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Die sterbende Meerjungfrau
Meine erste Erinnerung war das Rauschen des Ozeans. Weich wie mein eigener Atem, rhythmisch wie mein schwaches Herz. Aber dann schlage ich die Augen wieder auf, und ich weiß, dass der Ozean zu weit entfernt ist, um ihn jemals zu erfahren.
Ich sitze im absoluten Vakuum der Nachbarschaft um 4 Uhr nachts, wo gelbe Irrlichter auf Laternen sitzen und der Schwärze so etwas wie Kontur schenken. Das Rauschen – weit entfernt – ist der einzige Hinweis auf eine Welt, die da draußen existiert. Autos, die über tote Ampeln fahren. Woanders soll Dunkelheit glitzern, schreien, heulen, doch davon wissen zwanzigtausend Wertheimer in ihrem allnächtlichen Winterschlaf nichts. Es erschiene mir auch nicht richtig.
Die Kälte benetzt meine Lippen und sickert in meine Lungen. Ein schreckliches Gefühl, und es gibt nichts Schöneres.
Aber ich muss zurück. Durch die Glastür in das erstickte Schlafzimmer, wo sie liegt, so wie ich sie zum letzten Mal verlassen hatte. Ihr Rock hängt über dem Gebirge aus Wodkaflaschen in der Ecke, von denen eine umkippt, sobald ich eintrete – natürlich, ich bin nie allein bei all den Geistern in meinem Zuhause. Und sie ist da. Ich beuge mich über ihren Körper, um sicher zu gehen, dass sie’s wirklich ist: Die schwarzen Sonnen vor poolblauem Himmel sind starr auf die Zimmerdecke gerichtet, die Fingerspitzen weich und warm.
Ich hoffe, sie erfriert nie.
Stadtstrand.
Künstlicher Sand, Plastikstühle, für 5€ nach Ibiza.
Jenseits der Kante geht es in den Abgrund, zwei Meter tief in den schlammigen Fluss, wir sitzen auf den von der Hitze gebratenen Backsteinen und schauen der Fähre beim Ausparken zu. Der größte Idiot unter uns fällt ins Wasser. Sein bester Freund springt hinterher.
Die beiden wollen mal Pilot werden.
„Heute bei dir?“, als wär’s eine Frage, die schwarzen Sonnen halb hinter lila geschminkten Lidern versunken. In der Welt muss es ein kaleidoskopisch buntes Meer geben, dessen Meerjungfrau sie ist. Wenn ich betrunken bin, muss ich ihr das sagen.
Heute bei mir.
Die Steintreppe hinter dem Spielplatz führt direkt in die ausgeräucherte Kristallkaverne, die ich Wohnzimmer nenne, wohin selbst die Lichter ausgehen.
Heute zu Gast: Ein Körper, fünf Fratzen, Mutationen hinter zerkratzten Masken. Ich beobachte den Schlauch, wie er von Hand zu Hand weiter gereicht wird: Lackierte Nägel, unlackierte Nägel… Ich bin dran. Glückshormone im Gewehrtakt, Kopfschuss! Blaues Blut spritzt auf die Fotos an der Wand. Herzklappen trommeln zu Upbeats von Künstlern, die es weiter brachten.
Trink.
Ich vermisse die Meerjungfrau. Und sie Dinge sagen zu hören… Wie lange ist es jetzt her?
Trink.
Den Kater hat man überfahren. Ich weiß noch, wie einer mal dem Tier Tequila eingeflößt hat. Wir stoßen an, schon okay, der ist jetzt im Himmel.
Trink.
Eine zieht mich aus dem Zimmer bis ans andere Ende. Sobald sich ihr Griff löst, werfe ich mich rücklings gegen die Wand: Die Wärme hat sich in die Tapete gefressen und lädt mich auf, gerade gibt’s nichts Schöneres. Sie verschränkt die Arme. Den Blick kenne ich seit der Mittelstufe.
„Hat sie dir… am letzten Tag irgendwas gesagt, was sie vorhatte, irgendwas?“
Wie von alleine tanzen meine Fingerkuppen auf der schmalen Zone zwischen Jeans und Top, wo sie Haut zeigt. Klebrige Fäden der Stille. Sie erwidert mein Lächeln als wär’s echt, und ich umarme sie, weil jeder Einzelne hier die Meerjungfrau vermisst.
