aufs Neue den erfolgreichsten Wissenschaftler unter ihnen, der dann das Vorzeigegesicht für die Reklame auf den Bürgersteigen wurde und seinen Krakel unter jedes neu erlassene Gesetz machte.
Manchmal dachte Julie, dass sie eigentlich einen Anspruch auf eine Mitgliedschaft im Senat hätte. War sie nicht auch eine Wissenschaftlerin, so viel, wie sie für die Pharmaindustrie getan hatte? Hunderte zufriedener Kunden, alle auf den regelmäßigen Spaß gebracht, den man nur durch das Einwerfen von Tabletten und Pillen und Kapseln haben – »Achtung: Auto!«, zeigte die Werbung zu ihren Füßen an und Julie blieb abrupt stehen. Einen Meter vor ihr schoss ein Wagen über die magnetische Straße, der sie voll erfasst hätte, wenn sie weitergelaufen wäre.
Sie setzte ihren Weg fort. Sollte etwas mehr aufpassen. Könnte mich auch in anderen Wissenschaften versuchen, interdisziplinär gewissermaßen. Sprache zum Beispiel. Einfach ein paar überflüssige Buchstaben streichen und nächstes Jahr zum Obersenator gewählt werden. C, Q, V und X braucht doch Niemand. »Klife fögelt Leksi im KwoWertis«, das wäre doch was. Auch Y und Z ließen sich ersetzen. J eigentlich ebenfalls, aber »Dschulie« sieht nicht so gut aus. Ist auch noch ein C drin, was mach ich dann mit SCH? Einen neuen Buchstaben erfinden, vielleicht ein S mit zwei Punkten drüber – »Ds ̈ulie«.
Julie war vor der Ruine angekommen. Diese war definitiv noch aus der alten Zeit, ein unvollendeter Turm, der oben nur aus seinem Stahlskelett bestand. Mit vorsichtigen Schritten tappte sie die Betontreppe hinauf. Es folgten eine rostige Leiter, die durch mehrere wandlose Etagen führte, und der Gang über einen breiten Stahlträger, welcher die heikelste Stelle darstellte. Julie schaute nach unten in den nachtschwarzen Abgrund, dann hatte sie bereits das andere Ende erreicht. Die hohe Dosis an goldenem Victrix hatte ihre Höhenangst im Keim erstickt. Sie überquerte die Betonplattform und setzte sich an die Kante, um ihre Füße über der Tiefe baumeln zu lassen.
Der Anblick der Kleinstadt war überwältigend. Sie sog alle Eindrücke auf – die künstlichen Lichter und flackernden Leuchtreklamen, das Brummen der eigentlich lautlosen Magnetautos, das Fußgänger warnen sollte, den leichten Windzug und die Schlaflosigkeit des Ganzen. Hier kam sie zur Ruhe. Trotz des kleinen Zwischenfalls auf der Multisextoilette war es ein erfolgreicher Abend gewesen. Sie war fast alles losgeworden. Als sie in einem Fach ihres Gürtels unverhofft noch eine gelbe Valentulum fand, triumphierte sie innerlich und schluckte sie. Julie stellte sich bildlich vor, wie sich Augenringe und geplatzte Äderchen zurückbildeten, und fühlte sich besser.
Langsam setzte sich die Wirkung der hellblauen Cleo in ihr durch und drängte die aller anderen Substanzen in den Hintergrund. Es fühlt sich an, als würde man von innen kochen. Sie legte den Gürtel neben sich und öffnete ihre Hose. Erst als die Sonne über den glänzenden Dächern erschien, machte sie sich auf den Heimweg.
Julie erwachte von selbst im eigenen Bett. Das war ein gutes Zeichen. Sie langte hinüber zur Schachtel auf dem Nachttisch und nahm eine durchsichtige Pille heraus. Eine Glacies nach dem Aufstehen und gestern hatte nie stattgefunden. Sie bekleidete sich und ging in die Küche, um etwas nicht-pillenförmige Nahrung zu sich zu nehmen. Dazu musste sie an Clive vorbeischleichen, der splitternackt auf der Couch im Wohnzimmer schlief, seine ebenfalls nackte Bekanntschaft Lexi quer über ihm liegend. Es sah nach einer gelungenen Nachfeier aus und Julie war froh, nach dem QuoVertis ihrer eigenen Wege gegangen zu sein.
Sie zog die Wohnungstür ins Schloss und stieg die Treppen hinab, um auf die Straße zu treten. Bei einem staatlichen Währungswechsler machte sie halt und packte das Geld auf den Tisch, das sie gestern verdient hatte. Der künstliche Wechsler sortierte die unterschiedlich großen Metallplättchen nach Silber, Gold, Platin, Lesterium und Legierungen und schmolz vor ihren Augen dickere Platten in genormten Größen daraus. Zum Schluss drückte er ein angeblich fälschungssicheres, staatliches Siegel hinein und kühlte das Edelmetall ab. Alles wurde von einem schwer bewaffneten Senpol-Mann überwacht, der mit herabgelassenem Visier im Hintergrund postiert war, um Passanten von dummen Einfällen abzuhalten. Julie bedankte sich freundlich bei der Maschine und ging weiter.
Ihr nächstes Ziel war Blisstech, das Hauptquartier der Firma selbigen Namens. »Schlafen Sie besser mit Soporatum!« tanzte die Reklame vor ihren Füßen her und Julie musste lachen. In der Tat hatte sie gestern fast alles zu sich genommen außer Soporatum und trotzdem wie ein Baby geschlafen. Sie sprang hoch und versuchte, auf der Reklame zu landen – ein Unterfangen, das so sinnlos war, wie den Mond küssen zu wollen. Was sind wir nur für Esel, geklonte Esel, die bunten Karotten hinterherlaufen. Nein – Bildern von bunten Karotten.
Sie erreichte das Gebäude, das mit seinen weißen Rundungen und durchsichtigen Solarzellenfenstern so gut zur postpostpostmodernen Eleganz seines Viertels passte. Mit klopfendem Herzen hielt Julie den Ausweis, den Vafer ihr besorgt hatte, unter den Scanner des Türbots. Jedes Mal, wenn sie das tat, malte sie sich gedanklich aus, was passieren würde, wenn der Türbot den falschen Ausweis nicht akzeptieren würde. Aber die Iris seines künstlichen Auges wechselte zum gewohnten Grün und ließ sie passieren.
Vafer stand wie üblich in der Produktionshalle und schaute mit müden Augen auf sein digitales Klemmbrett. Er sah aus, als hätte er die Nacht ebenfalls im QuoVertis totgeschlagen und wäre zu Schichtbeginn direkt weiter zu Blisstech geschlurft. Aber Julie wusste, dass er Hausverbot im QuoVertis hatte, und hier kam sie ins Spiel. Als Vafer ihr Näherkommen bemerkte, gähnte er herzhaft und brachte ein schmales Lächeln zustande.
»Du siehst grauenhaft aus.«
Julie lachte und verzichtete darauf, das Kompliment zurückzugeben. Stattdessen kam sie direkt zum Geschäftlichen.
»Von den Gelben brauch ich diesmal ein paar mehr. Die gehen weg wie nichts.«
Sie legte ein paar von ihren Metallplatten auf den Tisch. Vafer steckte sie umgehend in die Tasche seines weißen Kittels.
»Sicher. Nimm dir, was du willst.«
Julie öffnete ihren Gürtel und legte ihn auf den Tisch, dann fing sie an die kostbaren Pillen aus den Behältern zu nehmen, in Tütchen zu verpacken und im Gürtel zu verstauen.
»Mir gefällt dein Gürtel. Wie funktioniert er?«
»DNA-Scanner an jeder Tasche. War nicht ganz billig, aber lohnt sich.«
Sie dachte an die beiden Typen von der Multisextoilette und das ganze Ereignis kam ihr sehr unwirklich vor. Hatte sie sich bei Clive bedankt?
»Nun denn. Ich denke, ich habe alles. Fällt doch nicht auf, dass was fehlt, oder?«
Vafer breitete die Arme aus und zeigte um sich, auf die zahlreichen Maschinen, die geschäftig ihrer Arbeit nachgingen und Pillen produzierten.
»Wenn Trudi und Schneckchen mich nicht verpfeifen ... «
Julie musste über die albernen Namen lachen, die er den Produktionsmaschinen gegeben hatte. Auf dieser Fabrikebene hatte er so ziemlich die einzige Arbeitsstelle, die nicht von einem Roboter besetzt wurde.
»Offiziell natürlich alles Ausschussware. Fehlproduktion.«
Er zwinkerte ihr zu und drückte etwas auf seinem digitalen Klemmbrett herum.
»Was sehe ich denn da? Schneckchen hat wieder etwas mit dem Polyacrylat übertrieben. Das kann ich jetzt alles wegschmeißen«, gab er sich bestürzt und Julie musste grinsen.
