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Die Stimme in meinem Kopf

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13.06.2002
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Die Stimme in meinem Kopf

Als Kind wollte ich Lokomotivführer werden. Die können die Zukunft sehen.

Ich sitze in einem Abteil in der Mitte des Zuges, auf der Fahrt von Hier nach Dort, von A nach B, von Irgendwo nach Irgendwo anders. Das spielt keine Rolle. Ich sehe aus dem Fenster, döse vor mich hin, zähle die Kühe auf der Wiese und sehe durch sie hindurch. Der Lokführer, denke ich, hat sie bereits gesehen, die Kühe. Egal, wohin es mich auf dieser Reise verschlägt, er war bereits dort. Alles, was ich draußen vor der Scheibe sehe, er hat es gesehen. Immer ein paar Sekunden vor mir. Er lebt in meiner Zukunft.
Sie sitzt mir gegenüber, streicht sich eine Haarsträhne aus der Stirn und gähnt. Ich gähne ebenfalls, denn es steckt an. Sie muss lachen und wir kommen ins Gespräch, tauschen Namen und Geschichten. Drei wundervolle Monate später liegt sie auf dem Grund des Sees und ich nicht.
Komm, lass uns gehen, sagt ihre Stimme in meinem Kopf und ich gehe nach Hause.

...

"Ich kann mit toten Menschen reden."
Ein sauber manikürter Zeigefinger schiebt eine Lesebrille einen Nasenrücken hinauf, während eine Stirn unter einem graumelierten Kurzhaarschnitt gerunzelt wird. Bewegung kommt in das perfekt rasierte Gesicht, als Lippen sich öffnen und ein Wort formen, das vom Gehirn eigentlich als zwei gedacht war.
"Wiemeinen?", fragt die Stimme meines Gegenübers irritiert.
"Einem Menschen, um genau zu sein", antworte ich, um genau zu sein. "Einen ganz besonderen Menschen."
"Ich verstehe nicht."
"Sie haben mich gefragt, was mich auszeichnet. Was mich von den anderen Bewerbern abhebt." Ich lehne mich zurück und sehe ihm direkt durch die Lesebrille in die Augen. Die Stimme in meinem Kopf lobt mich für meine Offenheit. Offenheit ist wichtig in diesen Situationen. Wir haben es lange vor dem Spiegel geprobt. "Und das ist es. Das ist, was mich einzigartig macht."
"Ich verstehe, Herr... ", er blättert in meinen Unterlagen und hält schließlich meinen Lebenslauf in der Hand. Bis er meinen Namen schließlich gefunden hat, ist die Pause jedoch so lang geworden, dass es ihm peinlich ist, den Satz fortzusetzen, also überspringt er ihn einfach. "Und wie genau, glauben Sie, können Sie diese Fähigkeit in den Berufsalltag eines Versicherungskaufmannes integrieren?" Als Kind wollte ich Lokomotivführer werden, jetzt sitze ich hier. Als Kind habe ich keine Stimme gehört, dann habe ich Schokolade gegessen. So ist das Leben.
"Ich weiß nicht", antworte ich ehrlich. "Es war das erste, was mir in den Sinn gekommen ist."
"Selbstverständlich." Spott in der Stimme ist nicht so schlimm, wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hat. Vielen Dank für das Gespräch, wir werden uns bei Ihnen melden. Selbstverständlich.

Du musst mal wieder auf die Piste, sagen sie. Kannst dich nicht ewig einigeln. Andere Mütter haben auch schöne Töchter. Und dass diese eine dich nun verlassen hat, ist nicht das Ende der Welt. Sagen sie. Lass uns mal wieder einen Trinken gehen, unter Menschen, auf andere Gedanken kommen. Alleine sein macht depressiv, sagen sie. Dass sie mich nicht auf diese Art verlassen hat, wissen sie nicht. Dass ich nicht alleine bin, verschweige ich. Stattdessen gehe ich mit ihnen unter Menschen. Sie versuchen, mich aufzubauen, mir einzureden, dass die niedliche Blonde da drüben mir zugezwinkert hätte. Hat sie nicht.
"Ach komm, es könnte schlimmer sein." In seiner Hand ein Cocktailglas, in seinem Körper der Cocktail. Ich halte mich an Cola. Sie hätte nicht gewollt, dass ich Alkohol trinke, hat sie nie.
"Ja", sage ich tonlos und erhöhe den Cola-Anteil in meinem Magen um einen Schluck.
"Ich meine, klar, du hast keinen Job, keine Kohle und deine Alte ist weg." Ich bin gespannt auf das aufbauende Aber. "Aber ... aber... Moment, ich glaube, die hat eigentlich mich gemeint. Bin gleich zurück." Er schlängelt sich und sein Glas durch die Menschenmenge Richtung da drüben und kommt nicht wieder. Mein anderer Kumpel hat seine Freundin mitgebracht und beide sind inzwischen irgendwo auf der Tanzfläche verschollen. Ich bin froh, Freunde zu haben, die diese Sache mit dem Aufbauen so ernst nehmen.
Sie werden dein Talent erkennen, sagt sie. Nicht heute und auch nicht morgen. Aber irgendwann wird die Welt sehen, wie außergewöhnlich du bist. Danke, sage ich, hole meine Jacke an der Garderobe, trete auf die Straße und werde um ein Haar vom Blitz getroffen.

Die junge Frau mit den dunklen Haaren zuckt entschuldigend mit den Schultern, die Hand immer noch in meine Richtung ausgestreckt, während noch ein paar Funken zwischen ihren Fingerspitzen züngeln und die versengte Stelle an der Wand hinter mir leise vor sich hin qualmt. Sie hatte gedacht, ich wäre ihr untreues Schwein von Freund. Ihre Worte, nicht meine, ich kenne ihr untreues Schwein von Freund ja gar nicht. Der hätte es verdammt nochmal verdient gehabt, sagt sie, als würde das irgend etwas erklären. Es erklärt nichts, aber ich brauche keine Erklärung.

...

Wäre ich Lokomotivführer geworden, hätte ich die Schokolade damals vielleicht nicht gegessen. Damals, als sie noch da war. Als Lokomotivführer hätte ich gesehen, was danach kommt. Es war nur eine alberne Werbung: Schokolade, die Superkräfte gibt. Ein Bissen von der Erdnussriegeligkeit und dein größter Wunsch geht in Erfüllung. Klar.