Trink.
Wir haben eine zwölfjährige Schönheitskönigin bei uns, diesen Monat die Freundin von einem Skater, er gehört zu den Guten. Auf dem Gips um ihr linkes Bein sind mit Filzstift alle Namen ihrer Neiderinnen verewigt - sie wusste noch nicht, wie man sich in der Gefahrenzone der wilden Jungs positioniert. Ich füge mich hinzu, hellgrün über Julia, Nicole, Sophia und Michelle.
Ihr Lächeln über mir bringt die Glühlampe zum Flackern. Sie alle wollen Avril Lavigne sein.
Tiefkühltruhenkalt und schwer liegen die Kapseln in der Hand. Luftballons in Knetfarben füllen das Vakuum – des Raums, unserer Lungen, meines Gehirns.
Einatmen.
… einatmen.
Einer hält’s nicht aus, prustet los, und wie Böller in Luftballons explodieren unsere Köpfe. Ich lache wie ein gefolterter Delphin und falle hart auf das mit Brandflecken gemusterte Zedernholz.
Trink nach.
Wo die Dämmerung am weitesten entfernt ist, stolpert alles Frischfleisch ins Kühle, und nur der giftige Kern der Pfirsich bleibt. Das letzte Kohlestück flammt zwischen meinen Fingern auf – bald müssen wir auf Sauerstoff umsteigen. Bis dahin stoßen wir mit Resten an. „Auf jetzt.“
Trink aus.
„Was habt ihr so nach’m ersten Tag gemacht?“ Wir stehen vor dem Drahtzaun, hinter dem das Freibad schläft, und er presst die tote Kippe mit der Schuhspitze tief in den Asphalt.
„Nich‘ gelernt, oder?“
„Den Kalender von der Wand gerissen.“ Im Nachtwind tanzen ihre Strähnen Jitterbug.
„Irgendwas mit Nicole.“ Jenseits des Gitters breiten wir uns frei aus wie Papierflieger in der Stille. Was bringt’s uns, die Schwimmbecken sind leer.
Den weiten Weg zurück nach Hause sprinten, springen, stolpern wir. Wer schnell sein will, hat die Wahl: Der Wolf verfolgt dich, oder du verfolgst den Wolf. Ich werfe die letzte Bierflasche im hohen Bogen in einen Innenhof. Ein bellender Hund weckt Lichter auf.
Jetzt sprinten wir wieder, springen an der Kreuzung auseinander, und ich stolpere allein den Berg hinauf.
5 Uhr. Große Pause bis zur Nacht.
Wer hat die Farben mitgenommen?
Das Zimmer sieht aus wie die Postapokalypse und riecht danach, und der erste Schritt endet in den Scherben eines Jägermeisters, der jetzt nie seine Cousinen im Gebirge nebenan kennenlernen wird.
Vor ein paar Wochen kamen sie alle. Jetzt ist ein Pärchen auf der Autobahn verreckt, und ihr Kind hat den Palast ganz für sich und seine neuen Freunde. Glückliches Schwein.
Ich checke meine verpassten Anrufe, skippe die beiden von meinen Eltern und rufe Nummer Drei zurück.
Der ist höchstens auf dem Heimweg.
„Was läuft?“ Im Hintergrund schnurrt der BMW.
„Hey.“
„Was machst du?“
„Daheim. Du?“
„Auf’m Heimweg. Würzburg für’n Arsch. Nächstes Wochenende wieder bei dir am Start.“
Ich mixe aus fast geleerten Gläsern einen satanischen Wunschpunsch und warte.