»Du hättest Schauspieler werden sollen.«
»Ich weiß«, seufzte er, »aber die da oben brauchen doch Wissenschaftler. Schauspieler haben nichts mehr zu melden.«
Vafer zeigte der Hallendecke den Mittelfinger. Julie bedankte sich und überließ ihn wieder seiner stumpfsinnigen Arbeit, von der auch ihr kleines Gewerbe abhing.
Auf dem Heimweg kam sie an einer kleinen Versammlung von ungefähr zwei Dutzend Demonstranten vorbei, die eine Querstraße hinunter schritten und mit Geräten, die Taschenlampen ähnelten, Banner über ihre Köpfe projizierten. Diese zeigten Parolen wie »Echtmenschen fordern Senatrecht« oder »Arbeitsbefreiung nur für Echtmenschen«. Julie ging kopfschüttelnd an ihnen vorüber, aber einige Passanten waren bereits in nächster Nähe stehengeblieben und warfen der Prozession feindselige Blicke zu. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Senpol die Demonstration auseinandertreiben würde.
Der Klonrassismus hatte in den vergangenen Monaten stark zugenommen. Sie nannten sich selbst Echtmenschen, weil sie ihre Abstammung ausschließlich auf natürlich gezeugte Vorfahren zurückführen konnten, und forderten demnach Vorteile gegenüber den sogenannten Kunstmenschen, die die erdrückende Mehrheit der Bevölkerung ausmachten. Dabei war die ganze Thematik völlig irrsinnig, weil auch der beste Gentechniker einen erwachsenen Klon kaum von einem Nichtklon unterscheiden könnte.
Der Unterschied existierte lediglich in ihren Pässen, und das war Julies Meinung nach von Anfang an der Fehler gewesen. Ein schwarzer Vollkreis für Nichtklone, ein weißer Vollkreis für Klone und ein schwarzweiß-geteilter Kreis für natürlich entstandene Nachfahren von Klonen. Aber war nicht sogar die Frau des ersten Senators schon ein Klon gewesen? Wurde nicht jedem Kind während seiner zwanzigjährigen Schulbildung permanent die Gleichberechtigung aller Menschen – »Aus dem Weg, Klon!«, rief ein Demonstrant ihr zu, ein älterer Mann mit Hass im Blick.
Julie wusste nicht, woher der Mann von dem kleinen, weißen Vollkreis in ihrem Pass wusste, aber bevor sie reagieren konnte, rief ein weiterer Demonstrant: »Klone raus!« und der ganze Umzug von Echtmenschen griff den Ruf auf: »Klone raus! Klone raus!« Beschämt wechselte sie die Straßenseite und eilte mit hochrotem Kopf um die Ecke, bis sie außer Sichtweite war. Sie lehnte sich an eine Häuserwand, warf eine goldene Victrix ein, schloss die Augen und atmete tief durch.
»Alles in Ordnung, Mädchen?«
Ein Passant war auf sie zugetreten und hatte sie angesprochen.
»Mir geht's gut.«
Den Drogen geht's gut.
»Ich und meine Frau haben Senpol bereits alarmiert. Wenn du möchtest, könnten wir vor dem Senat für dich aussagen. Sie hat alles gefilmt.«
»Danke, das ist nett, aber mir geht's gut.«
Julie stieß sich von der Wand ab und setzte ihren Heimweg fort.
Als sie in der Wohnung ankam, lag Clive völlig zugedröhnt auf der Couch. Lexi war immer noch da und beide starrten wie gebannt auf das computergenerierte Fernsehprogramm. Torpeskin, tippte Julie, ihrer mangelnden Reaktionsfähigkeit nach zu urteilen. Immerhin hatten beide vorher Zeit gefunden, etwas Kleidung überzuwerfen. Erst als sie sich zu ihnen auf die Couch setzte, drehten sie ihre Köpfe und bemerkten sie.
»Heute Abend QuoVertis?«
»Stannad«, nuschelte Clive.
Julie gab ihnen jeweils eine durchsichtige Glacies und beide nahmen sie dankbar.
Als sie beim QuoVertis ankamen, war Clive bereits wieder nüchtern. Die Schlange war noch länger als am Vortag und Julie musterte die Reaktionen der Anstehenden, an denen sie wie üblich vorübergingen. Dann blieb ihr Herz fast stehen, denn sie erblickte den schmierigen Kerl, der sie am Vortag auf der Multisextoilette belästigt hatte. Seine Nase war geschwollen und von einem Klammerpflaster geziert. Er hatte sie noch nicht gesehen.
Im nächsten Moment sprang Clive auf ihn zu und scheuerte ihm eine. Sie schlugen sich und für kurze Zeit wirkte der Kampf ausgeglichen, aber dann kam Wenzel herbeigestürmt, um die Kämpfenden auseinanderzutreiben. Er stieß sie voneinander weg und der Belästiger fiel zu Boden. Wenzel setzte zu einem Machtwort an, doch plötzlich griff der zu Boden Gefallene in seine Tasche und zog etwas hervor. Julie sah die weiße Klinge eines Keramikmessers aufblitzen, aber bevor sie aufschreien konnte, hatte es sich bereits bis zum Heft in Wenzels Bauch gebohrt.
Wenzel blickte hinab auf das Messer in seinem Bauch und seufzte.
»Bursche, das war richtig, richtig dumm von dir.«
Mit einer einzigen Bewegung brach er ihm den Arm. Dann zog er das Messer aus seinem Bauch, steckte es in seine Tasche, ließ den Schreienden liegen und begab sich zurück auf seinen Platz an der Tür. Die Umstehenden redeten lautstark durcheinander, ein paar verließen sogar die Schlange und eilten davon.
Etwas fassungslos über das, was sie gerade gesehen hatte, folgte Julie dem massiven Türsteher. Dieser hatte wieder begonnen, die Vordersten in der Schlange wie gewohnt abzufertigen. Aus dem Loch in seinem Hemd sickerte kein einziger Tropfen Blut, aber sie bildete sich ein, dass sich an den Rändern ein Schmierölfleck ausbreitete.
»Ich ... ich wusste nicht, dass ... dass – «
»Was? Dass ich ein Androide bin?«
»Aber das ergibt keinen Sinn! Tag für Tag bringe ich dir fünf Dopex mit, aber wofür braucht ein Androide Dopex?«
»Hmm. Hast du mich jemals eine nehmen sehen?«
»Nein, glaube ich zumindest.«
»Genau. Die werf ich zu Hause ins selbe Glas, in das ich auch Vafers Pillen geworfen habe, als er noch kein Hausverbot hatte. Wenn es irgendwann mal voll sein sollte, werd ich's verkaufen und vom Erlös für immer in den Urlaub fahren.«
»Und wenn sie bis dahin abgelaufen sind?«
Wenzel blickte sie entsetzt an und sein Kiefer klappte herunter.
»War nur ein Scherz«, log Julie hastig, »die haben kein Haltbarkeitsdatum. Lässt du mich rein?«
Grinsend hielt Wenzel ihr seine Pranke hin und sie legte fünf rote Pillen hinein, die wohl niemals genommen werden würden.
»Uh uh, du kommst hier heute nicht rein«, verbaute er Clive den Weg, der ebenfalls an ihm vorbeigehen wollte, »keine Schlägereien in meiner Schlange.«
Clive wusste besser, als zu protestieren.
»Komm Lexi, gehen wir eben ins Rosert. Julie, was ist mit dir?«
Aber Julie schüttelte den Kopf. Hier hatte sie ihre Kundschaft, hier konnte sie ungestört verkaufen. Sie war bereits drinnen, bevor sie das QuoVertis betreten hatte.
Wieder erst bei Sonnenaufgang verließ Julie die Turmruine und stiefelte nach Hause. Erneut war sie fast alles losgeworden. Wenn das so weiterginge, könnte sie sich bald eine eigene Wohnung leisten. Nicht, dass sie etwas gegen Clive hatte, aber momentan wohnte sie quasi kostenfrei bei ihm, was eine gewisse Unsicherheit in ihrem Leben darstellte. Sie versorgte ihn täglich mit einem Eigenbedarf an Pillen und hatte dafür ihr eigenes Zimmer.
Clive war ein typisches Beispiel für einen modernen Menschen in seinen mittleren Zwanzigern. Ebenfalls Vollklon, arbeitslos, drogenabhängig, feierfreudig. Sein gesetzlich vorgeschriebener Vater war ein hohes Tier im Senat und stattete ihn mit einer ausreichenden Menge Geld aus, interessierte sich aber ansonsten gar nicht für ihn. Clive schlief lange, verbrachte den Tag mit zugedröhnten Miezen auf der Couch und ging abends in Clubs, um neue Miezen aufzureißen. Ein faules und verhältnismäßig sorgloses Leben.
