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Die Stille des fallenden Schnees
Mit aller Kraft legte sich Susanne in die Pedale, die Lider halb geschlossen. Eisigharte, kleine Schneeflocken, die waagrecht auf sie zuflogen. Gegenwind, wie immer.
Durch ihren Atem hatten sich längst tausende einzigartige Eiskristalle an dem langen, mit weißen Angorafäden durchzogenen Wollschal gebildet, die unangenehm nass auf ihrem Kinn scheuerten.
Unaufhörlich zogen Autos an ihr vorbei, nicht auf die vereisten Spurrinnen achtend, in die sie die Radfahrerin abdrängten. Morgendlicher Arbeitsverkehr, Wagen um Wagen, jeder mit Scheibenwischern auf Hochtouren, die Fahrer noch schläfrig in ihren gemütlichen Sitzen...
Susanne kannte den Weg wie im Schlaf, jeden Tag die selben Straßen, an den selben Stellen die in zweiter Reihe parkenden Kleinbusse, Unbekannte, eingemummt und frierend an den Bushaltestellen. Geschickt wich sie mit ihrem alten Flohmarktfahrrad den gefährlichsten Stellen aus.
Seit über drei Jahren war sie nun schon in dem kleinen Büro am Stadtrand eingestellt, fuhr die sieben Kilometer täglich, bei jedem Wetter. Morgensport schadet nicht. Geld legte sie lieber aufs Konto, sparte für ihren Traum, eine Reise nach Neuseeland, anstatt sich ein Auto zu leisten, das sie sowieso kaum brauchen würde.
Sie legte sich noch fester gegen den erbarmungslosen, schneidenden Januarwind, der ihr die Tränen an den Wimpern festfrieren ließ, als sie sich die kleine Anhöhe zur Allee hinaufquälte. Die über hundertjährigen Eichen streckten mächtig ihre bizarren, unter der Last bald brechenden Äste in den grauweißen Himmel, der immer noch, wie seit Tagen schon, Schnee als einen nicht enden wollenden Teppich auf die trostlos-gefrorene Erde nieder schickte.
Bei den tiefen Temperaturen brannten ihre Lungen von der Anstrengung. Nur noch den Hügel hinunter und um die nächste Kurve.
Langsam bremste sie das Rad, die trotz der dicken Fäustlinge klammen Finger schmerzten bei der Bewegung, brannten heiß, trotz der grausigen Kälte. Der Winterdienst hatte in der Allee gestreut, die groben Körnchen allerdings waren zusammen mit dem durch unzählige Autos zusammengepressten Schnee alles andere als rutschfest. Vorsichtig fuhr sie, immer noch von einer Autoschlange eskortiert, den tückischen Hügel hinab. In der folgenden Rechtskurve, fast neunzig Grad, war eine Eisplatte unter dem sich auftürmenden Schnee verborgen. Der Schneepflug hatte mit seiner Schaufel meterhohe moderne Kunstwerke geschaffen, durch die Abgase schon leicht angegraut, die die Straße allerdings wesentlich verengten.
Susanne schert aus, vorsichtig darauf bedacht, dem nachfolgenden Fahrzeug genügend Spielraum zu lassen, um die Kurve weiter nehmen zu können.
Der Fahrer des neuen dunkelblauen BMWs, ein trotz des Wetters elegant gekleideter Mittvierziger, hat es offenbar eilig, eng schneidet er nach rechts, um den hartgefrorenen Eisklumpen auszuweichen, die vor ihm auf der Straße liegen.
Susannes Fahrrad gleitet ohne einen Laut unter die Reifen. Die Stille des fallenden Schnees verschluckt den entsetzten Schrei der jungen Frau.
Tonlose, unendliche Sekunden.
Das Rad, verbogene Lenkstange und verbeulte Reifen, mitten auf der Fahrbahn. Eher am Rand, mit den Beinen halb unter einer Schneewehe, der grotesk verdrehte Körper. Rote Spuren, Minuten später bereits vom jungfräulichen, unberührt weißen Schnee verdeckt.
Der Verkehr bricht zusammen.
Zufrieden lenkt der Leiter des großen Tourismuskonzerns seinen Wagen in die beheizte Tiefgarage. Trotz diesem Wetter noch rechtzeitig zum Meeting.