„Du, hör mal.“
„Ich hör zu.“
„Kann des sein dass es dich am heftigsten erwischt hat?“
„Was meinst du?“
„Weißt schon.“
„Also das Angebot steht. Komm und überzeug‘ dich selbst.“
Der BMW knurrt, vielleicht hat er eine wache Ampel entdeckt. „Ey, das ist normal dass man, wenn so was –“
„Ich hatt’s genau so wenig geglaubt wie du.“
„- ist eh erst eine Woche ‘rum. Hör mal, ich glaub‘ echt, du drehst halt ‘n bisschen durch. Ich komm‘ morgen mal vorbei.“
„Eben.“
„Okay.“
„Sag‘s keinem.“
„Mach ich nicht.“
„Okay.“
Das Waschbecken schluckt den Wunschpunsch, und für einen Herzschlag frage ich mich, wie er geschmeckt hätte, aber dafür ist es zu spät.
Was haben wir gesagt?
Wie immer blieb das Schlafzimmer unversehrt, früher Kokon fürs nüchtern sein, heute Schneewittchens Konservendose. Ich lege mich neben sie, wie ich es immer haben wollte, und denke, früher oder später hätte auch ich mich in sie verliebt, aber wenn wir im Herbst alle gehen, wird sie noch da sein, so wie sie war.
Trink.
Endlose Lichtschlieren zieren das Türkis jenseits der Kante. Das Tier streift intoxikiert meine Chucks und huscht ins warme Dunkel, das den Garten gleich Gottes schützender Hand umschließt, als sie neben mir auftaucht. „Kannst du nicht mehr schwimmen?“
„Nicht heute Nacht.“ Ein Overkill von Shots hat meinen Hals zerstochen und meine Stimme in ein Flüstern verwandelt, auf einer Frequenz, die keiner hört. Sie schon. Ihre Hand umfasst meine, als sie aus dem Pool steigt, und wir lauschen den aufschäumenden Kommentaren der Kids auf der anderen Seite. Sind die nicht damit beschäftigt, hinter Büschen zu vögeln?
Ganz oben, die Augen am Nachthimmel klebend, dessen Wellen durch das Dachfenster brechen und uns auf das Bett drücken. Die Sterne scheinen heute nicht, aber das ist okay, sie hätten uns nur Konkurrenz gemacht. Wir sagen dieselben Dinge.
An der Wand sehe ich vertraute Bilder, gemalt mit Lippen- und Granatenstiften. Ich bin wieder im gläsernen Sarg, und wie weit ich von Wertheim weg drifte, sie ist bei mir. Ich beuge mich über ihren Körper, um sicher zu gehen, dass sie’s wirklich ist: Die schwarzen Sonnen vor poolblauem Himmel sind starr auf die Zimmerdecke gerichtet, die Fingerspitzen weich und warm.
Ich hoffe, sie erfriert noch nicht.
Die Sonne ist vielleicht aufgegangen. Ich brauche frische Luft und gehe eine rauchen.
Mittsommernachmittag zu Schöfferhofer und Kalkbrenner. Sonnen schneiden alle Himmelsrichtungen.
Triton, König der Meere parkt seinen schattenwerfenden Mercedes auf dem Granit vor meinem Fenster. Ich schiebe den verbrannten Toast nochmal rein und gehe zur Tür; mein Zuhause ist kein Ort für Götter, nur ihre Kids.
Seinen Augenringen und verkrampften Händen sehe ich an, dass er den Einlass erwartet, den ich ihm wortlos verweigere. Er sagt seine Fragen auf. Ich weiß nichts von seiner Tochter, die erst hat verschwinden müssen, bevor er realisierte, dass sie ihm verloren ging.
Ich kann mich nicht einmal an die letzte Nacht mit ihr erinnern. Aber wie die Tage vergehen, erinnere ich mich an keinen mehr, deshalb sind sie so gut.
Die feuchten Murmeln, die mich aus den Falten heraus anstarren, sprechen von Angst. Ungewissheit ist Wertheimern unvertraut. Ich sage ihm Auf Wiedersehen und Triton fährt zurück zu seinem Palast aus Gold, Stolz und Statussymbolen.
Mein Handy klingelt; Eltern. Wer seinen Hund in der Wildnis aussetzt, hat nicht nur sein Besitzrecht verwirkt, sondern darf vor allem nicht erwarten, ihn später abzuholen.
Eichhörnchenmatsch wird auf dem Asphalt gebraten. Ist weit gekommen im Vorstadtlabyrinth, doch unsere Minotauren sind gnadenlos.