Wie ihm ging es vielen, da mittlerweile fast jede Arbeit von Maschinen durchgeführt wurde und Wohlstand durch die strenge, aber effiziente Regierung durch den Senat viel besser verteilt war. Zuerst kam die Wissenschaft, die dem Menschen Fortschritt verschaffte, danach die Politik nur an zweiter, untergeordneter Stelle.
Julie schloss die Wohnungstür auf. Im Schloss befanden sich prinzipiell dieselben Molekülketten wie auf dem Schlüssel. Die Moleküle reagierten nur mit den passenden Gegenstücken und lange Zeit dachte man, das System sei absolut fälschungssicher. Aber Forschung funktionierte anders. Die Wissenschaft war dem Menschen, ob Echtmensch, Halbklon, Vollklon oder Androide, weit voraus und so war es schon immer gewesen. Unser großer Widerspruch. Wir werden immer in der Vergangenheit leben, aber niemals das Gefühl haben, die Zukunft erreicht zu haben. Gegenwart war ohnehin eine Illusion. Vielleicht war auch das Gegenteil der Fall.
Ihr Kopf schmerzte und sie warf eine klare Glacies ein. Auf dem instinktiven Weg in die Küche kam sie an den schlafenden, nackten Gestalten auf der Couch vorbei. Der Abend im Rosert schien sich für Clive gelohnt zu haben, denn er war nicht nur mit Lexi heimgekehrt, sondern auch noch mit einer anderen, schönen Fremden, deren riesige, honigfarbene Brüste sich nun gleichmäßig im Schein der aufgehenden Sonne hoben und senkten. Viel größer als meine eigenen. Julie blieb stehen und sog den Anblick der nackten, atmenden, ineinander verschlungenen Körper in sich auf.
Wie schaffte Clive es immer, so schöne Frauen mit nach Hause zu schleppen? Sicher, er war stark, sehr mutig, hatte ein ansprechendes Gesicht und eine Dealerin, die in seiner eigenen Wohnung lebte. Aber er war auch impulsiv, faul und wurde seiner Liebschaften schneller müde, als sie »Soporatum« sagen konnten. Vielleicht wollten die Mädchen ja genau das. Alles ganz unverbindlich. Wie oft hatte Clive sie eingeladen, an seinen sogenannten »Nachfeiern« teilzunehmen? Wie oft hatte sie abgelehnt, aus Angst, er würde danach auch ihrer müde werden?
Julie wurde sich bewusst, dass sie wie hypnotisiert auf das Geschlecht der honigfarbenen Schönen starrte, und errötete. Was mache ich hier? Sie ging ein paar Schritte auf die Tür zu.
»Julie?«
Sie blieb stehen und drehte sich um.
»Wir haben alle Pillen von deinem Nachttisch genommen.«
»Schon in Ordnung.«
»Wollte nur, dass du Bescheid weißt.«
Sie wandte sich zum Gehen.
»Möchtest du dich ausziehen und zu uns legen?«
Julie musste lächeln. Er würde niemals aufgeben.
»Gute Nacht, Clive.«
Als sie den Haupteingang von Blisstech erreichte, merkte sie, dass etwas nicht stimmte. Auf dem Gehsteig stand ein schweres Senpol-Multizweckfahrzeug und das Auge des Türbots leuchtete dauergrün. Ohne ihren falschen Ausweis unter den Scanner zu halten ging Julie durch die offene Eingangstür.
Unten in der Halle standen viel mehr Personen als sonst. Sie erkannte eine dunkelhäutige Senpol-Angestellte in typischer Uniform mit geöffnetem Helmvisier, zwei Senpol-Roboter, eine grauhaarige Frau im weißen Kittel und den Geschäftsführer von Blisstech, einen großgewachsenen Mann im stahlblau glänzenden Anzug. Zwischen ihnen lag eine Cryokapsel und in der Kapsel eine Person, von der Julie mit Entsetzen feststellen musste, dass es Vafer war.
Bei ihrem Näherkommen zerstreute sich die Versammlung. Der Geschäftsführer verließ die Halle, die grauhaarige Frau ging in Richtung der Produktionsmaschinen, die Senpol-Roboter verschlossen die Cryokapsel und die Senpol-Angestellte ging auf Julie zu.
»Kann ich Ihnen helfen?«
»I-ist er ... tot?«
Die Senpol-Frau nickte und musterte Julie mit aufmerksamen, braunen Augen.
»Kannten Sie ihn?«
»Ich bin mit Vafer aufgewachsen«, log Julie.
Die Andere betrachtete sie voller Mitgefühl und Bedauern.
»Das tut mir leid.«
»Was ist passiert?«
»Überdosis. Er hatte so ziemlich alles im Blut, was hier hergestellt wird. Soporatum und Torpeskin werden es wohl getan haben. Als er entdeckt wurde, war er bereits seit einigen Stunden tot.«
Schlafen Sie besser mit Soporatum!
»Aber das kann nicht sein. Vafer kannte sich aus, er hätte niemals zu viel von irgendwas genommen.«
Die Senpol-Frau drückte Julie kurz und professionell an sich. Sie musste wie eine stereotypische Angehörige wirken, die nicht glauben wollte, dass der Tod ausgerechnet einen der ihren heimgesucht hatte.
»Geht es Ihnen gut? Kann ich Sie alleine lassen?«
»Mir geht's gut.«
Mir geht's gar nicht gut. Den Drogen geht es auch nicht mehr gut.
»Sie können jederzeit diese Nummer hier anschreiben, da wird man Ihnen helfen.«
Julie bekam kaum mit, dass die Senpol-Frau ihr einen Zettel in die Hand drückte und die beiden Roboter beorderte, die Cryokapsel hinauszuschieben. Sie blieb zurück und setzte sich auf den Boden.
Von wem sollte sie nun ihre Pillen bekommen? Aber wie konnte sie nur so egoistisch sein. Sie hatte Vafer als Menschen gemocht, als einen Freund. Er war auf seine Art unterhaltsam gewesen und sie hatte ihn als verlässlich und nachdenklich empfunden. Sie hatte über ihre geschäftliche Beziehung hinaus das Gefühl gehabt, dass sie beide auf ähnlichen Wellenlängen funktionierten. Er hatte sie auch gemocht. Julie musste an den Zeitpunkt ihres Kennenlernens zurückdenken.
Damals war sie noch Normaltanzende im QuoVertis gewesen. Ab und zu mal eine Multiplex, oder ein paar Celerities. Nichts von dem harten Zeug. Julie war hinausgetreten, einem inneren Verlangen nach Frischluft und Stille folgend, und sah Vafer alleine auf den Stufen vor dem Club sitzen. Sie kannte ihn vom Sehen und wusste, dass er ein Abkommen mit dem Rausschmeißer hatte, drinnen Pillen verkaufen zu dürfen.
»Bist du der Dealer?«
Er sah zu ihr hoch.
»Willst du was kaufen?«
»Was hast du denn?«
»Alles, außer Valentulum.«
Vafer bemerkte ihr Zögern und gab ihr eine weiße Pille.
»Hier, geht auf mich. Pernix. Schon mal genommen?«
Julie schüttelte den Kopf und sie kamen ins Gespräch.
»Ich dachte, Wenzel hätte es sich anders überlegt. Würde vielleicht nach ein paar Tagen Nachsicht walten lassen, aber der Mann ist so eisern wie seine Muskeln. Da verkaufst du einmal ein paar von den schwarzen Pillen und bekommst lebenslanges Hausverbot.«
Julie hörte ihm interessiert zu und Vafer musterte sie. Irgendwie war es anders, als wie sie normalerweise von Männern gemustert wurde.
»Du kennst die schwarzen Pillen nicht, oder? Das Serum?«
Julie schüttelte erneut den Kopf und Vafer erklärte.
Das Pernix kickte, die Zeit verging wie im Flug und sie spürte nicht mehr das geringste Verlangen wieder hineinzugehen. Sie saugte alles auf, was Vafer sagte, und er redete sehr viel. Ihr Blick fixierte sich auf seine Lippen, auf ihre sinnlichen Auf- und Abbewegungen. Julie beugte sich vor, frei von Hemmungen dank der unbekannten Droge, und küsste ihn auf den Mund.
Vafer zog nicht sofort zurück, aber trotz ihres Zustands merkte sie, dass etwas nicht stimmte. Julie löste sich von ihm und blickte ihn fragend an, durch den Pernixschleier hindurch.
»Hör mal ... du bist wirklich nett und so, auch wenn ich dich kaum kenne, aber ... um es einfach zu halten, ich stehe auf Männer.«
Damit war das Thema zwischen ihr als Frau und ihm als Mann für immer geklärt. Nicht jedoch zwischen ihnen als Freunde und später Geschäftspartner. Ein paar Wochen später ging sie zum ersten Mal seine Pillen im QuoVertis verkaufen, alle außer den schwarzen und Soporatum, für das Tanzende keine Verwendung hatten.
