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Die Stille danach
Sie wacht schweißgebadet auf. Mühsam windet sie sich aus ihrer Decke, hockt sich auf und reckt sich zum Nachtkasten. Nach mehrmaligem Danebengreifen erwischt sie endlich ihr Handy und drückt die Sperrtaste. Nichts. Keine Nachricht. Sie seufzt schwer und lässt sich zurück auf die Matratze fallen. Die Augen geschlossen, drückt sie ihre Hände auf ihr Gesicht und verharrt so für mehrere Minuten. Erst als ihr vor Kälte die Härchen an Armen und Beinen aufstehen rollt sie sich in einer flüssigen Bewegung zum Bettrand und schwingt die Beine auf den Boden. „Na dann los“ seufzt sie und erhebt sich. Müde schleppt sie sich ins Bad, die Beine schleifen mehr als sich zu heben. Unzufrieden blickt sie in ihr Spiegelbild. Müde, erschöpft, ausgebrannt. Die tiefen bläulichen Ringe unter ihren Augen verdeckt sie so gut es geht mit einem, für ihre Blässe, viel zu dunklen Make-up. „Was solls“ denkt sie „besser sieht es allemal aus“. Sie stellt einen Kaffee auf und hofft die Müdigkeit damit, zumindest vorübergehend, vertreiben zu können. Nochmal das Handy checken. Nichts, wie immer.
Im Bus sind viel zu viele Menschen, sie zwängt sich durch die schwitzenden, aneinander klebenden Leiber und schafft es gerade noch einen Sitzplatz zu ergattern. Sie ist nicht besonders groß und zierlich gebaut, da kommt man in Menschenmassen schneller voran als der rundliche Junge mit der dicken Schultasche, der es auch auf den Platz abgesehen hatte. Verlegen lächelt sie ihn an und kassiert dafür ein wütendes Schnauben. Es vibriert in ihrer Tasche. Mit schreckgeweiteten Augen reißt sie hektisch den Reißverschluss auf und wühlt nach ihrem Handy. „Hallo?“ haucht sie, ganz außer Atem vor Aufregung. „Wo bleibst du? Ich hab dir doch gesagt wir treffen uns um 9. Kannst du nicht einmal pünktlich kommen?“. Ihre Schwester. „Ich weiß, tut mir Leid, bin in 5 Minuten da!“ antwortet sie mit belegter Stimme und nimmt das Handy vom Ohr, hört aber trotzdem noch wie ihre Schwester meckert, sie soll doch bitte nicht schon wieder wie eine Mimose reagieren. Sie legt auf. Mittwochs trifft sie sich immer mit ihrer Schwester und ihrer Stiefmutter zum Frühstücken. Sie hasst es. Sie ist mit ihrer Schwester noch nie besonders gut ausgekommen, sie waren einfach schon immer zu verschieden aber ihre Stiefmutter, die kann sie noch weniger ausstehen. Laut, forsch und rücksichtslos. „Die jungen Leute hängen immer nur am Handy!“, blafft die alte Dame neben ihr „Wo soll das hinführen, hm?“. Beim Sprechen wackelt ihr Gebiss und kleine Spucke Fäden hängen zwischen ihren Lippen. Sie sieht die alte Dame aus großen Augen an, unfähig ein Wort hervorzubringen. „Nicht mal reden können sie“ zetert die Alte und wendet sich ab. Sie wünscht sich, sie hätte reagiert. Etwas gesagt, irgendwas, aber die Worte bleiben ihr immer im Hals stecken. Sie ärgert sich über sich selbst, dass sie nicht einfach zurück gekeift hat. Was geht’s die Alte an wie oft sie auf ihr Handy sieht? Immer hast du Angst, sagt sie leise zu sich selbst. Wovor?
Vor dem Kaffee sticht ihr gleich der grellgelbe Mantel ihrer Stiefmutter ins Auge. Geschmacklos, denkt sie sich und winkt ihnen im Gehen zu. „Endlich“ seufzt ihre Schwester genervt, als sie vor ihnen steht und reißt sie am Arm durch die Tür. Am Tisch tratschen ihre Stiefmutter und ihre Schwester wie gewohnt über die Nachbarin, die Friseurin, den Kollegen bei der Arbeit und über wen auch immer es sonst noch die kleinste Kleinigkeit zu lästern gibt. Sie sitzt schweigend daneben. Wie immer. Sie checkt noch einmal ihr Handy, unter dem Tisch, ja nicht zu auffällig. „Sag nicht du führst dich noch immer wie eine Verrückte auf und siehst alle 2 Sekunden auf dein Handy“ stöhnt ihre Schwester. Verlegen sieht sie zu Boden, während sie das Handy zurück in die Tasche schiebt. „Gott, es ist jetzt schon 3 Jahre her, irgendwann ist genug! Kannst du dich nicht einfach einmal wie ein normaler Mensch verhalten? Es zumindest versuchen?“ faucht ihre Schwester. Sie schweigt während ihr die Tränen in die Augen steigen. „Ich hab sie nicht vergessen, so wie du!“ flüstert sie. Sie räuspert sich und setzt mit lauter Stimme nach „Ich habe sie angerufen, nicht du. Du musst nicht mit der Schuld leben!“. Furchen überziehen das Gesicht ihrer Schwester. Sie steht auf und packt ihre Tasche mit der einen, und ihre Jacke mit der anderen Hand. Sie will die Antwort gar nicht hören. Weg hier. Einfach weg.
Ohne Ziel fährt sie in der Gegend herum und lehnt ihren Kopf, der ihr plötzlich viel zu schwer für ihren Hals erscheint, an die kühle Busscheibe. Laut und hektisch hüpft eine Horde kleiner Kinder durch die Gegend, aber sie ignoriert sie einfach. Tut so, als existiere die Welt um sie herum gar nicht. Oder als existiere sie selbst nicht? Das Handy checken. Nichts. Es war schon so eine Routine geworden, dass sie in den letzten Wochen und Monaten gar nicht mehr darüber nachgedacht hatte. Ihre Schwester hatte Recht. Sie fühlt sich schuldig, sie hätte nicht so hart sein dürfen und einfach aufstehen und gehen. Das ist nicht ihre Art, sie macht sich jetzt bestimmt Sorgen. „Endstation, bitte alle aussteigen“ hört sie die Stimme der Busfahrerin durch die Sprechanlage.
Sie kennt diesen Ort. Seltsam, dass es sie gerade hierher verschlägt, wo sie es doch seit dem Unfall immer vermied an diesen Ort zu kommen. Langsam, fast schon bedächtig wandert sie durch die Reihen aus totem, grobem Stein mit längst vergessenen oder schmerzlich erinnerten Namen, bis sie zur großen Eiche im südlichen Teil gelangt. Sie hat ihren Namen schon lange nicht mehr gelesen.
Kniend sitzt sie vor dem Grab ihrer Mutter, Tränen laufen über ihre Wangen und ihre Lippen beben. „Es tut mir Leid Mama“ krächzt sie aus trockener Kehle. „Ich weiß, du würdest sagen du hättest nicht abheben dürfen und, dass es nicht meine Schuld ist“, sie drückt ihre Lippen so fest aufeinander, dass sie weiß werden und schließt die Augen. „Ich kann einfach nicht aufhören drüber nachzudenken, weißt du. Was wäre wenn ich nicht angerufen hätte? Wärst du dann noch da?“, heftige Schluchzer schütteln ihren zarten Körper. „Du hast gesagt du rufst zurück“ wimmernd drückt sie sich an den Grabstein und flüstert „Ich glaube mein Handy ist kaputt Mama, du hast nie zurückgerufen.“