Es muss jetzt das zehnte oder elfte Wolkenlos in Folge sein. Kinder zwitschern auf dem Spielplatz. Zeige- und Mittelfinger spielen Buchstabenhockey auf leuchtender Eisfläche: Ich schreibe ihm, wo er bleibt, während der kanariengelbe Van den Kadaver tiefer in meine Straße presst. Heute keine Post.
Die Eisfläche blinkt: Er kommt zu mir.
Kaufwagenparty auf dem Parkplatz zur Rush Hour. Der größte Idiot unter uns segelt geradewegs in den Markt und wirft Anker vor dem Bierregal, sein bester Freund jagt hinterher, bringt beide zum Kentern ins selbstgemachte Schöfferhofermeer - die waren schon immer so.
„Heute was von ihr gehört?“ Sie sitzt neben White Trash fressenden Müllcontainern und überfliegt den Text auf dem Hockeymatch in ihrer Hand. Nicht die erhoffte Nummer.
Als sie zu mir aufschaut, fallen Regentropfen in ihre leeren Augen. Und so hat der Himmel wieder das Heulen erlernt.
Es sind ja erst zwei Tage. Und es ist nicht so, dass wir nicht frei wären. Wir haben den größten Käfig im Zoo.
Werden trotzdem nervös. Ungewissheit ist Wertheimern verhasst.
Die nächste Zigarette schmeckt nicht. Ich fühle mich gemästet mit Sounds, die auch in der tiefsten Gasse der Altstadt kein Echo erzeugen.
2 Uhr.
Wo die Dämmerung am weitesten entfernt ist, wecken Hunde die Schimäre, und die zündet dreckige kleine Feuerwerkskörper hinter meinen Augen bis ich blind bin, bis auf Fixsterne, die nur auf Netzhäuten existieren. Die Welt geht unter meinen Lidern unter. Aber sie sind immer noch da.
Unten am Ufer, weil ich dachte, dass das Rauschen des Ozeans meine Ohren streichelt und mein Herz zur Ruhe bringt, doch der Fluss spielt sein eigenes Requiem. Abfall treibt vor meinen Füßen vorbei. Der Weg hinter mir sieht gestorben aus. Kein Ort für Götter, nur ihre Kids.
Es waren zwei Tage. Zeit war nie so dick und verfault gewesen. Lag giftiger auf der Zunge als Bourbon und alle seine bösen Stiefschwestern…
Ich frage mich, wie eine Welt ohne Meerjungfrauen aussehen mag.
Sie allein tragen keine Masken, und dieser blasse Eindruck, die Erinnerung an eine Haut, über die man mit der Fingerkuppe streicht und man fühlt echte Haut, und der Blick in fremde Augen, und man bringt sie zum Weinen und sieht echte Tränen – Doch dann schlafen die Leute irgendwann ein, was Meerjungfrauen einfriert, einsperrt in Erinnerungen, wo sie einen zweiten Tod erleiden. Und dann werden die Schläfer einäugig und farbenblind und kaltblütig ermordet durch Blaustich in der Neustadt, die Tatwaffe war das Taschenmesser ihres großen Bruders, mit dem sie Buchstabe plus Buchstabe gleich Herz in den Baum ritzten, auf dem Hügel jenseits des Ährenmeers, auf dem schon tausend gebrochene Herzen sich Dinge sagten, auf untoter Frequenz.
Sie treibt im Fluss. Meine Hand umfasst ihre, als ich sie aus dem Giftpool ziehe, und wie auf Befehl wirft der Nebel eine Decke über uns. Da ist dieser seltsame Moment der Angst, etwas möge nicht richtig sein, also pflücke ich die Strähnen aus ihrem Gesicht. Die schwarzen Sonnen vor poolblauem Himmel sind starr auf die Decke gerichtet, die Fingerspitzen weich und warm.
Es macht mir nichts aus, hier im Grauen zu bleiben, sie jedoch ist durchnässt, nicht lange und sie friert. Also nehme ich sie in meine Arme und trage sie den Berg hinauf zum Spielplatz. Zwei Ritter in zerbrochenen Hüllen. Setzen sich in den Sand und lauschen den Wellen. Die Sonne geht vielleicht auf, deshalb genieße ich die frische Luft bis sie da ist.