Jetzt war er tot und hinterließ in ihr Löcher an mehreren Stellen. »Kostenlose Seelsorge für Klone, Menschen und hochentwickelte Androiden.« Julie zerriss den Zettel, den ihr die Senpol-Frau gegeben hatte, und fing an zu weinen. Er würde neu geklont werden, alle wurden neu geklont. Vielleicht würde er dann auf Frauen stehen, vielleicht sogar auf sie, denn wer wusste schon, was genetisch bedingt war und was sich erst später entwickelte. Aber das war völlig irrelevant, denn er wäre wieder ein Kind. Julie wischte sich mit den Ärmeln ihrer Plastikbluse die Tränen aus den Augen und spähte in Richtung der Produktionsanlage.
Die grauhaarige Frau stand mit dem digitalen Klemmbrett vor den Maschinen und wandte ihr den Rücken zu. Zusätzlich trug sie eine Ocuflex-Brille, die ihr noch tiefere Einblicke in den Produktionsprozess gewährte. Man hatte Vafer sofort ersetzt. Wahrscheinlich waren Trudi und Schneckchen nicht eine Sekunde lang angehalten worden. Julie ärgerte sich über die grauhaarige Frau, über Blisstech und über den Senat. Bevor sie ging, würde sie sich noch einmal mit richtig vielen Pillen eindecken.
Also raffte sie sich auf und schlich außer Sichtweite der Grauhaarigen durch den Maschinenpark. Von den genauen Funktionen der einzelnen Automaten hatte sie kaum Ahnung, aber sie brauchte nicht lange zu suchen, bis sie eine geeignete Stelle fand. Ein paar dünne Schläuche pumpten unerlässlich verschiedene Chemikalien in irgendeinen Tank und Julie zog einen nach dem anderen aus ihren Einspannungen. Weiße und farblose Flüssigkeiten ergossen sich auf den Fußboden und Julie versteckte sich in einer Nische.
Bald darauf kam die alte Frau angerannt, da sie ihr Klemmbrett oder ihre Brille auf den Systemfehler aufmerksam gemacht hatte, und schlug die Hände über dem Kopf zusammen, als sie die stetig wachsende Lache auf dem Boden erblickte. Die Sauerei aufzuwischen und alle Schläuche an den richtigen Stellen wieder zu befestigen würden sie einiges an Zeit kosten. Sie machte sich an die Arbeit und Julie ging lautlos an die Stelle, wo die Alte vorher gestanden hatte.
Hastig stopfte sie alles an Pillen, was sie fand, in die Fächer ihres Gürtels. Keine Zeit für Tütchen, und auch kein Platz. Sortieren würde sie zu Hause, später. Vafer hätte es genauso gemacht. Das unverwechselbare Klicken einer entsicherten Schusswaffe hinter ihr ließ sie erstarren.
»Im Namen des Senates verhafte ich Sie wegen schweren Diebstahls halblegaler Substanzen. Nehmen Sie die Hände hinter den Kopf und drehen Sie sich langsam zu mir um.«
Julie ließ den Gürtel auf dem Tisch liegen, hob die Hände und drehte sich um. Die Senpol-Angestellte, die ihr vorhin noch ihr Beileid ausgedrückt hatte, zielte nun mit einer Elektropistole auf sie, während sie mit der linken Hand die Handschellen aus ihrem Holster zog. Lesterium, mit normalem Werkzeug nahezu unzerstörbar. Neben ihr stand der Geschäftsführer von Blisstech.
»Halt, das ist nicht notwendig.«
Die Senpol-Frau warf ihm einen fragenden Blick zu, ließ jedoch Julie kaum aus den Augen und senkte auch nicht ihre Waffe.
»Sie hat einen Angehörigen verloren. Ich will das persönlich mit ihr besprechen.«
»Aber sie hat gerade einen Diebstahl begangen.«
»Nur, wenn ich den Diebstahl als solchen anerkenne.«
»Außerdem hat sie keine Befugnis, sich hier aufzuhalten.«
»Gut, dann stelle ich sie eben ein. Wie heißt du, Mädchen?«
»Julie.«
»Julie, du arbeitest jetzt für Blisstech.«
Die Senpol-Frau zögerte noch einen Moment, dann steckte sie Elektropistole und Lesterium-Handschellen weg und zuckte gleichgültig mit den Schultern. Sie fragte, ob ihre Dienste noch gebraucht würden und der Geschäftsführer verabschiedete sie. Julie wollte ihr etwas hinterherrufen, sie wollte nicht mit dem Mann alleine sein, den sie gerade versucht hatte zu bestehlen, den sie schon dutzende Male bestohlen hatte. Aber Julie wollte auch nicht verhaftet werden, also schluckte sie ihren Widerstand herunter und ging dem Geschäftsführer hinterher, der sie bat, ihr nach oben zu folgen.
Er führte sie in einen geräumigen Konferenzraum, dessen eine Längswand komplett verglast war und einen Blick auf den Platz vor der Firma gewährte. Sie setzten sich einander gegenüber an die Spitze des riesigen, rautenförmigen Tisches, den Blisstech in der Raummitte aufgestellt hatte. In den Ecken standen künstliche Topfpflanzen, denen man zwar das Grundprinzip der Photosynthese beigebracht hatte, die jedoch darüber hinaus wenig beruhigend und fast so fehlplatziert wirkten, wie sich Julie fühlte.
»Was wollen Sie von mir?«
»Bitte, sag doch Lester zu mir. Lester V, aber einfach nur Lester tut es auch.«
Sie würde sich hüten, den Blisstech-Geschäftsführer irgendetwas zu nennen.
»Was wollen Sie von mir?«, wiederholte Julie, »mich anzeigen?«
»Das hängt ganz vom Ausgang unseres Gespräches ab.«
»Sie können mir nichts nachweisen.«
»Eigentlich kann ich das schon.«
Wie auf Kommando kam die Grauhaarige herein, ging um den Tisch herum und legte Julies Gürtel vor dem Geschäftsführer auf den Tisch. Daneben legte sie eine mittelgroße Tüte voller smaragdgrüner Pillen.
»Danke, Thekla.«
Sie warf Julie durch ihre Ocuflex-Brille hindurch einen eisigen Blick zu und verließ den Konferenzraum wieder.
»Das ist wirklich ein toller Gürtel. Es wäre schade, wenn wir ihn aufschmelzen müssten, damit Senpol sich den Inhalt anschaut.«
Julie gab sich unbeeindruckt, denn sie wusste, dass ihr in diesem Falle höchstens zwei oder drei Wochen in einer Senpol-Zelle und eine mittelmäßige Geldstrafe bevorstanden, vielleicht eine Gehirnwäsche wegen des Drogenkonsums.
»Wie ich sehe, reicht das wohl noch nicht.«
Er tippte auf seinem digitalen Klemmbrett herum und ein Bild wurde auf die kurze Seitenwand des Raumes projiziert. Lester scrollte langsam durch die Datensammlung und gab von Zeit zu Zeit kleine Geräusche der Empörung von sich. Julie schoss das Blut in den Kopf, denn so ziemlich jede Pille, die sie jemals abgezweigt hatten, tauchte in der Statistik auf.
»Ihr müsst ja ordentlich Umsatz gemacht haben, du und Vafer. Ein schlauer Junge, aber psychisch labil. Wusste nicht, was gut für ihn ist. Soporatum wird von vielen unterschätzt.«
»Ich glaube nicht, dass es ein Unfall war«, versuchte Julie das Thema zu wechseln.
Lester ließ sich nicht darauf ein.
»Falls dir das immer noch nicht reicht, dürften ein paar gezielte Fragen im QuoVertis auch weiterhelfen. Wer, wann, was, wie viel und vor allem von wem ... dafür wird man dich neu programmieren, vielleicht sogar liquidieren.«
Julie spürte, dass das nicht das Ende seiner Ansprache war.
»Warum haben Sie mich dann nicht gleich der Senpol-Frau übergeben?«
»Weil ich dir ein Angebot machen möchte.«
Er hielt die Tüte mit den grünen Pillen hoch.
»Die hier kennst du noch nicht, oder?«
Julie schüttelte mit dem Kopf.
»Wir nennen es Iacturum, das wird natürlich nicht der Marktname werden. Es ist zur Zeit noch ein Prototyp, wenn man es so nennen möchte.«
»Und ich soll es ausprobieren?«, fragte Julie.