An einem Tag kann ein Mädchen keine Blitze aus ihren Händen schleudern, am nächsten schon. Da gibt es diesen Typen, der jetzt seine Haut transparent erscheinen lassen kann und einen, irgendwo in Norwegen, der jede Diskussion durch die Wahl der richtigen Worte gewinnt. Ich habe von einer jungen Frau gehört, die von einem Moment auf den nächsten zweidimensional wurde. Das Internet ist voll von diesen Geschichten. Nach und nach sind sie aufgetaucht, durch die Blogs gewandert, die sozialen Netze, die Videoportale. Menschen haben ihre absurden Fähigkeiten gezeigt und die Welt schaute zu.
Meine Fähigkeit eignet sich nicht für die Öffentlichkeit. Sie eignet sich nicht einmal für eine Karriere bei der Versicherung. Was zeichnet Sie aus? Ich höre Stimmen. Selbstverständlich.
Es gibt da einen Typen, der Kohle in Gold verwandelt, er muss sie nur berühren.

...

Ein paar Tage später das nächste Vorstellungsgespräch. Ein anderer Schreibtisch, eine andere randlose Brille, ein anderes perfekt rasiertes Gesicht. Ich warte auf die Frage, was mich auszeichnet. Meine Antwort: Einsatzfreude, Engagement, Energie. Lügen mit E. Doch die Frage wird nicht gestellt, stattdessen Fragen über meine berufliche Vergangenheit, meine Wünsche, meine Ziele. Wo sehen Sie sich selbst in fünf Jahren. Weiß nicht. Wo sehe ich mich selbst in fünf Minuten?
Fünf Tage später sehe ich mich bei der Unterschrift meines Arbeitsvertrages. Ich bin stolz auf dich, sagt sie. Sie hat nie an mir gezweifelt.

Von jetzt an bin ich dafür zuständig, Zahlen in Tabellen einzutragen. Ich kann nicht in die Zukunft sehen, aber ich verdiene Geld. Jeden Tag sitze ich nun in der Bahn auf dem Weg zur Arbeit, schreibe ich Zahlen in Tabellen, gehe ich zur selben Zeit in die Kantine, fahre ich nach Hause. Jeder Tag endet mit dem Gedanken an diese eine Zugfahrt damals, an ihr Gähnen, an den Ausdruck auf ihrem Gesicht, als sie langsam auf den Grund des Sees sank. Ich wache am nächsten Morgen auf und weiß, dass der Tag mit diesem Gedanken enden wird. Vielleicht kann ich doch in die Zukunft sehen.
Manchmal liege ich Abends wach und rede mit der Stimme in meinem Kopf. Wir schwelgen in Erinnerungen, reden über diesen einen Besuch auf dem Rummel, als sie sich in der Achterbahn fast übergeben musste und ich mich nicht getraut habe zu lachen. Das tut man nicht.
Der Mann in Norwegen hat in der Zwischenzeit andere Menschen mit speziellen Fähigkeiten um sich geschart. Es ist an der Zeit, sagt er, eine neue Weltordnung zu beginnen.

Pass auf!, sagt sie. Ich drehe den Kopf und sehe auf der anderen Straßenseite einen Mann, der auf eine junge Frau zugeht. Es ist spät und bereits dunkel. Wenn ich nicht schlafen kann und die Erinnerungen zu viel werden, gehe ich nachts spazieren, das befreit den Kopf. Niemand ist um diese Zeit noch unterwegs, außer einem Mann, einer jungen Frau und mir.
Der führt nichts Gutes im Schilde. Ich kann es sehen. Sie kann es sehen. Vielleicht einer der wenigen Vorteile ihres Zustandes. Tu doch was! hallt es in meinem Schädel, als der Mann sich der Frau nähert, in seiner Hand ein Gegenstand, im Schein des Mondes kurz aufblitzend. Ich laufe über die Straße.
"Entschuldigung", beginne ich auf halbem Wege, ein paar Meter entfernt. "Können Sie mir sagen, wie ich zur U-Bahn komme? Ich hab mich irgendwie verlaufen."
Sie erschrickt, doch dann lächelt sie und deutet eine Richtung, zwei Straßen weiter, dann links und dann wieder rechts. Der Mann ändert unauffällig seine Laufrichtung und geht an uns vorbei. Zeugen sind offenbar nicht so seines.
Gut gemacht, lobt ihre Stimme in meinem Kopf. Ja, gut gemacht. Es fühlt sich gut an, ich habe einen Überfall vereitelt, vielleicht einer Frau das Leben gerettet. Wer weiß das schon. Das schönste Gefühl seit ... seit damals. Meine Schritte werden leichter, ich gehe hoch erhobenen Hauptes durch die Straßen. Meine Straßen. Sieh her, Welt, hier bin ich und du legst dich besser nicht mit mir an. Was zeichnet mich aus? Ich bin ein Held.

Am nächsten Tag bin ich kein Held mehr, am nächste Tag trage ich Zahlen in eine Tabelle ein. Manchmal sind die Zahlen falsch, dann muss ich sie abgleichen und in Rücksprache mit dem Chef korrigieren. In Amerika hat sich eine Gegenbewegung formiert. Die Gefahr, die von der Gruppe in Norwegen ausgeht, könnte die gesamte Weltordnung bedrohen, sagen sie. Vielleicht sollte ich mir eine Maske basteln.
In der Nacht wandere ich durch die Straßen, wachsam und zu allem bereit. Ich trage keine Maske, denn sie findet die Idee albern. Ich muss mein Gesicht nicht verstecken, findet sie. Und sie findet, dass sie stolz auf mich ist. In dieser Nacht rette ich keine Frauen vor Übergriffen. Auch in der nächsten nicht und nach ein paar Wochen akzeptiere ich, dass dieses Ereignis wohl ein einmaliges war. Wie könnte ich auch ein Held sein?
Gestern hat Paris gebrannt. Zwei Gruppen von Menschen mit besonderen Fähigkeiten haben sich in der Mitte getroffen. Die einen, um die Welt zu beherrschen, die anderen, um die Welt zu beherrschen, aber anders. Ich liege wach im Bett und denke an den See.

Warum hängst du dieser Schlampe immer noch nach?
Ich komme nicht los von ihr.
Du brauchst kein schlechtes Gewissen zu haben. Sie hat dich betrogen, ich konnte es fühlen.
Ich weiß, Mama. Du hast es mir erzählt.
Sie war nicht gut für dich, das habe ich von Anfang an gesagt. Und jetzt schlaf, morgen ist ein Arbeitstag.
Ja, Mama.