Kreischende Reifen auf glühendem Asphalt.
Er springt aus dem BMW, Haare und Kleidung noch nass vom Schwimmbad, und läuft auf mich zu. Handschlag, vermiedener Blick. „Was läuft?“
Häute toter Gespenster wehen im Luftzug der geöffneten Schlafzimmertür. Seite an Seite stehen wir im Schattendickicht und schauen herab auf das Bett, wo ich sie liegen sehe, und schweigen.
Zurück in der Welt.
Wir setzen uns auf unseren Holzzaun vor dem Spielplatz und ignorieren die Mütter auf ihren Stammbänken, die den beiden zugedröhnten Exemplaren deutscher Zukunft keine Sorge schenken. Zwei Kippen, Feuerzeug schnappt auf, tanken, ausatmen.
„Und?“
Still umarmt er sich selbst und kreuzt die Füße in der Luft. „Eigentlich, also vom Aussehen her müsste sie… Ich hab‘ das mal im Fernsehen gesehen. Biste sicher, dass es schon ‘ne Woche her ist?“
„Vielleicht fünf oder sechs Tage.“
„Wie lang‘ war sie im Wasser?“
„Frag mich nicht.“
„Die ist bestimmt reingefallen. Auf’m Heimweg. Das ist… Also tot is‘ sie nicht. Das würden wir ja sehen.“
„Find‘ ich auch.“
„Des macht überhaupt keinen Sinn.“
„Sag ich ja.“ Auf der anderen Straßenseite sitzen drei Männerfresser und bräunen ihre Extensions, hinter denen hellwacher Verfolgungswahn uns Cliquen und Exen zuordnet.
Ich weiß so viel über den Dreck unter ihren lackierten Fingernägeln.
„Bestimmt is‘ sie im Schock oder irgend sowas. Ist vielleicht besser wenn du sie bei dir hast, bis es ihr besser geht. Ihr Dad würde ausrasten, kennst’n ja. Bist ‘ne bessere Wahl würd‘ ich sagen. Also kein Stress… Ich würd‘ sagen wir erzählen das Keinem.“
„Ist okay. Ich pass‘ auf sie auf.“
„Kann ich nochmal rein zu ihr?“
Ich ziehe stärker an der Kippe als sonst. „Mach.“
Das kleine Wunder aus dem Meer wird von Mund zu Mund weiter gereicht wie Kaugummi. Nur vor ihren Göttern wahren die Kids das Geheimnis.
„Heute bei dir?“
… heute bei mir.
Stadtstrand.
Wolkenlos Nummer 55.
Die Zahl ist erfunden. Die 500€ auf dem polierten Tisch sind’s nicht. Aber die sind auch normal.
Der mir gegenüber sitzt, quetscht seine Kippe ins Plastik. Als er sich zurücklehnt, filetieren die Schatten des Strohdachs sein Gesicht in ein Schachbrett, aus dem giftgrüne Iriden die vorbeilaufende Bedienung anvisieren. „Noch was für euch?“ Wunschlos glücklich.
„Ich erinner‘ mich noch ganz gut… Sie war bei mir, als ich zum ersten Mal das Meer gesehen hab‘.“, erzählt er und nippt an seinem Bier, „Also ein richtiges Meer, so in hellblau und warm, wie’n Pool nur größer. Auf den Malediven. Kennste? War’n Geschenk zum Achtzehnten, aber dafür gab’s kein Auto. Naja.“
„Zwischen euch lief da nichts.“
„Stimmt. So wie bei allen halt, ich mein‘, wer wollte nicht mal was von ihr zu irgendeiner Zeit? Das war wie’n Fluch, weißte, wie ‘ne Auster, alles abgeprallt.“
Tank ist leer. Feuerzeug schnappt auf, und die Flamme bringt mein Gesicht zum Glühen. Bei der Hitze spürt man gar nicht, wie das Nikotin die Lunge schneidet.
