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Die Stimme in meinem Kopf
Als Kind wollte ich Lokomotivführer werden. Die können die Zukunft sehen.
Ich sitze in einem Abteil in der Mitte des Zuges, auf der Fahrt von Hier nach Dort, von A nach B, von Irgendwo nach Irgendwo anders. Das spielt keine Rolle. Ich sehe aus dem Fenster, döse vor mich hin, zähle die Kühe auf der Wiese und sehe durch sie hindurch. Der Lokführer, denke ich, hat sie bereits gesehen, die Kühe. Egal, wohin es mich auf dieser Reise verschlägt, er war bereits dort. Alles, was ich draußen vor der Scheibe sehe, er hat es gesehen. Immer ein paar Sekunden vor mir. Er lebt in meiner Zukunft.
Sie sitzt mir gegenüber, streicht sich eine Haarsträhne aus der Stirn und gähnt. Ich gähne ebenfalls, denn es steckt an. Sie muss lachen und wir kommen ins Gespräch, tauschen Namen und Geschichten. Drei wundervolle Monate später liegt sie auf dem Grund des Sees und ich nicht.
Komm, lass uns gehen, sagt ihre Stimme in meinem Kopf und ich gehe nach Hause.
...
"Ich kann mit toten Menschen reden."
Ein sauber manikürter Zeigefinger schiebt eine Lesebrille einen Nasenrücken hinauf, während eine Stirn unter einem graumelierten Kurzhaarschnitt gerunzelt wird. Bewegung kommt in das perfekt rasierte Gesicht, als Lippen sich öffnen und ein Wort formen, das vom Gehirn eigentlich als zwei gedacht war.
"Wiemeinen?", fragt die Stimme meines Gegenübers irritiert.
"Einem Menschen, um genau zu sein", antworte ich, um genau zu sein. "Einen ganz besonderen Menschen."
"Ich verstehe nicht."
"Sie haben mich gefragt, was mich auszeichnet. Was mich von den anderen Bewerbern abhebt." Ich lehne mich zurück und sehe ihm direkt durch die Lesebrille in die Augen. Die Stimme in meinem Kopf lobt mich für meine Offenheit. Offenheit ist wichtig in diesen Situationen. Wir haben es lange vor dem Spiegel geprobt. "Und das ist es. Das ist, was mich einzigartig macht."
"Ich verstehe, Herr... ", er blättert in meinen Unterlagen und hält schließlich meinen Lebenslauf in der Hand. Bis er meinen Namen schließlich gefunden hat, ist die Pause jedoch so lang geworden, dass es ihm peinlich ist, den Satz fortzusetzen, also überspringt er ihn einfach. "Und wie genau, glauben Sie, können Sie diese Fähigkeit in den Berufsalltag eines Versicherungskaufmannes integrieren?" Als Kind wollte ich Lokomotivführer werden, jetzt sitze ich hier. Als Kind habe ich keine Stimme gehört, dann habe ich Schokolade gegessen. So ist das Leben.
"Ich weiß nicht", antworte ich ehrlich. "Es war das erste, was mir in den Sinn gekommen ist."
"Selbstverständlich." Spott in der Stimme ist nicht so schlimm, wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hat. Vielen Dank für das Gespräch, wir werden uns bei Ihnen melden. Selbstverständlich.
Du musst mal wieder auf die Piste, sagen sie. Kannst dich nicht ewig einigeln. Andere Mütter haben auch schöne Töchter. Und dass diese eine dich nun verlassen hat, ist nicht das Ende der Welt. Sagen sie. Lass uns mal wieder einen Trinken gehen, unter Menschen, auf andere Gedanken kommen. Alleine sein macht depressiv, sagen sie. Dass sie mich nicht auf diese Art verlassen hat, wissen sie nicht. Dass ich nicht alleine bin, verschweige ich. Stattdessen gehe ich mit ihnen unter Menschen. Sie versuchen, mich aufzubauen, mir einzureden, dass die niedliche Blonde da drüben mir zugezwinkert hätte. Hat sie nicht.
"Ach komm, es könnte schlimmer sein." In seiner Hand ein Cocktailglas, in seinem Körper der Cocktail. Ich halte mich an Cola. Sie hätte nicht gewollt, dass ich Alkohol trinke, hat sie nie.
"Ja", sage ich tonlos und erhöhe den Cola-Anteil in meinem Magen um einen Schluck.