 

Hallo gnoebel,

die Zukunft sehen scheint derzeit Dein Thema zu sein und wird hier, wie ich finde, allemal besser umgesetzt als mit den grünen Leuten.

Als Kind wollte ich Lokomotivführer werden.
Was wohl alle Jungen einmal wollten (ich wollte allerdings zur See fahren), um von Irgendwo woanders hinzukommen, die Welt sehen. Nur der Icherzähler setzt die vierte Diemension ein, weil der Lokführer immer schon gesehen hat, was der Fahrgast gleich erst sieht (mit Ausnahme, die Zugmaschine wird zur Schubmaschine, Lok bleibt Lok)
Alles, was ich draußen vor der Scheibe sehe, er hat es gesehen. Immer ein paar Sekunden vor mir. Er lebt in meiner Zukunft.
Um dann doch eine andere, eigene Fähigkeit zu entdecken, die dem Zugführer eher abgeht.
"Ich kann mit toten Menschen reden."
Was selbstverständlich (ich wähl bewusst kein "natürlich") später bei Bewerbungsgesprächen zu behaupten wenig förderlich ist und künftige Zurückhaltung veranlasst. Aber der Icherzähler lernt daraus und die Stimme im Kopf wird zum intim-guten Freund. Nebenbei wird noch die Macht der ersten Liebe wirkt, weil jeder große Liebe unerfüllbar bleibt und scheitert, somit das ganze restliche Leben wirkt.

Aber das soll jeder selbst erlesen (vielleicht sogar anders sehn).

Zwei Anmerkungen: Wenn die Stimme etwas findet/meint, könnte sie evtl. als Konjunktiv I daherkommen. Und einmal wäre ein Komma nachzutragen

..., während eine Stirn unter einem akkuraten[,] graumelierten Kurzhaarschnitt gerunzelt wird.

Schönes Wochenende wünscht der wiederaufgestandene

Friedel

 

Hallo Gnoebel,

das Bild des Lokomotivführers, der immer „einen Schritt“ voraus ist, trifft den Wunsch eines jeden Menschen.

Er lebt in meiner Zukunft.
Guter Satz, der die Funkionen des Probehandelns und der Vorwegnahme von Möglichkeiten in der Zukunft beschreibt. Wir alle haben einen Lokomotivführer im Zug, in uns.
In dem Zug nach Irgendwo tritt die märchenhafte Verzauberung ein; vielleicht ist Gähnen nicht eine ganz passende Tätigkeit dafür, Verzauberung herbeizuzaubern, passt eher zur Entzauberung, auch die Geste
streicht sich eine Haarsträhne aus der Stirn
ist sehr oft ge- und verbraucht, aber was dann? Durch welche Gesten tritt Verzauberung ein? Wer verzaubert werden will, wird es immer.
Eine schöne, romantische Einführung mit einer Leiche auf dem Grund des Sees.
Und auf dem Grund der Familie, in der die „Mama“, Gründe dafür gibt er viele, diese romantische Liebe madig acht:
Sie hat dich betrogen, ich konnte es fühlen[!].
Das Muttersöhnchen geht auch gehorsam zur Arbeit.
Und jetzt schlaf, morgen ist ein Arbeitstag.
Als Anima verschafft die Zugbekannte ihm
drei wundervolle Monate
Und versinkt im See. Muss sie, denn nach C. G. Jung überlagert der Mutterarchetyp die weibliche Seele des Mannes (Anima= Frau im Zug und See=Unbewusstes). Aus dieser Tiefe spricht sie nun zu ihm.
Ich kann mit Toten reden.
Das befähigt einen natürlich nicht zu einem Versicherungskaufmann. Aber eines stimmt: Wer Kontakt zum Unbewussten hat, besitzt
außergewöhnlich
e Fähigkeiten.
Ich höre Stimmen.
Aus dem Unbewussten, aus der Sphäre des Traums, des Märchens. Nicht spektakulär wie die
Typen, der jetzt seine Haut transparent erscheinen lassen kann und einen, irgendwo in Norwegen, der jede Diskussion durch die Wahl der richtigen Worte gewinnt.
Der berufliche Erfolg?
Eine glatt rasiertes Gesicht fragt zuggemäß nach Vergangenheit und Zu(g)kunft. Er bekommt die Stelle, eine märchenlose, profane Stelle mit Zahlen der spießbürgerlichen Welt. JederMann ist zu Höherem bestimmt: zum Helden. Aber trotz größter Mühen bleibt es bei der Rettung eine einzigen Frau.
Es droht Gefahr aus den Ländern der Sagas.
Die Gefahr, die von der Gruppe in Norwegen ausgeht, könnte die gesamte Weltordnung bedrohen, sagen sie.
Wer sind "sie"? Die Mamas diese Welt? Die Zahlenfetischisten? Die Welt der Zahlen ist in Gefahr durch die Bewegung der Welt der Phantasie, der Märchen, des Sees. Und Paris, die Stadt der Liebe
brennt.
Unser Muttersöhnchen verschläft das wahre Leben, weil seine Anima sich nicht von der Mutterdiktatur emanzipiert. Er kann sie nicht von der Mutter ablösen, sondern lässt sie tot im See liegen, aus dem sie sich erheben sollte, um aus ihm den Menschen zu machen, der bei den Kämpfen der besonders Befähigten mitmacht.
Ein versäumtes Leben. Traurig, aber wahr.
Und die Moral von der Geschicht:
Ja, Mama.
Meine Beschreibung zeigt Dir, mit wie viel Sympathie ich Dein Märchen gelesen habe. Sprachlich kann ich wenig Fehlerhaftes finden, sie ist dem Inhalt angemessen. Man könnte manches anders sagen, aber das sind Lappalien. Mir scheint, dass manchmal ein Komma fehlt, aber auch das …
Eine erfreuliche gute Geschichte, rätselhaft, denkanregend, fundamental!
Danke:)
Wilhelm

 

Warum hängst du dieser Schlampe immer noch nach?
Ich komme nicht los von ihr.
Du brauchst kein schlechtes Gewissen zu haben. Sie hat dich betrogen, ich konnte es fühlen.
Ich weiß, Mama. Du hast es mir erzählt.
Sie war nicht gut für dich, das habe ich von Anfang an gesagt. Und jetzt schlaf, morgen ist ein Arbeitstag.
Ja, Mama.