Er zieht seine eigene Schachtel aus den bunt gemusterten Shorts hervor; eine andere Marke. „Aber hinterher dachte ich mir immer: ich hätte mich bestimmt so richtig verliebt, wär‘ nich‘ Nicole dazwischen gekommen. Vielleicht hab‘ ich Glück gehabt.“
„Und jetzt?“
„Hm?“
Fingernägel, die Plastik schleifen. „Komm zur Sache. Was brauchst du?“
Er klopft auf den Geldschein, surreal lila. „Alter, nimm’s einfach. Wir haben dir so viel schuldig, du kaufst auch immer alles wenn’s bei dir steigt, und in den Trips zum Zauberberg nach’m Abi haben wir bei dir pennen dürfen –“
„Schon okay.“
Er hat mal eine im Jacuzzi seines besten Freundes entjungfert, nur um zu sehen, ob Blut und Türkis eine gute Kombination abgeben. Und um die anderen anzupissen natürlich.
Das Lila wird von ihm in die Schachtel gedrückt, die er mir über den Tisch entgegen schiebt.
- schwer liegen die Kapseln in der Hand –
Ich greife zu.
- lache wie ein gefolterter Delphin und falle hart auf das mit Brandflecken gemusterte Zedernholz –
„Kennst du noch Dornröschen?“ Sein Zahnpastagrinsen multipliziert sich im Dunkelraster. „Vielleicht wacht sie ja auf, wenn ich rangeh‘.“
Und wie Böller eingesperrt in Luftballons explodieren unsere Köpfe. Einer hält’s nicht aus.
Mädchen bereuen die Jungs, mit denen sie geschlafen haben. Jungs bereuen die Mädchen, mit denen sie nicht geschlafen haben.
Und jeder war mal in die Meerjungfrau verliebt. Und jetzt haben viele Jungs etwas nachzuholen.
„Schau, wenn du nicht tun kannst was du fantasierst, dann, was ist Fantasie für dich?“, sagt sie und lässt ihre Strähnen tanzen. Unter ihr führt der Wind in die Schlucht, wo der Fluss entspringt und vor Leben vibrierende Wellen am Fels zerschellen; Aphrodites Bethlehem. Uralte Bestien warten dort unten auf die Nächste ihrer Art.
1 verpasster Anruf.
„Hey, Mann. Hab‘ Neuigkeiten. Meine Eltern fliegen für ‘n Monat nach Australien, also am besten ich hol‘ sie dann ab und wir nutzen des Sturmfrei aus, was meinste? Kannst sie bis dahin noch bei dir behalten, oder? Hast einfach die perfekte Bude dafür.“
Der Schwamm aus erstickter Luft saugt uns auf. Das Blut an den Wänden lange getrocknet, jetzt violett und rostig. Ich beuge mich über ihren Körper, um sicher zu gehen, dass sie noch da ist: Die schwarzen Sonnen vor poolblauem Himmel sind starr auf die Zimmerdecke gerichtet, und im Weiß jenseits der Farben ist eine Ader geplatzt. Ein einsamer Blutwurm im Schnee.
Der Streifenwagen scheint surreal im Sonnenlicht des Spätnachmittags. Kinderaugen strahlen, als sie den Fremdkörper erfassen.
Ich kenne den, der aussteigt. Vor zwei Jahren hat er mir das Sprayen beigebracht, heute läuft er mit gläsernen Augenklappen umher, nun, er hat sich beide Augen ausgequetscht, das Aufnahmeritual für die Wertheimer Polizei. In seiner Rüstung aus Leder und Moos sieht er so lächerlich aus. Als hätte man den Kopf einer alten Puppe auf ein neues Modell geschraubt.
Er fragt Dinge ein zweites Mal, und ich gebe ihm die Antworten vom ersten Mal, und er nickt und setzt Zahnräder in Gang und lächelt, das Signal zum Standby. Ich lasse die Maschine auf dem Asphalt stehen und tätige den nächsten Anruf.
Dreizehnter Geburtstag für Alice im Wunderland.