»Nein. Du sollst es verkaufen, das heißt, verschenken.«
»Wie ist die Wirkung?«
»Das ist genau das Problem. Wir haben den Eindruck, dass es bei jedem Menschen unterschiedlich wirkt, und da kommst du ins Spiel. Du kennst Leute, du hast eine gute Kundschaft. Wir lassen dich weiter unsere Pillen verkaufen, werden sie dir jetzt sogar freiwillig geben. Den Erlös darfst du komplett behalten. Im Gegenzug wirst du jedem Käufer zusätzlich eine Iacturum geben und beobachten, wie sie wirkt. Hier und da eine Frage stellen, darauf achten, wie sie sich mit den normalen Pillen verträgt.«
»Ist das nicht verboten?«
»Natürlich ist es das, Mädchen. Aber alles, was Blisstech herstellt, wurde genau so auf den Markt gebracht. Ich wünschte, Vafer wäre hier, um es dir besser zu erklären, als ich es kann.«
Julie fühlte sich manipuliert. Wenn das stimmte, was ihr Gegenüber sagte, hatte Vafer ihr einiges verschwiegen. Sie hätte niemals vermutet, dass er unausgereifte Produkte im Auftrag seiner Firma verschenkte und somit Versuche an den Besuchern des QuoVertis durchführte. Sie war immer davon ausgegangen, dass Vafer seine Ware selbstständig abgezweigt und verkauft hatte, um sein Gehalt etwas aufzubessern und einer Abendbeschäftigung nachzugehen.
»Sind wir im Geschäft, Julie?«
Er war aufgestanden, um den Tisch herumgegangen und hielt ihr nun ihren Gürtel in der Rechten und das grüne Iacturum in der Linken hin. Julie griff nach dem Gürtel, aber Lester zog ihn weg und hielt ihr stattdessen die grünen Pillen direkt unter die Nase. Julie nahm die Tüte und er reichte ihr den Gürtel.
Sie war bereits an der Tür, als der Geschäftsführer noch einmal das Wort ergriff.
»Und komm ja nicht auf die Idee, mit dem Iacturum zu Senpol zu gehen. Die würden das Zeug als harmlos einstufen und nicht einmal herausfinden können, wo es hergestellt wurde. Dafür würde dann keine halbe Stunde später dieser erschreckend detaillierte Datensee hier«, er hielt sein digitales Klemmbrett hoch, »bei ihnen aus der Leitung tropfen. Und das wäre doch schade, oder? Ich hoffe auf eine gute Zusammenarbeit, du gehörst jetzt zu Blisstech.«
»Komm schon, Julie. Wir sitzen jetzt schon seit einer Stunde hier rum und warten, dass was passiert. Bitte gib mir eine.«
Julie würde nichts an ihre Kunden verkaufen, was sie vorher nicht selbst getestet hatte. Voller Misstrauen hatte sie eine Iacturum zu grünem Pulver zerstampft und sich eine Prise auf die Zunge gestreut. Sie merkte gar nichts. Clive saß neben ihr und hatte in derselben Zeit drei Pernix eingeworfen, aber sie sah ihm an, dass er scharf auf das neue, grüne Zeug war.
»Na gut. Wir nehmen jeder eine Ganze. Du bist die Testgruppe, die bereits unter Einfluss steht, und ich bin die nüchterne Vergleichsgruppe.«
Sie schluckten die grüne Pille und warteten. Aber der Nachmittag zog sich hin und es trat keine Wirkung ein. Clive war sich sicher, dass das angenehme Kribbeln in seinen Extremitäten vom Iacturum kam, aber Julie hatte den Eindruck, dass es eher am Pernix lag.
»Man hat mir gesagt, dass es bei jedem unterschiedlich wirkt. Ich bin gespannt, was die Kunden im QuoVertis dazu sagen werden.«
»Hier, das ist neu. Probier eine aus, geht auf mich. Und sag mir hinterher, wie du sie fandest.«
Julie gab dem aufgebrezelten Mädchen neben ihrer verlangten Multiplex noch eine von den Smaragdgrünen. Sie wusste, dass ihr Ruf darunter leiden könnte, wenn das Iacturum auch bei den anderen keine Wirkung zeigte. Immerhin nahm sie kein Geld dafür und verkaufte die normalen Pillen wie gewohnt.
Die schillernde Menge tanzte zum stumpfen Rhythmus, der aus den vibrierenden Wänden drang, kaufte Pillen und amüsierte sich wie an jedem anderen Abend im QuoVertis.
»Geht's dir gut ... Lexi?«
»Nicht wirklich ... Clive hat gesagt, er ist mit mir fertig ... er tut, als würden wir uns nicht kennen.«
Julie tat, als überraschte sie das. In Wirklichkeit hätte sie ihr von vornherein sagen können, dass es wie immer ablaufen würde. Clive servierte sie alle ab, wenn sie anfingen, ihn zu langweilen.
»Kommst du einen Moment raus, Julie? Mir geht's wirklich nicht gut.«
Eine kurze Pause und etwas Frischluft würden dem Geschäft nicht schaden. Ein wenig langweiliges Beziehungsgeheule ihrem Gemüt auch nicht. Julie folgte dem Mädchen mit den Molekülohrringen nach draußen.
Dort angekommen beugte sich Lexi vor und kotzte auf die Stufen. Julie hielt pflichtbewusst ihre Haare, obwohl sie sich vor Erbrochenem ekelte. Ein Vorteil, wenn man seine Haare petrifiziert, so wie ich. Nichts gerät dahin, wo es stört. Dann klappte Lexi zusammen und Julie fing sie erschrocken auf. Sie setzte das zugedröhnte Mädchen mit dem Rücken an die Mauer des Clubs und schaute ihr in die Augen.
»Du siehst gar nicht gut aus. Was hast du genommen?«
»T-torpeskin ... u-und deine g-grünen ... «
Julie machte gedanklich eine Notiz bezüglich dieser Kombination.
Die Tür zum QuoVertis öffnete sich und ein junger Mann wurde von vier anderen nach draußen getragen. Er hatte sich komplett vollgekotzt und war nicht mehr ansprechbar.
»Was hat er genommen?«, fragte Julie einen der besorgten Träger.
»Hmm ... das Übliche. Multiplex, Celerities. Und eine von diesen Neuen, diese Grünen.«
Julie wurde heiß und kalt.
Die Tür öffnete sich erneut und Clive trat heraus, zugedröhnt, aber unbeschwert wie eh und je.
»Geh mal rüber und kümmer dich um deine Freundin«, brachte Julie hervor.
»Sie ist nicht meine Freundin.«
»Herrje, ist doch völlig egal. Ihr geht's dreckig.«
»Was ist los mit ihr?«
»Lexi?«
Aber Lexi antwortete nicht. Sie schien das Bewusstsein verloren zu haben.
Ein weiteres, von schwerer Übelkeit geplagtes Mädchen wurde hinausgeschleppt und Wenzel schien sichtlich überfordert mit der Situation. Er warf einen Blick auf das Mädchen mit den Torpeskin-Ohrringen und kontaktierte den Notdienst von Senpol.
»Name Ismo, Gattung Echtmensch, Alter einundzwanzig, Spuren von Multiplex und Vacuitum im Blut, Zustand instabil«, fasste der Senpol-Roboter zusammen, nachdem er dem bewusstlosen, jungen Mann mit seiner modifizierten Hand in den Arm gestochen hatte, kurz bevor er in das Multizweckfahrzeug gerollt wurde.
Julie saß auf den Stufen, mit den Armen über den Knien verschränkt, und betrachtete geistesabwesend das gleichmäßige, violette Flackern der Warnlichter auf den Senpol-Fahrzeugen. Sie konnte nicht fassen, dass das alles ihre Schuld sein sollte. Es musste irgendeine Erklärung geben.
»Name Gretha, Gattung Echtmensch, Alter achtzehn, Spuren von Cleos, Glacies und Multiplex im Blut, Zustand instabil.«
War es wirklich das Iacturum? Viele der Umstehenden hatten es auch genommen, in Kombination mit allem, was sie verkaufte, und waren bester Gesundheit. Sie hatte es selbst getestet und rein gar nichts gemerkt. Der Senpol-Roboter registrierte das Iacturum nicht einmal, was daran liegen könnte, dass es offiziell noch nicht existierte. Sie hatte keine Ahnung, wie Senpol-Roboter in so einem Fall reagierten.
»Name Lexi, Gattung Echtmensch, Alter vierundzwanzig, Spuren von Torpeskin im Blut, Zustand instabil.«
Julie wollte es nicht hören. Sie wollte sich irgendwo verkriechen, am besten in ihrer Turmruine, und sich vorstellen, dass das alles gerade nicht stattfand.
»Ich wusste gar nicht, dass Lexi ein Echtmensch ist«, bemerkte Clive, der betrübt neben ihr saß.
Echtmensch. Ist doch völlig egal. Wie du sagst, du hast es eh nicht gewusst.
»Name Junifer, Gattung Echtmensch, Alter einund ... «
Julie fiel auf, dass bis jetzt alle Betroffenen Echtmenschen waren. Sie selbst, genau wie Clive, war Vollklon und nicht betroffen. Sie wusste nicht, was sie mit dieser Erkenntnis anfangen sollte.