Da muss ich mich für die schlampige Aufbereitung des ersten Komms entschuldigen, wenn zwo Gedanken gleichzeitig nach vorne drängen,

lieber gnoebel,

aber ich erlaub mir - anschließend an der Deutung Wilhelms - eine zwote Deutung, denn der Icherzähler ist vom Hotel Mama abhängig (s. den Schluss als Eingangszitat), kein Zweifel.
Aber zudem bedeutet der poetische Moment im Zugabteil bei buchstäblicher Betrachtung

Er [der Lokführer] lebt in meiner Zukunft.
Sie sitzt mir gegenüber, streicht sich eine Haarsträhne aus der Stirn
dass dem Icherzähler die Zukunft, allein seine, gegenübersitzt
… und gähnt. Ich gähne ebenfalls, denn es steckt an.

Und so kommt es doch, denn was ist an dem Berufsleben so aufregend, außer dass eine Bewerbung fehlschlägt.

Also in einem Satz: Mamas Liebling Zukunft ist seine Vergangenheit, oder einem berühmten Vers nachgebildet
Sohnemann bleibt Sohnemann (und wie du wieder aussiehst, haben die Ärzte schon gewusst)

… von Irgendwo nach Irgendwo anders.
Ist das nicht das berühmt „überall und nirgends?“ ohne Verdoppelung.

Und doch noch Schnitzer, denn hier schnappt m. E. dann doch die Fälle-Falle zu:

"Ich kann mit toten Menschen reden."
[…]
"Wiemeinen?", fragt die Stimme meines Gegenübers irritiert.
"Einen Menschen, um genau zu sein", antworte ich, um genau zu sein. "Einen ganz besonderen Menschen."
Statt Akkusativ Dativ:
"Ich kann mit toten Menschen reden."
….
"Eine[m] Menschen, um genau zu sein", … "Eine[m] ganz besonderen Menschen."

Wie auch hier das Genetiv s entbehrlich ist:
… in den Berufsalltags eines …

Jetz’ is’ genuch vom

Friedel

 

Hi gnoebel,

da bin ich zufällig mal in dieser Rubrik und stolpere über eine neue Story von dir.

Als Kind wollte ich Lokomotivführer werden. Die können die Zukunft sehen.
Ich weiß nicht, ob mir das nur so vorkommt, aber der Einstieg in eine Geschichte mittels eines grenzgenialen oder schrägen Gedankens/Satzes scheint mir typisch für dich zu sein. Wie du dann darlegst, wie der Lokomotivführer in die Zukunft sieht, finde ich toll.

Sie versuchen, mich aufzubauen, mir einzureden, dass die niedliche Blonde da drüben mir zugezwinkert hätte. Hat sie nicht.
"Ach komm, es könnte schlimmer sein." In seiner Hand ein Cocktailglas, in seinem Körper der Cocktail. Ich halte mich an Cola. Sie hätte nicht gewollt, dass ich Alkohol trinke, hat sie nie.
"Ja", sage ich tonlos und erhöhe den Cola-Anteil in meinem Magen um einen Schluck.
"Ich meine, klar, du hast keinen Job, keine Kohle und deine Alte ist weg." Ich bin gespannt auf das aufbauende Aber. "Aber ... aber... Moment, ich glaube, die hat eigentlich mich gemeint. Bin gleich zurück." Er schlängelt sich und sein Glas durch die Menschenmenge Richtung da drüben und kommt nicht wieder.
Das fand ich sehr lustig. Hat etwas so milde verzweifeltes, erinnert mich von den Motiven her zusätzlich an Woody Allen.

Cool fand ich auch diese Hintergrundstory, dass Leute durch den Genuss eines Schokoriegels zu Superhelden wurden. Das würde eigentlich für eine ganz andere, größere Geschichte reichen.

Eine Deutung der Geschichte wie die von Wilhelm Berliner wäre mir allerdings nicht in den Sinn gekommen. Ich glaube, dass es eigentlich nur um die Pointe ging, dass die Stimme im Kopf nicht von seiner ersoffenen Freundin, sondern von seiner Mutter stammt.
Initialzündung dafür ist:

Drei wundervolle Monate später liegt sie auf dem Grund des Sees und ich nicht.
Komm, lass uns gehen, sagt ihre Stimme in meinem Kopf und ich gehe nach Hause.
Hier hast du ja auch ganz bewusst keinen Absatz gemacht, sondern erst danach, um die Täuschung zu forcieren.

Wie genau ist die Freundin eigentlich im See versunken? Der Protagonist erzählt, er hätte dabei ihren Gesichtsausdruck gesehen. Irgendwie will mir keine halbwegs gewöhnliche Art und Weise einfallen, wie sich dies hätte zutragen können. Ich stell mir passenderweise ein Zugunglück vor, wo sich der Protagonist hat retten können. Die Freundin ist dann in einem Waggon hinab gesunken. Der Lokomotivführer hatte das natürlich alles schon kommen sehen.


Gruß
Leif

 

Hi Gnoe,

da steckt ja eine Menge drin in dem Teilchen. Die Idee mit den Superhelden, die gefällt mir persönlich am besten, weil das herrliche Skurril ist, womöglich gar nicht passiert, sondern nur eine weitere Marrotte deines Prots ist.
Hatte beim Lesen sofort zwei Songs im Ohr:
Die Auflösung erinnert mich an den Fanta4 Song "Für immer zusammen".
Sie landet im See, da musste ich gleich an William Shatners "What have you done" denken.
In meiner Wahrnehmung ist er aber an diesem Unfall aber nicht ganz unschuldig.

Du brauchst kein schlechtes Gewissen zu haben. Sie hat dich betrogen, ich konnte es fühlen.
das spricht ja Bände. ;)
Hier wandelst du mal abseits deiner üblichen Pfade. Gerne gelesen

grüßlichst
weltenläufer

 

Hallo gnoebel!

Ich kenne nur humorige Geschichten von dir. Das hier ist eine ganz andere, eine sehr tragisches und dunkle – obwohl hin und wieder der Schalk in den Zeilen winkt, z.B. in dem ersten Bewerbungsgespräch. Auch sonst ist vieles von deinem Stil hier wiederzufinden. Ein typischer gnoebel, nur ganz anders.


