Die Stimmen
Sonntag Abend. 23:53 Uhr. Abbeys Haus. Wieso ich die Zeit so genau kenne? Das weiß ich nicht genau. Schätzen konnte ich schon immer gut. Mathe war mein Lieblingsfach.
Genüsslich zünde ich mir eine Zigarette an und nehme einen kräftigen Zug. Meine Lunge füllt sich mit dem Rauch und lässt ihn wieder hinausströmen. 23:54 Uhr. Immer noch kein Zeichen von Abbey. Langsam werde ich nervös. Wo steckt die Schlampe nur?! Jeden Tag... Jeden Tag sitze ich hier. Beobachte sie. Lange, blonde Haare. Trägt immer Röcke. Abbey. Meine Abbey. Vorsichtig taste ich mich mit meiner Hand an meiner Gürtelschnalle entlang. Ja, es ist noch da. Mir wird warm vor Nervosität und mein Bein beginnt zu zittern.
Ich muss es heute Abend tun. Eine andere Chance habe ich einfach nicht! Versteht es doch!
"Versteh es doch!", schreie ich mich selber an. Ich muss wie ein Trottel ausgesehen haben in dem Moment, aber das war mir egal. Ich bin anders. Das war ich schon immer. Unsere Gesellschaft funktioniert durch Selbstlosigkeit, Akzeptanz und Moralitäten. Was ist aber, wenn man sich nicht in die Gesellschaft einfügen will?
Ich will es nicht.
"Ich will es nicht!". Ich bin frei. Mein eigener Herr. Ich kann tun und lassen was ich will! Niemand sagt mir was ich zu tun habe.
Und dann sehe ich sie. Oh Gott, Abbey! Etwas Schöneres habe ich noch nie in meinem Leben gesehen. Ihre blonden Locken hüpfen auf und ab bei jeder Bewegung und sie lacht laut. Ich kann mir ein leises Stöhnen nicht verkneifen.
"Hast du mich vermisst, Vati?", sagte sie mit der Stimme einer 5- Jährigen.
"Vati vermisst dich immer, meine Kleine." Ich beuge mich herunter um die Kleine zu umarmen. Ihre kurzen Arme schmiegen sich um meinem Hals und ich konnte sie ohne Probleme auf den Arm nehmen.
"Was sagen die Stimmen heute zu dir, Vati?"
Welche Stimmen?, frage ich mich innerlich. Es gibt keine Stimmen. Da bin nur ich mit meiner Tochter. Endlich kann ich wieder Zeit mit ihr verbringen.
"Vati? Was willst du denn mit dem Messer?"
Es gibt keine Stimmen. Da bin nur ich mit meiner Tochter. Mehr nicht.
"Vati, was tust du da?! Nein, hör bitte auf!"
Vielleicht gehen wir ja heute ein Eis essen. Das wäre schön. Sie würde sich bestimmt freuen.
"Vati, bitte hör auf! Du tust mir weh!"
Hörst du die Schreie?
"Hörst du die Schreie?", sagte ich.
Wer bist du, Richard?
"Abbey, ich liebe dich."
Blut. Überall. Dickflüssige, rote Flüssigkeit. Ich sehe Abbeys blonde Haare, ihre kleine Stupsnase, die vor Schreck geöffneten Augen, die sie nie wieder schließen kann.
Stille. Vollkommene Stille.