"Ich meine, klar, du hast keinen Job, keine Kohle und deine Alte ist weg." Ich bin gespannt auf das aufbauende Aber. "Aber ... aber... Moment, ich glaube, die hat eigentlich mich gemeint. Bin gleich zurück." Er schlängelt sich und sein Glas durch die Menschenmenge Richtung da drüben und kommt nicht wieder. Mein anderer Kumpel hat seine Freundin mitgebracht und beide sind inzwischen irgendwo auf der Tanzfläche verschollen. Ich bin froh, Freunde zu haben, die diese Sache mit dem Aufbauen so ernst nehmen.
Sie werden dein Talent erkennen, sagt sie. Nicht heute und auch nicht morgen. Aber irgendwann wird die Welt sehen, wie außergewöhnlich du bist. Danke, sage ich, hole meine Jacke an der Garderobe, trete auf die Straße und werde um ein Haar vom Blitz getroffen.
Die junge Frau mit den dunklen Haaren zuckt entschuldigend mit den Schultern, die Hand immer noch in meine Richtung ausgestreckt, während noch ein paar Funken zwischen ihren Fingerspitzen züngeln und die versengte Stelle an der Wand hinter mir leise vor sich hin qualmt. Sie hatte gedacht, ich wäre ihr untreues Schwein von Freund. Ihre Worte, nicht meine, ich kenne ihr untreues Schwein von Freund ja gar nicht. Der hätte es verdammt nochmal verdient gehabt, sagt sie, als würde das irgend etwas erklären. Es erklärt nichts, aber ich brauche keine Erklärung.
...
Wäre ich Lokomotivführer geworden, hätte ich die Schokolade damals vielleicht nicht gegessen. Damals, als sie noch da war. Als Lokomotivführer hätte ich gesehen, was danach kommt. Es war nur eine alberne Werbung: Schokolade, die Superkräfte gibt. Ein Bissen von der Erdnussriegeligkeit und dein größter Wunsch geht in Erfüllung. Klar.
An einem Tag kann ein Mädchen keine Blitze aus ihren Händen schleudern, am nächsten schon. Da gibt es diesen Typen, der jetzt seine Haut transparent erscheinen lassen kann und einen, irgendwo in Norwegen, der jede Diskussion durch die Wahl der richtigen Worte gewinnt. Ich habe von einer jungen Frau gehört, die von einem Moment auf den nächsten zweidimensional wurde. Das Internet ist voll von diesen Geschichten. Nach und nach sind sie aufgetaucht, durch die Blogs gewandert, die sozialen Netze, die Videoportale. Menschen haben ihre absurden Fähigkeiten gezeigt und die Welt schaute zu.
Meine Fähigkeit eignet sich nicht für die Öffentlichkeit. Sie eignet sich nicht einmal für eine Karriere bei der Versicherung. Was zeichnet Sie aus? Ich höre Stimmen. Selbstverständlich.
Es gibt da einen Typen, der Kohle in Gold verwandelt, er muss sie nur berühren.
...
Ein paar Tage später das nächste Vorstellungsgespräch. Ein anderer Schreibtisch, eine andere randlose Brille, ein anderes perfekt rasiertes Gesicht. Ich warte auf die Frage, was mich auszeichnet. Meine Antwort: Einsatzfreude, Engagement, Energie. Lügen mit E. Doch die Frage wird nicht gestellt, stattdessen Fragen über meine berufliche Vergangenheit, meine Wünsche, meine Ziele. Wo sehen Sie sich selbst in fünf Jahren. Weiß nicht. Wo sehe ich mich selbst in fünf Minuten?
Fünf Tage später sehe ich mich bei der Unterschrift meines Arbeitsvertrages. Ich bin stolz auf dich, sagt sie. Sie hat nie an mir gezweifelt.
Von jetzt an bin ich dafür zuständig, Zahlen in Tabellen einzutragen. Ich kann nicht in die Zukunft sehen, aber ich verdiene Geld. Jeden Tag sitze ich nun in der Bahn auf dem Weg zur Arbeit, schreibe ich Zahlen in Tabellen, gehe ich zur selben Zeit in die Kantine, fahre ich nach Hause. Jeder Tag endet mit dem Gedanken an diese eine Zugfahrt damals, an ihr Gähnen, an den Ausdruck auf ihrem Gesicht, als sie langsam auf den Grund des Sees sank. Ich wache am nächsten Morgen auf und weiß, dass der Tag mit diesem Gedanken enden wird. Vielleicht kann ich doch in die Zukunft sehen.