Drei wundervolle Monate später liegt sie auf dem Grund des Sees und ich nicht.
Und ich nicht … Ganz stark, entschleiert sich aber erst später. Selbstmord war demnach eine Option, um der Mutterstimme zu entkommen. So hat er sie lediglich besänftigt, in dem er seine Freundin umbrachte.
Es erscheint mir wie der Zyklus eines Serienmörders. Er tötet jedes Mal seine Freundin, auf Befehl der eifersüchtigen Mutter(-Stimme). Dann hält er sich eine Weile fern von Frauen. Das wird ja auch in dem Lokal deutlich. Irgendwann, durch Zufall mehr oder weniger, also so wie in dem Zug zum Beispiel, kommt er wieder in die Verlegenheit, sich an eine Frau zu binden. Der Naturtrieb des Mannes gewinnt die Oberhand. Und vielleicht wird ja diesmal alles gut (was selbstverständlich nicht eintrifft).

Als Kind habe ich keine Stimme gehört, dann habe ich Schokolade gegessen. So ist das Leben.
Nach der Kindheit kam die Schokolade und mit der Schokolade kam die Stimme.
Die Schokolade steht hier fürs Naschen verbotener Früchte, sprich Vergnügen, oder sagen wir unverfänglicher, der Zuneigung zu einer anderen Frau als seiner Mutter.
Schokolade macht aus ihm einen Mann, aus Sicht seines kindlichen Ichs einen Supermann. Denn das hat ihm seine Mutter versprochen, dass er ein Supermann wird. (Sie werden dein Talent erkennen, sagt sie. Nicht heute und auch nicht morgen. Aber irgendwann wird die Welt sehen, wie außergewöhnlich du bist. )
Mann oh Mann, muss der ein echt verkorkstes Verhältnis mit seiner Mutter gehabt haben. Details erfährt man nicht. Es ist ja auch ein Ich-Erzähler, und der kann sich in seiner Erzählung schließlich nicht selbst analysieren. Das muss der Leser irgendwie machen. Der Erzähler gibt nur unbewusste und verschleierte Hinweise. Da schwingt ja viel kindliches mit, im Text.

Also, in dem Text steckt noch sehr viel mehr drin, aber ich breche hier mal ab, bevor ich mich völlig und in Eile vergaloppiere. Die Geschichte wird mich noch länger beschäftigen. Es macht richtig Spaß, immer wieder das Bild einwenig zu revidieren oder etwas daran zu ergänzen, bis es einst, wenn meinen Göttern es gefällt, zumindest für mich komplett sein wird.

War und ist mir eine Freude!

Asterix

 

Ach gnoebel, das ist komisch, wenn man eine lustige Dialoggeschichte erwartet und dann sowas. Und ich gebs einfach mal zu: diese düstere schwere Geschichte, die so von Andeutungen und Geheimnissen lebt, die steht dir verdammt gut.
Sie ist natürlich aich lustig, zum Beispiel in dem ersten Bewerbungsgespräch, wenn der Personalchef Wiemeinen sagt. Oder auch später, wenn er in der Kneipe ist und die wenig liebevolle Art seiner Freunde ironisiert. Und trotzdem sind da von Anfang an immer wieder sehr düstere Elemente drin, wie das Gesicht der ertrinkenden Freundin oder sein Versuch, ein Held sein zu wollen. Und das wird immer ein bisschen düsterer, bis es schon zum Kriegszenario wird.
Das Ende, also dass sich die Stimme als die der Mutter entpuppt, das hab ich beim ersten Lesen als eine Ponte, eine unerwartete Wendung genommen. Dann hab ich noch mal gelesen und finde jetzt, dass vieles Düstere schon vorher angelegt ist. Im Moment les ich die Geschichte so, dass er das Mädchen selbst getötet hat oder sie zumindest hat sterben lassen und ihr dabei zugeschaut hat. Und dass es seine Mutter und das Verhältnis, das er zu ihr hat, war, die ihn soweit gebracht haben. Ich bin immer noch am Rumräsonnieren, wie das alles zusammenpasst. Und jetzt macht Asterix mich vollends furchtig, weil er den Mann als Serienmörder liest.

Ich hab nur eine kleine Beanstandung:

Ein sauber manikürter Zeigefinger schiebt eine randlose Lesebrille einen Nasenrücken hinauf, während eine Stirn unter einem akkuraten graumelierten Kurzhaarschnitt gerunzelt wird. Bewegung kommt in das dazugehörige perfekt rasierte Gesicht,
Das ist mir ein bisschen zuviel an Beschreibung, das wirkt, als wär man ein bisschen begriffstutzig.

Sehr spannend, sehr geheimnisvoll, und das meine ich als Kompliment und so locker geschreiben, dass man echt am Ball bleiben will.
Hat mir echt gut gefallen.
Viele Grüße
Novak

 

Hallo allerseits,


danke euch allen für die Kommentare.
Es freut mich wirklich sehr, dass dieser offenbar gut ankam bisher und für sehr spannende Interpretationen gesorgt hat.

Viele eurer Gedanken treffen erstaunlich gut den Kern der Dinge, die ich erzählen wollte. "Erstaunlich" deshalb, weil ich normalerweise ja doch eher den gröberen Hammer schwinge, wenn es ums Erzählen geht und eher selten zum Interpretieren einlade. Und deshalb finde ich es toll, dass tatsächlich vieles so ankam, wie ich es gemeint hatte.
Einiges führt zwar auch weiter, als ich beim Schreiben gedacht hatte, aber auch diese Ideen finde ich wichtig und einige werde ich sicherlich noch einmal versuchen zu forcieren.


@Wilhelm:
Deine Interpretation führt in manchen Stellen schon deutlich weiter als ich gedacht hatte. Wirklich sehr interessant, was du alles herausgezogen hast. Der Kern der Geschichte ist dabei aber tatsächlich simpler gestrickt, muss ich hier zugeben (Leif hat es ganz gut zusammengefasst). Aber ich fand deine Gedankengänge wirklich spannend und werde drüber nachdenken, noch einmal eine zweite Version des Textes zu basteln, in der ich diese Richtung einschlage.
Norwegen war, muss ich ebenfalls zugeben, eher zufällig und weniger als Deutungsansatz gewählt. Aber auch hier werde ich überlegen, ob man diesen Gedanken vertiefen kann, ohne dass die Geschichte dabei ihren Ton verändert. Zuviel Bedeutung wollte ich den Superheldenplot eigentlich nicht geben.