»Julie? Können wir kurz reden?«
Wenzels massige Gestalt hatte sich vor ihr aufgebaut. Sie hatte sich vor diesem Moment gefürchtet, in dem Wenzel sie zur Rede stellen würde, denn er wusste genau, wer das grüne Zeug verbreitet hatte. Wenn er sie bei Senpol anschwärzte, war es aus. Julie musste sich etwas einfallen lassen, wie sie ihn davon abhielt.
»Okay. Gibt es hier einen Ort, wo keiner zuhört?«
Wenzel nickte und ging voran. Sie folgte ihm durch den mittlerweile halbleeren Club und sie betraten ein Hinterzimmer mit der Türaufschrift »Privat«.
»Julie, ich mache mir Sorgen.«
Bis vorhin hätte sich nicht vorstellen können, dass dem riesigen Rausschmeißer irgendetwas Sorgen bereiten könnte.
»Ich habe Grund zur Annahme, dass jemand das QuoVertis ruinieren will. Irgendjemand, der in der Lage ist, Pillen herzustellen, die einen richtig fertig machen.«
Von dieser Seite aus hatte sie das Dilemma noch nicht betrachtet. Dennoch, wenn sie irgendjemandem ihre Theorie mitteilen könnte, wäre es Wenzel.
»Das ergibt keinen Sinn, Wenzel. Die Pillenhersteller leben von den Clubs. Alle hier nehmen irgendetwas. Selbst wenn die Pillen inoffiziell verkauft werden, profitieren sie am Ende davon.«
Er dachte darüber nach und fragte schließlich: »Was ist also deine Theorie?«
Julie erzählte von ihrer Feststellung, dass das Iacturum ausschließlich bei Nichtklonen wirkte.
»Ich dachte, Klone und Nichtklone wären biologisch nicht unterscheidbar. Aber was weiß ein Androide – ein Türsteher schon von Wissenschaft?«
Julie zuckte hilflos mit den Schultern, auch sie war keine Wissenschaftlerin und wusste die Erklärung nicht.
»So oder so, du musst mir verraten, woher du die Pillen hast.«
Julie atmete tief durch und gab schließlich zu: »Die hat mir der Geschäftsführer von Blisstech gegeben.«
Wenzel nickte grimmig.
»Ich weiß.«
Mit diesen Worten holte er aus und schlug Julie mit der Faust gegen die Schläfe. Sie flog zu Boden und prallte schmerzhaft mit dem Hinterkopf auf. Überall tanzten weiße Sterne und ihr Ohr fiepte, wo er sie getroffen hatte.
»Hättest du es nicht gesagt, hätte ich dich erst einmal laufen lassen. Aber so lässt du mir und Blisstech keine Wahl.«
Er beugte sich über sie und stülpte ihr einen dunklen Stoffsack über den Kopf. Julie versuchte halbherzig, ihn davon abzuhalten, aber sein Schlag hatte ihr jegliche Koordination und Kraft geraubt. Wenzel zog den Sack zu und sie wurde panisch, weil ihr die Kordel halb die Luft abschnürte.
Dann hörte sie ein Klicken und spürte einen eigenartigen Druck in ihrem Bein, der sich schnell nach oben hin ausbreitete. Er musste ihr ein Narkotikum ins Bein gejagt haben, schoss es ihr durch den schmerzenden Schädel, während die blinkenden Sterne langsam zu erdrückender Leere wurden.
Julie hatte die wirrsten Träume. Sie träumte unter anderem, dass man sie in einen versteckten Raum irgendwo unter dem QuoVertis brachte. Man nahm ihr den Sack vom Kopf und das elektrische Licht stach in ihren Augen wie tausend Nadeln. Langsam gewöhnte sie sich an die sterile Beleuchtung und nahm den Raum um sie herum wahr. Er wirkte eher wie eine Zelle und eine Wand war komplett verspiegelt.
Auf einmal stand sie vor eben jenem Spiegel und schaute sich selbst in die Augen. Sie sah grauenhaft aus. Ihre Schläfe war geschwollen und sie betastete sich vorsichtig mit dem Finger und schrie auf vor Schmerzen. Sie drückte noch fester, um sich selbst zum Aufwachen zu bringen, und schrie noch lauter.
Dann registrierte sie in der rechten Ecke des Spiegels eine Bewegung. Da war noch jemand in der Zelle. Julie drehte sich um und presste sich ängstlich gegen die Spiegelwand. Die Gestalt, die eben noch in der Ecke gelegen hatte, richtete sich zu voller Größe auf und starrte sie an. Er wirkte überrascht, sie hier zu treffen. Es war der andere Junkie, der ihr auf der Multisextoilette die Arme verdreht hatte, bis Clive ihm den Kopf gegen die Wand geschlagen hatte. Julie meinte nun zu wissen, wie sich das angefühlt hatte.
Er war völlig zugedröhnt und sie musste wie gelähmt mit ansehen, wie er auf sie zu torkelte.
»Seit Tagen geben die mir hier nur Victrix und Cleos zu fressen ... «
Der Junkie hielt direkt vor ihr inne und starrte ihr boshaft in die Augen, sein Gesicht nur eine Handbreit von ihrem entfernt.
»... dabei hab ich solche Kopfschmerzen.«
Voller Ekel drehte sie sich von ihm weg. Er hielt seine Nase an ihr Ohr und zog die Luft ein, als würde er ihren Geruch aufsaugen.
»Verstehst du?«, flüsterte er in ihr Ohr.
Julie wagte es nicht, sich zu rühren.
»SOL! CHE! KOPF! SCHMER! ZEN!«, kreischte er und schüttelte sie. Sie schrie und er packte sie an den Haaren, warf sie zu Boden.
Dann war er über ihr, setzte sich auf sie und drückte ihr die Luft ab, stieß seine Hand schmerzhaft zwischen ihre Beine.
»Weißt du, was das für ein Druck ist?! Nur Victrix und Cleos zu fressen!«
Er versuchte ihr die Hose von den Beinen zu reißen. Julie hatte allen Widerstand aufgegeben. Ihr Kopf war zur Seite gedreht und sie beobachtete mit matten Augen die Szene in der verspiegelten Wand. Sie sah einen Wahnsinnigen, der dabei war, eine junge Frau in irgendeinem Keller zu vergewaltigen und umzubringen. Aber das war nicht sie. Das war irgendwer anderes.
Die Zellentür ging auf und Wenzel trat ein. Er packte den Irren am Hals und warf ihn mit einer mühelosen Bewegung in die Ecke des Raumes, aus der er gekommen war. Der Koloss griff Julie unter beide Arme und hob sie hoch, als wäre sie eine aus Carbopor gefertigte Puppe.
»Komm mit, er will mit dir reden.«
Da sie keine Anstalten machte, sich von selbst zu bewegen, legte er sie über die Schulter wie einen Sack Kunststoffgranulat und trug sie aus der Zelle. Sie gingen einen schwach beleuchteten Korridor mit Schimmel an den Wänden hinunter.
»Hab den Burschen vor drei Tagen oben auf der Toilette gefunden. Er sah ein bisschen beschädigt aus und ich hatte Angst, er würde dem Ansehen des QuoVertis schaden, wenn er wieder bei Sinnen wäre. Also hab ich ihn nach hier unten verlegt, um mich später mit ihm zu befassen.«
Wenzel schleppte Julie in einen Raum und platzierte sie auf einem Stuhl. Gegenüber saß Lester V im unverkennbaren, stahlblau schimmernden Anzug.
»Hallo Julie. Es betrübt mich, dich unter solchen Umständen wiederzusehen. Ich hätte gern länger mit dir zusammen gearbeitet. Fast dachte ich, du wärst vertrauenswürdig, aber du hast dem erstbesten Türsteher von mir erzählt.«
Lester warf einen Blick hinüber zu Wenzel, der sich seitlich an der Wand aufgebaut hatte.
»Loyales Personal ist schwierig zu finden heutzutage und dann sind es meistens Androiden. Nicht, dass ich etwas gegen Androiden hätte, wenn sie gute Arbeit leisten.«
Er nickte dem künstlichen Riesen anerkennend zu.
»Aber nun zu dir, Julie. Du hast bestimmt ein paar Fragen. Nur zu, stell sie.«
Julie presste die Lippen aufeinander und schwieg. Wenzel trommelte ungeduldig mit den Fingern gegen die Wand. »Oder sollen wir gleich zum zweiten Teil kommen, nach dem du für immer schweigen wirst?«
»Wieso hassen Sie die Echtmenschen so sehr?«, formulierte Julie.
Lester lachte auf.