Manchmal liege ich Abends wach und rede mit der Stimme in meinem Kopf. Wir schwelgen in Erinnerungen, reden über diesen einen Besuch auf dem Rummel, als sie sich in der Achterbahn fast übergeben musste und ich mich nicht getraut habe zu lachen. Das tut man nicht.
Der Mann in Norwegen hat in der Zwischenzeit andere Menschen mit speziellen Fähigkeiten um sich geschart. Es ist an der Zeit, sagt er, eine neue Weltordnung zu beginnen.
Pass auf!, sagt sie. Ich drehe den Kopf und sehe auf der anderen Straßenseite einen Mann, der auf eine junge Frau zugeht. Es ist spät und bereits dunkel. Wenn ich nicht schlafen kann und die Erinnerungen zu viel werden, gehe ich nachts spazieren, das befreit den Kopf. Niemand ist um diese Zeit noch unterwegs, außer einem Mann, einer jungen Frau und mir.
Der führt nichts Gutes im Schilde. Ich kann es sehen. Sie kann es sehen. Vielleicht einer der wenigen Vorteile ihres Zustandes. Tu doch was! hallt es in meinem Schädel, als der Mann sich der Frau nähert, in seiner Hand ein Gegenstand, im Schein des Mondes kurz aufblitzend. Ich laufe über die Straße.
"Entschuldigung", beginne ich auf halbem Wege, ein paar Meter entfernt. "Können Sie mir sagen, wie ich zur U-Bahn komme? Ich hab mich irgendwie verlaufen."
Sie erschrickt, doch dann lächelt sie und deutet eine Richtung, zwei Straßen weiter, dann links und dann wieder rechts. Der Mann ändert unauffällig seine Laufrichtung und geht an uns vorbei. Zeugen sind offenbar nicht so seines.
Gut gemacht, lobt ihre Stimme in meinem Kopf. Ja, gut gemacht. Es fühlt sich gut an, ich habe einen Überfall vereitelt, vielleicht einer Frau das Leben gerettet. Wer weiß das schon. Das schönste Gefühl seit ... seit damals. Meine Schritte werden leichter, ich gehe hoch erhobenen Hauptes durch die Straßen. Meine Straßen. Sieh her, Welt, hier bin ich und du legst dich besser nicht mit mir an. Was zeichnet mich aus? Ich bin ein Held.
Am nächsten Tag bin ich kein Held mehr, am nächste Tag trage ich Zahlen in eine Tabelle ein. Manchmal sind die Zahlen falsch, dann muss ich sie abgleichen und in Rücksprache mit dem Chef korrigieren. In Amerika hat sich eine Gegenbewegung formiert. Die Gefahr, die von der Gruppe in Norwegen ausgeht, könnte die gesamte Weltordnung bedrohen, sagen sie. Vielleicht sollte ich mir eine Maske basteln.
In der Nacht wandere ich durch die Straßen, wachsam und zu allem bereit. Ich trage keine Maske, denn sie findet die Idee albern. Ich muss mein Gesicht nicht verstecken, findet sie. Und sie findet, dass sie stolz auf mich ist. In dieser Nacht rette ich keine Frauen vor Übergriffen. Auch in der nächsten nicht und nach ein paar Wochen akzeptiere ich, dass dieses Ereignis wohl ein einmaliges war. Wie könnte ich auch ein Held sein?
Gestern hat Paris gebrannt. Zwei Gruppen von Menschen mit besonderen Fähigkeiten haben sich in der Mitte getroffen. Die einen, um die Welt zu beherrschen, die anderen, um die Welt zu beherrschen, aber anders. Ich liege wach im Bett und denke an den See.
Warum hängst du dieser Schlampe immer noch nach?
Ich komme nicht los von ihr.
Du brauchst kein schlechtes Gewissen zu haben. Sie hat dich betrogen, ich konnte es fühlen.
Ich weiß, Mama. Du hast es mir erzählt.
Sie war nicht gut für dich, das habe ich von Anfang an gesagt. Und jetzt schlaf, morgen ist ein Arbeitstag.
Ja, Mama.