@Friedel:
Deine zweite Deutung hinsichtlich der Einleitung finde ich unheimlich spannend. Auch hier war das so eigentlich nicht von mir beabsichtigt, aber ich bin von dem Gedanken gerade sehr begeistert und möchte das unbedingt noch einmal vertiefen. Wird vielleicht eine Weile dauern, aber daran werde ich noch mal basteln.

Und klar, die gefundenen Fehler besser ich sofort aus.
Ich persönlich teile übrigens deine Vorliebe zur Seefahrerei. Lokführer fahren schließlich immer auf den selben Schienen, das ist auf Dauer sicher langweilig ;)


@Leif:
Ich glaube, du warst damals einer der allerersten Autoren hier, die mir ins Auge gefallen sind. Vielleicht sogar der erste überhaupt. Cool, mal wieder von dir zu lesen. Deine neue Geschichte werde ich sicher noch nachholen. Wenn sie nur nicht so lang und die Zeit so knapp wäre ;)

Wie du richtig sagst, der Text wird einer allzu tiefen Interpretation vermutlich auf Dauer nicht stand halten und ist im Kern vor allem eine einfache Pointengeschichte. Allerdings eine, die im Detail doch den ein oder anderen Aspekt beinhalten sollte.
Die Art ihres Ertrinkens sollte im letzten Absatz stecken. Mama sagt, die Freundin wäre nicht gut für ihn, also hat er auf sie gehört und gehandelt.
Die Superheldennummer fand ich in dieser Form ebenfalls sehr spannend. Würde man daraus eine eigene Geschichte machen, wäre man sehr schnell bei Fernsehserien wie den Misfits oder Heroes.


@weltenläufer:
Ich alter Kulturmuffel kenne leider beide Songs nicht (was sicher vor allem für den Shatnertitel eine Sünde ist), mit dem Unfall hast du aber Recht. Das schlechte Gewissen ist der springende Punkt.


@Asterix:
Der Zyklus des Serienmörders ist ebenfalls ein interessanter Gedanke. Und ich denke auch, dass nichts dagegen spricht, dass sich diese Geschichte in ähnlicher Form immer und immer wieder wiederholt - kann man sicher so sehen. Allerdings sehe ich selbst meinen Erzähler nicht als Psychopathen, sondern eher als traurige Figur, die einen Fehler begangen hat.
An vielen Stellen kommt hier natürlich das Kind zum Vorschein, das nicht nur von seiner Mutter nicht loskommt (kommt ja nicht von ungefähr, dass von allen möglichen Superkräften, er ausgerechnet diese abbekommt), sondern sich auch einigen Realitäten einfach nicht stellen will. Ein sehr wichtiger Aspekt.

 

Hi Novak,

irgendwie hab ich deinen Kommentar eben übersehen, entschuldige...
Und so komme ich nun in die Situation, die Beitragszahl dieser Geschichte puschen zu können. Yeah! ;)
Auch dir natürlich vielen Dank für deinen Kommentar.

Ich fand diesen für mich eher ungewöhnlichen Ansatz auch sehr spannend und werde diesen Pfad sicher noch weiter austesten. Düstere Elemente webe ich ja öfter in meine Texte, aber dieser Grundton ist für mich fast Neuland.
Deine bisherige Deutung trifft das, was ich hier vor hatte, bereits sehr gut. Der Ansatz mit dem Serienmörder ist interessant (und aus dem Kontext der Geschichte auch durchaus möglich), war aber nicht ganz meine Intention.

Und ja, der von dir zitierte Absatz könnte adjektivisch ein wenig entschlackt werden. Wird erledigt ;)

 

Die Interpretationen hier finde ich sehr interessant. Teilweise gehen sie in verschiedene Richtungen und ich habe mich schon gefragt, wer am Ende Recht behält. Es zeigt aber auch, wie unheimlich interpretierbar eine solche Geschichte bereits ist. Wieder muss ich daran denken, dass so mancher weltbekannte Autor vielleicht im Grabe rotieren würde, wenn er von den Interpretationen wüsste, die man in der Zwischenzeit seinen Werken angedeihen ließ.
Es erinnert mich auch an Filme wie Donny Darko und Mulholland Drive, wobei ich für ersteren keine so recht stimmige Interpretation gesehen haben. Und das ist kein gutes Zeichen.

So düster, wie das hier immer betont wird, fand ich die Geschichte nicht. Aber wie ich schon in einer meiner Stories schrieb: "Das menschliche Gehirn hat seine Stärke in der relativen Wahrnehmung", also erscheint gnoebels Story vielleicht nur so düster, weil man "einen typischen gnoebel" erwartet hat. Dennoch: Etwas Düstereres als ein Mädchen lebendig im See zu versenken, während man ihm/ihr (http://www.kurzgeschichten.de/vb/showthread.php?t=51792) in die Augen sieht, kann ich mir auch kaum vorstellen.

Deine neue Geschichte werde ich sicher noch nachholen. Wenn sie nur nicht so lang und die Zeit so knapp wäre
Ist etwa eine Stunde Zeitaufwand, sagte man mir. Aber scroll bitte runter zum PDF (ohne auf die Story zu gucken :) ) in der ersten Antwort und lies das ausgedruckt. Hat jetzt auch eine Cover-Illustration. :)

Gruß
Leif

 

Lieber Gnoebel,

bin ganz ehrlich gesagt froh, dass du auch mal etwas anderes versuchst. Von deinen humorigen Dialog- bzw. nenn ichs mal Initialdialoggeschichten war ich irgendwann durchaus bedient und ich wurde den Verdacht nicht los, dass sich da jemand auf den Lorbeeren ausruht ;). Halten wir fest: dialoggetragene Gag-Galopp-Geschichten kannst du, mir zumindest brauchst du das nicht mehr beweisen.

Erfrischend diese Geschichte, besonders der Anfang, der mich an meine eigene Kindheit erinnert. Manchmal schaute ich durch die Heckscheibe unseres Autos zurück und stellte fest, dass ich in die Vergangenheit sah.

Es fällt mir nicht leicht die Stimme mit dem Mädel, das ertrunken ist (oder wurde, oder das nur eine Metapher für die Erinnerung und Sehnsucht ist?), in einen Zusammenhang zu bringen. Offengestanden gelingt es mir nicht, noch nicht, ich ahne jedoch, dass es einen gibt. Wilhelm Berliner scheint da erfolgreicher zu sein, recht interessant, was er schreibt.