»Ja, das wollte ich hören. Du bist ein kluges Mädchen, aber du hast das Offensichtlichste übersehen. Was passiert, wenn bekannt wird, dass ... wie viele, Wenzel?«
»Elf.«
»... dass elf junge Echtmenschen in einem Club vergiftet wurden?«
Julie hatte eine Vermutung, sprach sie jedoch nicht aus.
»Genau, es wird einen gewaltigen Aufstand geben. Du siehst doch, was jetzt schon auf den Straßen passiert. Die Echtmenschen werden sich zusammenrotten und einen Schuldigen fordern. Sie werden endlich einen Grund haben, vor dem Senat gegen ihre Unterdrückung durch die geklonte Mehrheit vorzugehen. Ich habe ihnen ihr Ziel erneut vor Augen gehalten, ihnen eine Rechtfertigung gegeben. Ich bin es leid, dass ich und meinesgleichen von euch Kunstmenschen als zweitklassig behandelt werden, als fehlerhafte Vorlage, als Prototyp des Klonmenschen.«
»Sie haben ihre eigenen Leute vergiftet, um sie zur Anarchie anzustacheln?«, fragte Julie fassungslos.
»Ein paar Opfer musste ich in Kauf nehmen. Kollateralschäden lassen sich nie vermeiden. Aber es muss nicht einmal so kommen, denn wir haben das Gegenmittel. Wenn der Rassenkampf erst richtig zur Sache geht, werde ich es bekannt machen, vor dem Senat als großer Retter dastehen und Anerkennung ernten. Der Konflikt wird dann aber nicht mehr aufzuhalten sein.«
»Sie sind wahnsinnig! Es wird viel Blut fließen und Sie werden den Fortbestand aller Echtmenschen riskieren!«
Lester V schmunzelte.
»Interessant, genau das hat Vafer auch gesagt.«
Obwohl Julie wusste, dass Vafer sie manipuliert hatte, durchfuhr sie der Schatten eines Schmerzes bei der Erwähnung seines Namens.
»Apropos, Vafer. Natürlich hattest du Recht, es war kein Unfall. Aber es war auch kein Mord. Er hat es selbst getan, nachdem er gemerkt hat, dass er viel zu tief mit drinsteckte. Ein pfiffiger Junge, aber zu schwach für den Krieg, den wir begonnen haben. Schau mal, er hat dir sogar einen Abschiedsbrief hinterlassen.«
Lester hielt ein handbeschriebenes Blatt hoch, das neben ihm gelegen hatte.
»Einfach zwischen die gelben Pillen gelegt. Er dachte wohl, da würdest du ihn vor uns finden. Eigentlich sehe ich keinen Anlass, warum du ihn überhaupt lesen solltest.«
Er riss den einseitigen Abschiedsbrief mit einer sauberen Bewegung in der Mitte durch und ließ die beiden Hälften zu Boden segeln.
»Ich habe dir nichts mehr zu sagen. Blisstech hofft auf dein Verständnis, dass du hiermit für das mögliche Ausplaudern von Firmengeheimnissen gefeuert und liquidiert wirst. Wenzel wird sich mit den Einzelheiten befassen. Leb wohl, Julie.«
Mit diesen Worten erhob sich Lester und verließ den Kellerraum.
Wenzel nahm seinen Sitzplatz ein.
»Hättest du das gedacht, Julie? Wenzel, der Türsteher vom QuoVertis, arbeitet für Blisstech?«
Julie ignorierte die rhetorische Frage. Ihr Gegenüber zog eine Schublade unter dem Tisch auf und nahm eine Schachtel heraus, danach ein zylindrisches Objekt und schließlich eine kleine Maschinenpistole.
»Hausverbot im QuoVertis. Die Nummer war gut, oder?«
Stumm sah Julie zu, wie der Androide eine Patrone nach der anderen ins Magazin steckte.
»Die mysteriösen, schwarzen Pillen gibt es wirklich, aber ich könnte dir nicht viel darüber sagen. Was weiß ein Androide schon von Zellalterung?«
Er lachte über seine scheinbar witzig gemeinte Aussage.
»Aber Vafer konnte das grüne Zeug ja nicht auch noch verkaufen. Zu auffällig, man hätte Blisstech verdächtigt. Stattdessen haben wir die Nummer mit dem Hausverbot erfunden und gewartet, bis jemand Geeignetes anbiss und freiwillig als entsorgbares Organ einsprang. Ja Julie, ich rede von dir. Du bist eine Sollbruchstelle.«
Wenzel grinste und schraubte den Schalldämpfer auf die Waffe, dann steckte er sorgfältig das Magazin hinein.
»So, das war's dann wohl Julie. Hast du noch etwas zu sagen?«
»Dopex hat ein Haltbarkeitsdatum«, erwähnte sie trocken.
»Die roten Pillen hab ich mir nur von dir geben lassen, damit ich besser mitzählen kann, wie oft du im QuoVertis bist. Das hat Blisstech dann mit den geklauten Pillen verglichen, um mitverfolgen zu können, ob du nicht auch noch woanders verkaufen gehst.«
»Warum dann gleich fünf auf einmal?«
»Ich habe manchmal numerische Schwierigkeiten. Fünf waren zuverlässiger.«
Er zielte mit der Waffe auf sie, dann zögerte er und legte die Pistole auf die Tischplatte.
»Weißt du was? Ein kleines Mäuschen wie dich zu erschießen lohnt sich nicht.«
Julies Herz schlug ihr bis zum Hals und sie war gespannt, was er als Nächstes sagen würde.
»Viel zu große Sauerei, ich müsste das alles selbst wegwischen. Ich werde dich per Hand kalt machen.«
Wenzel stand auf und ging auf sie zu. Julie hatte einen plötzlichen Einfall, wie sie das Blatt doch noch zu ihren Gunsten wenden könnte.
»Aktiviere Abschaltsequenz S1«, rief sie dem Androiden entgegen.
»Was soll das denn werden?«
»Herunterfahrroutine S1 einleiten«, versuchte sie es erneut, während Wenzel weiter auf sie zutrat.
»Hältst du mich etwa für einen einfachen Staubsaugeroboter, den man nach Belieben abschalten kann?«, zeigte sich dieser amüsiert.
»Protokoll zur Deaktivierung – «
Aber weiter kam Julie nicht, denn die Tür sprang auf und der Junkie aus ihrer Zelle stand im Raum. Sein nackter Oberkörper war über und über mit Blut beschmiert, vermutlich mit seinem eigenen. Einige Sekunden lang warfen er und der Androide sich kühle, berechnende Blicke zu, dann stürzte sich Wenzel auf den ungebetenen Gast. Dieser zeigte keinen Anflug von Panik, als ihn die muskulöse Maschine zu Boden warf und ihm den Kopf verdrehte, bis das Rückgrat knackte. Goldenes Victrix.
Als Wenzel fertig war, grunzte er und drehte sich wieder um zu Julie. Er blickte in die Mündung der Waffe, die er eben zusammengesetzt hatte. Es klickte einmal. Ohne ein weiteres Wort zog Julie den Abzug durch, bis das Magazin leer war.
Auch wenn die Durchschlagkraft allein den Riesen nicht zu Fall gebracht hatte, taumelte er einige Sekunden später und fiel zu Boden, quer über den leblosen Junkie. Julie trat auf ihn zu und begutachtete ihr Werk. Der Rückstoß der Waffe hatte sie schnell nach oben verziehen lassen, aber die ersten Kugeln hatten ihr Ziel gefunden. Aus den Löchern in seinem Schädel schauten zerfaserte Äderchen aus Kunststoff heraus, die ihm ein seltsames, übernatürliches Aussehen verliehen. Schmierölflecken begannen die Ränder der Einschusslöcher zu säumen. Die Krone der Technik. Wenn Wenzel jemals gelebt hatte, war er nun tot.
Julie ließ die Maschinenpistole fallen und setzte sich auf den Stuhl, um ihre Gedanken zu sortieren. Teile von ihr waren erleichtert, dass die akute Gefahr vorüber war. Andere Teile waren schockiert über das, was sie in der letzten Viertelstunde gesehen und gehört hatte. Wieder andere Teile fragten sich, ob das Erschießen von Androiden als Mord galt, denn es gab keine Präzedenzfälle. Ein paar Teile waren immer noch vom Narkotikum gelähmt, das er ihr gegeben hatte, und die restlichen stellten die Frage, was Julie nun machen sollte.
Ihr Blick fiel auf eine zu Boden gefallene Hälfte von Vafers Abschiedsbrief. Sie hob ihn auf und begann ihn zu lesen. Es handelte sich um die obere Hälfte.
Liebe Julie,
wenn du diesen Brief liest, werde ich tot sein. Ich hoffe inständig, dass du ihn vor den anderen findest, deshalb lege ich ihn zum Valentulum. Wahrscheinlich hattest du Recht, ich hätte doch Schauspieler werden sollen, dann wäre alles anders gekommen. Es war alles von vornherein geplant gewesen und ich würde mich gerne dafür entschuldigen. Aber ich weiß, dass auch mein Selbstmord mich nicht reinwaschen kann. Dennoch hoffe ich, damit zumindest dich retten zu können. Du musst den Kontakt zu Blisstech sofort abbrechen und aufhören Pillen zu verkaufen. Traue niemandem, denn wir haben alle schreckliche Dinge getan. Hüte dich vor Wenzel, dem Türsteher. Aber es geht hier nicht nur um dich, sondern auch um etwas
An dieser Stelle endete die erste Hälfte des Briefes und Julie bückte sich nach der zweiten. Sie überflog sie eilig, aber eigentlich ging es nur um das, was Lester ihr schon mitgeteilt hatte. Hastig faltete sie beide Hälften zusammen und steckte sie in ihre Tasche. Julie verließ den Raum und folgte dem Flur bis zu einer Treppe, die oben in einer weiteren Tür endete. Überraschenderweise war die Tür nicht abgeschlossen und führte als versteckter Zugang direkt in den Raum, in dem Wenzel sie überwältigt hatte. Auch die Tür mit der Aufschrift »Privat« war nicht verschlossen.
Es musste früher Nachmittag sein, denn der Hauptraum des QuoVertis war wie ausgestorben. Ein einzelner Putzroboter ging beharrlich seiner Arbeit nach und saugte leere Pillentütchen, Erbrochenes und gelegentlich einen Ohrring vom Boden auf. Julie schlich an ihm vorbei und verließ den Club durch den Haupteingang. Sie wusste, wohin sie zu gehen hatte.
Die Eingangshalle des riesigen Senatsgebäudes war einer alten Bauweise nachempfunden, in der dekorative Säulen aus weißem Marmor als elegant gegolten hatten. Julie schritt auf den Empfangsschreibtisch zu und wandte sich an den Mitarbeiter, der dahinter saß und nun von seiner Arbeit aufblickte.
»Guten Tag, junge Dame. Was kann ich für Sie tun?«
Dann erkannte er sie.
»Du bist doch das Mädchen, das neulich von den Demonstranten beschimpft wurde. Kommst du deswegen zu uns? Meine Frau hat die Aufnahmen noch nicht gelöscht.«
»Eigentlich geht es um ein anderes Anliegen.«
»Wie kann ich dir helfen?«
»Es ist etwas sehr Diskretes. Haben Sie eine Art Rassenbeauftragten?«
»Sicherlich. Soll ich ihr eine Nachricht zukommen zu lassen?«
Traue niemandem.
»Ich würde sie gerne persönlich sprechen.«
Der Angestellte zögerte, tippte dann etwas auf seinem biokompatiblen Computer und gab ihr die Nummer des Raumes, den sie aufzusuchen hatte.
Die Rassenbeauftragte stand am Fenster, als Julie eintrat. Sie war eine Frau weit jenseits ihrer besten Jahre, wie man ihr bereits an den kurzen, weißen Haaren ansah. Sie drehte sich um und Julie blickte in ein faltiges, sympathisches Gesicht. Irgendetwas kam ihr an der Frau bekannt vor, aber sie hätte nicht sagen können, was es war. Vielleicht hatte sie das Gesicht schon einmal in irgendeiner Reklame gesehen.
»Na da sieh mal einer an«, freute sich die alte Frau, »ein Spiegel mit fünfzig Jahren Zeitverzögerung.«
Julie verstand nicht, was sie meinte.
»Wieso kommen Sie mir so bekannt vor?«
»Vielleicht, weil du gewissermaßen dir selbst gegenüber stehst«, antwortete die Alte.
Es fiel Julie wie Schuppen von den Augen. Aufgrund des hohen Alters der Frau hatte sie nicht gemerkt, dass sie vor ihrer eigenen genetischen Vorlage stand.
»Es ist beruhigend zu sehen, dass ich mich gut halten werde.«
Etwas Besseres fiel Julie nicht ein.
»Ach hör auf, du junges Ding. Du machst mich noch eifersüchtig.«
»Das wollte ich nicht. Ich komme wegen des Vorfalls im QuoVertis.«
Ihr älteres Ebenbild hörte aufmerksam zu, während Julie von Blisstechs Plänen erzählte. Ihre eigene Rolle in dem Ganzen ließ sie vorerst aus, da sie sich der strafrechtlichen Konsequenzen bewusst war.
»Das klingt sehr abenteuerlich, was du mir erzählst, aber du weißt, wie Wissenschaft funktioniert. Ohne Beweis läuft gar nichts.«
Julie gab ihr die untere Hälfte von Vafers Abschiedsbrief.
»Das hier ist von einem ehemaligen Blisstech-Mitarbeiter.«
Die Rassenbeauftragte las laut vor.
viel Größeres, nämlich um den Frieden zwischen Klonen und Echtmenschen. Blisstech hat das Iacturum entwickelt, gegen das Kunstmenschen immun sind und das bei Echtmenschen zu Koma und Tod durch einen absichtlich herbeigeführten Gendefekt führt. Lester V hat mich beauftragt für die Verteilung des Iacturums im QuoVertis zu sorgen. Ich konnte es nicht und sehe meinen Selbstmord nun als letzten Ausweg. Aber das wird sie nur kurz aufhalten, also musst du dich an den Senat wenden. Unten habe ich die Formel für das Iacturum und für sein Gegenmittel notiert. Ich kann meine Finger kaum noch spüren. Leb wohl, Julie.
»Den chemischen Kram mit den Formeln können Sie weglassen, davon versteh ich eh nicht genug«, unterbrach Julie die Vorlesende.
Diese las den Brief erneut und leise, dann blickte sie wieder auf zu Julie.
»Das sollte reichen, um vor dem Senat gegen ihn vorzugehen.«
Sie begann sofort alles in die Wege zu leiten.
Das Senatsverfahren war kurz und schmerzlos vonstattengegangen. Lester V wurde hereingebracht, eskortiert von vier Senpol-Robotern. Man klagte ihn an wegen Rassenverhetzung, versuchtem Mord in mehreren Fällen, nicht-regulierter Verbreitung von halblegalen Substanzen, Missbrauchs des Senatorenamtes und wegen der Instrumentalisierung seiner Angestellten.
Man las ihm die zweite Hälfte des Briefes vor, die er selbst zu gut kannte, und niemand fragte nach der ersten Hälfte. Der Stolz eines Fanatikers verbot es Lester, irgendeinen Anklagepunkt abzustreiten. Er ließ es sich jedoch nicht nehmen, Julie aller Punkte zu bezichtigen, mit denen er sie ursprünglich erpresst hatte. Sie stritt alles ab und da der Türsteher und Betreiber des QuoVertis als nicht auffindbar galt, wurde das Verfahren gegen sie eingestellt.
Weitere Zeugen wurden nicht befragt, wahrscheinlich, weil das Gegenmittel sich als Erfolg herausgestellt hatte, den man hauptsächlich Julie verdankte. Lester V wurde verurteilt und hinausgeführt, um liquidiert zu werden. Im Vorbeigehen rief ihm ein Senator zu, er hätte lieber bei der Edelmetallförderung bleiben sollen anstatt Drogen zu produzieren. Der Senator wurde ermahnt und die Sitzung wurde geschlossen. Julie blieb alleine mit der Rassenbeauftragten zurück.
»Was du getan hast, war sehr mutig, Julie. Du erinnerst mich an meine Mutter. Ich bin zwar auf natürlichem Wege entstanden, aber sie war Vollklon wie du. Du hast bestimmt in der Schule von ihr gehört, sie war der erste geklonte Mensch überhaupt. Mein Vater hat sie aus sich selbst erschaffen, das heißt, sie besaß dieselben Gene wie du und ich.«
Julie dachte über die Bedeutung ihrer Abstammung nach, kam jedoch zu dem Ergebnis, dass es keine Rolle spielte. Einzigartig war man nicht aufgrund seiner Gene sondern aufgrund seiner Taten.
»Die Welt ist kompliziert geworden«, fuhr die Alte fort, »früher gab es nur eine Sorte Mensch. Heute gibt es zusätzlich noch Halbklone, Vollklone, täuschend echte Androiden, Roboter mit menschlicher Seele, Supercomputer mit psychischen Störungen, Hybride, und wer weiß, was auf den Straßen von morgen herumlaufen wird. Alles, was ich dir anbieten kann, um die Zukunft der Menschen besser zu gestalten, ist ein Ehrenplatz im Senat. Es ist ja gerade einer frei geworden.«
Sie deutete auf die Tür, durch die man Lester V hinausgeführt hatte.
»Wärest du daran interessiert?«
Nicht vergessen: Senatswahlen am kommenden Freitag.
Julie nickte eifrig.
»So sei es. Willkommen im Senat.«
ENDE