Etwas Formales, wenigstens das finde ich anzumeckern: Auslassungspunkte eignen sich in meinen Augen nicht wirklich, um einen Text in Abschnitte zu unterteilen. Würde den Asterisk, die Tilde oder ähnliches dafür nehmen und vor allem zentrieren.

 

Hallo Gnoebel

Bereits gestern hatte ich die Geschichte gelesen, mir im Unklaren, ob ich den Inhalt richtig deute. Erkennbar sind symbolische Elemente, doch wirken sie auf mich täuschend, den Sinn kaschierend? Eine Nacht gab ich mir, um darüber zu schlafen, das Bild setzen zu lassen.
Wie verhext verhinderte mir dies ein erkältungsbedingter Husten, sodass ich versucht bin, mit Goethe zu sagen: „Da steh ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor.“
So lass ich meinen Gedanken nun einfach mal freien Lauf.

Als Kind wollte ich Lokomotivführer werden. Die können die Zukunft sehen.

Für so manche ist dies ein Bubentraum, wobei in diesem einleitenden Sätzen bereits viel mehr steckt, ein Glaube die Zukunft vorwegnehmen zu können.

Drei wundervolle Monate später liegt sie auf dem Grund des Sees und ich nicht.

Hier spaltete sich meine Vorstellung, ist das Erleben des Protagonisten nun eine traumatische Erfahrung oder die Einkehr in eine Welt voll magischem Realismus, um dem Leser die Grenzen zu imaginären Bildern aufzulösen. Ihre Stimme in seinem Kopf lässt beides zu.

"Ich kann mit toten Menschen reden."

Wie er sich präzisiert, mit der einen Person. Hier setzt es eine Analogie zu magisch-religiösen Vorstellungen, die Glaubende als real annehmen.

Sie war nicht gut für dich, das habe ich von Anfang an gesagt. Und jetzt schlaf, morgen ist ein Arbeitstag.
Ja, Mama.

Also doch bin ich versucht zu sagen, er zeigt starke Anzeichen von Regression, seine Mutter ebenso als fiktionale Figur gegenwärtig haltend.

Die Geschichte ist in einem amüsanten und abwechslungsreichen Rahmen eingebettet, sodass sie trotz des Themas, das mich als Leser an dieser und jener Stelle zum Nachdenken ausbremste, sich angenehm zu Lesen anbot. Dass ich letztlich nicht durchschaue, welchem der beiden von mir gesetzten Möglichkeiten ich sie zuordnen soll, ist mir unerheblich, da sie mir unterhaltsam war.

Schöne Grüsse

Anakreon

 

Hi gnoebel,

ich wollte mit dem Kommentieren der Geschichte noch warten, bis ich mir sicher bin, wie ich sie eigentlich interpretiere ... hundertprozentig weiß ich das zwar immer noch nicht, aber ich glaube das liegt daran, dass die Geschichte eben manche Dinge offen lässt.

Die Stimme im Kopf des Erzählers ist seine Mutter und nicht die Frau auf dem Grund des Sees, das ist eindeutig ... aber womit ich mich schwer tue, ist die Frage, ob er seine Freundin umgebracht hat. Die meisten Interpretationen gehen davon aus, manche nehmen sogar an er wäre ein Serienmörder :sconf: ... aber für mich wirkt der Erzähler halt überhaupt nicht so. Ich habe das erst so gelesen, dass die Freundin einen Unfall hatte - aber es spricht wohl doch mehr für die Mordthese. Ich hatte halt beim Lesen die ganze Zeit Mitleid mit dem Erzähler, vielleicht fällt es mir deshalb schwer, das zu akzeptieren.

Trotzdem hat mir die Geschichte sehr gut gefallen. Obwohl das Thema mit der Superkräfte verleihenden Schokolade ja eigentlich sehr typisch ist für dich, hebt sie sich deutlich von deinen anderen Geschichten ab. Die Stimmung ist so melancholisch, und der Stil ist viel schnörkelloser, ich würde fast sagen "erwachsener" - nur dass das blöd klingen würde, als wären deine anderen Geschichten nicht ernst zu nehmen.
Ich finde es aber echt gut, dass du mit dem Text diese Richtung eingeschlagen hast. Den hättest du beim Maskenball einstellen sollen - das wäre spannend gewesen, ob die Leute rausgekriegt hätten, dass du dahinter steckst. :)

Der Umgang mit der Superheldensache gefällt mir sehr gut, wie das so beiläufig eingebaut wird. Damit scheidet jedenfalls die Interpretation aus, dass der Erzähler sich die Stimme im Kopf nur einbildet ... glaube ich zumindest :hmm:
Ich habe mir das schon mal überlegt, dass in solchen Universen, wo viele Leute auf einmal übernatürliche Kräfte bekommen, doch auch immer ein paar dabei sein müssen, die Fähigkeiten abbekommen, die sich nicht fürs Heldentum eignen. Darüber würde ich auch gern mal schreiben, aber in meinem Kopf sind Superhelden so stark mit Comics verknüpft, dass ich es total schwer finde, so eine Geschichte ohne Bilder zu erzählen, und zeichnen kann ich nicht. Ich lese es aber sehr gern, wenn andere so was schreiben :).

Meine Lieblingsstelle in der Geschichte ist die Szene, wo er den Überfall auf die Frau verhindert. Das ist ja sozusagen die klassische Initiation für Superhelden, aber hier zeigt es so schön, dass man in so einer Situation eben keine Superkräfte braucht, sondern nur Zivilcourage.
Könnte natürlich auch sein, dass der Mann gar nichts Böses im Schilde geführt hat ... die Mutter ist mir ein bisschen verdächtig, wie die immer alles "weiß". Ob das wirklich ein Überfall geworden wäre und die Freundin ihn wirklich betrogen hat? Vielleicht ist die Mutter auch nur ein paranoider Kontrollfreak ... und der arme Protagonist wird die nie wieder los werden. :(

Aber trotzdem gefällt mir das total gut, wie er die Situation entschärft, indem er einfach nur demonstriert, dass er da ist.
Und wie er dann anschließend rumläuft, in der Hoffnung, das wiederholen zu können, damit er sich wie ein Held fühlen kann ... das fand ich dann wieder total traurig :(.

Noch zwei kleine Textsachen:

Dass ich nicht alleine bin, verschweige ich, sondern gehe mit ihnen unter Menschen.
Ich kann nicht genau erklären warum, aber nach meinem Gefühl stimmt irgendwas mit dem Satz nicht ganz (die Stimme in meinem Kopf behauptet das zu wissen). "Sondern" kommt ja eigentlich immer in solchen "nicht x, sondern y"-Konstruktionen. Verschweigen ist natürlich das gleiche wie nicht sagen, aber ich glaub deshalb ist es grammatisch gesehen noch nicht das gleiche

Ein Bissen von der Erdnussriegeligkeit und dein größter Wunsch geht in Erfüllung
Die Erdnussriegeligkeit ist das Einzige, was ich als typisch für deine anderen Texte bezeichnen würde, und fällt hier nach meinem Gefühl ein bisschen aus dem Rahmen ... auf der anderen Seite ist es Werbung, da kommt so was schon mal vor :)

Grüße von Perdita

 

Hallo allerseits,

und erstmal ein ehrlich gemeintes "vielen Dank für eure Kommentare" in die Runde.

Ich bin immer noch sehr positiv überrascht, wie viele unterschiedliche Reaktionen dieser Text hervor ruft. Und dass einige Interpretationen auch viel weiter gehen, als ich eigentlich gedacht hatte. Das ist tatsächlich sehr spannend und ich weiß noch nicht hundertprozentig, wohin das für mich führen wird.

Aber der Reihe nach:

@Leif:

Wieder muss ich daran denken, dass so mancher weltbekannte Autor vielleicht im Grabe rotieren würde, wenn er von den Interpretationen wüsste, die man in der Zwischenzeit seinen Werken angedeihen ließ.
Ja, diesen Gedanken hatte ich auch schon öfter (nicht hier bei diesem Text, sondern allgemein) und wollte es auch schon immer mal in eine Geschichte verwursten. Auf der anderen Seite ist es toll zu sehen, wieviele Möglichkeiten es gibt, Dinge aus einem Text herauszulesen. Und ich finde, solange der Text einer Interpretation nicht deutlich widerspricht, ist sie auch nie falsch.

Sicher gibt es deutlich düstere Geschichten, als diese und ich glaube, du hast mit deiner These der Erwartungshaltung nicht unrecht. Sie ist nachdenklicher, als mein "gewöhnlicher" output.
Und jetzt geh ich meinen Drucker suchen...

@Flo:

Hehe... Ausruhen auf Lorbeeren würde ich es nicht nennen.
Klar ist es super, wenn Leuten meine Texte gefallen und ich freue mich über jeden Zuspruch - aber ich schreibe meine Sachen nicht mit dem Gedanken an möglichst viel Beifall. Ich erzähle einfach gerne Geschichten und die "typische" Gag-Geschichte ist das Medium, in dem ich das am besten kann und das auch mir selbst am meisten Spaß macht.
Aber du hast natürlich Recht, Abwechslung schadet nie und es freut mich, dass diese Geschichte dich angesprochen hat ;)

Ich kann inhaltlich auf jeden Fall sagen, dass es das Mädchen gegeben hat und dass es auch wirklich ertrunken ist. Sie ist keine Metapher.

Die drei Punkte habe ich eigentlich schon immer dafür benutzt und nie darüber nachgedacht, wenn ich ehrlich bin. Nein, stimmt nicht, einmal hatte ich sie zentriert und da meinte jemand, dass man das leicht übersehen kann. Schätze, das ist wohl eine Geschmackssfrage.


@Anakreon:

Ich glaube, du bist auch etwas weiter gegangen, als ich beim Schreiben.
Das Mädchen ist/war real und ist ertrunken. Um bei deinen beiden Möglichkeiten zu bleiben, wird es also eher die erste sein: die traumatische Erfahrung. Religiöse Motive wollte ich nicht einbauen in den Text.

Auf jeden Fall freut es mich, dass die Geschichte dir gefallen hat und ich hoffe, dass deine Verwirrung (und der Husten) sich löst. So tief muss man diesen Text gar nicht durchdenken ;)


@Perdita:

Ebenfalls sehr viele interessante Gedanken.

Nein, einen Serienmörder wollte ich aus meinem Erzähler eigentlich nicht machen. Die Idee ist interessant, war aber eigentlich nicht die, die ich im Kopf hatte. Seine Freundin ist tot und das tut ihm weh. Im Prinzip stand er zwischen zwei Frauen und hat sich entschieden. Und jetzt kann er nachts nicht mehr schlafen. Ob man jetzt mit ihm Mitleid haben muss/darf, will ich nicht beurteilen ;)

Freut mich aber auf jeden Fall, dass es dir gefallen hat.
Die Superheldennummer ist hier natürlich nur Hintergrund und es ist schön, dass dir diese absichtliche Beiläufigkeit zugesagt hat. Ich fand das, wie schon irgendwo geschrieben, sehr reizvoll, eine doch eher intime Geschichte vor diesem Hintergrund spielen zu lassen, der dann auch nicht mehr ist, als ein bloßer Hintergrund.

Superhelden sind eh eines meiner Lieblingsthemen und ich finde auch, dass in diesem Bereich noch längst nicht jede Geschichte erzählt ist. Vor allem eben genau dieser Punkt: Wenn in einer Geschichte alle Leute Superkräfte bekommen haben, was ist mit denen, die es nicht so gut getroffen haben? Es ist relativ leicht, die Welt zu retten, wenn man durch einen Sturm unsterblich geworden ist - aber wenn man die Fähigkeit bekommen hat, Eintagsfliegen einen Tag länger leben lassen zu können, wird es schon schwieriger...
In dem Zusammenhang kann man vielleicht "Misfits" nennen. Eine britische Serie über Superkräfte, die sich genau diesem Thema widmet.

Und ja, die Szene in der er die Frau rettet, hat in der Tat tragische Elemente. Sein einer großer Moment, der aller Voraussicht nach aber einzigartig bleiben wird. Wobei du auch Recht hast, dass es zeigt, dass man eben keine Superkräfte braucht, um jemandem den Tag zu retten.

Ich glaube auch, dass er die Stimme noch eine Weile in seinem Kopf behalten wird, bin aber nicht ganz sicher, ob er selbst das als eine schlechte Sache bezeichnen würde...

Deine erste Textsache werde ich mal verbessern. Der Satz ist in der Tat etwas holprig.

 

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