Irgendwer hat „Miss Wertheim 2012“ auf ihren Unterarm geschrieben, der viel zu weich in einer von Raucherpausen geröteten Hand liegt. Ihre Skatersocken sind in Schlamm getränkt. Für sie keine Pillen bis auf die Pille und sie knickt auf der Zuschauerbank ein, während die Kids mit dem Lagerfeuer spielen; einer springt darüber, einer hinterher - die beiden sind beste Freunde -, sein Bein fängt Feuer und wir treten wie die Wilden auf ihn ein bis es tot ist.
Irgendwann verliert die Drehung ihre Achse. Ich laufe tiefer in den Wald, um eine zu rauchen und die Schrauben festzudrehen. Auf einem verwesten Baumstamm liegend warte ich auf etwas. Es gibt Nächte im Fegefeuer, da hoffst du auf die Hölle.
Irgendwer knallt Alice im Hühnerstall.
Danach klappen wir zwei Liegestühle auf und sehen dem Feuer beim Sterben zu. „Als ich, glaub‘ ich, fünfzehn war, hab‘ ich mich damit abgefunden, dass ich die Liebe meines Lebens nicht in Wertheim finde.“, murmelt er und winkelt die Beine an. In elastischem Stoff und Gedanken versunken sieht er aus wie ein Kind. „Aber soll ich auf den Spaß verzichten? Ich verlang‘ ja nicht viel. Tanz‘ eine an, Schwanz an Arsch, mehr ist’s nicht.“
Aus der Anlage einer vergangenen Generation läuft Aaliyah einmal um die eigene Asche.
„Von hier aus sieht die Stadt gar nicht so scheiße aus.“, sagt Cinderella und trommelt mit den Stiefeln im Rhythmus gegen die Kante. Sie weckt damit die Bestien auf, deren Echos so laut, dass mein Kopf platzt.
Ich habe die Skyline auf einem verschwommenen Schnappschuss eingefangen und über den Fernseher gehängt. Hinter mir löst sich das Poster der dunkelhaarigen Schönheit aus New York, ein teurer Import, aber seit das Lila in Kippenschachteln geliefert wird, bin ich diese Sorgen los.
Einer der Reißnägel fällt zu Boden, und die Ecke beugt sich mir zu.
Im Bruch der Illusion beuge ich mich über sie und berühre ihre Haut an der Stelle wo schwarze Adern durch die Blässe scheinen.
Jemand klopft an der aufgebrochenen Tür. Hört auch nicht auf, als ich mich taub stelle.
Heute bei mir, oder heute bei ihr? Ich laufe zum Patronen kaufen in die Altstadt, da stehen grauhaarige Kleinstädter und reden über Autofarben. Taubenfedern taumeln auf Fliederkästen am Fenster, wo eine türkische Meduse jeden Schritt verfolgt.
Sechs Stunden später hauen wir uns die Dinger rein wie Asthmatiker an der Kante zum Jenseits.
Milch läuft aus seinen Ohren, Produkte des von Softpornos aufgeweichten Gehirns. Zum letzten Mal habe ich ihn bei seiner Dankesrede am Abschlussball gesehen, die Stimme geölt und die Hände ans Podium geklebt. Heute kleben sie an Lana Del Rey. Männerfresser wie sie bringen dich dazu, dich richtig hart zu verlieben.
„Hat dich die Polizei genommen?“
„Ne. War so knapp.“
„Aus’m Raster wegen Rot-Grün-Schwäche.“
„Haste ‘nen Plan B?“
„Vielleicht was mit Medien.“
„Und du?“
„Auch.“
Ich ziehe meine Kippenschachtel aus bunten Shorts hervor; eine neue Marke. Was in ihr liegt, sind keine Zigaretten. Die Schlafzimmertür fällt ins Schloss. Als ich mich umdrehe, ist es schon zu spät.
Tiefkühltruhenkalt und schwer liegen die Kapseln in der Hand. Luftballons in Knetfarben füllen das Vakuum – meines Raums, meiner Lunge, meines Verstands. Einatmen.
… einatmen.
Einer hält’s nicht aus, prustet los. Durchhalten!
Einatmen.
Innehalten.
Wie Böller in Luftballons explodieren unsere Köpfe. Farben spritzen an die wild rotierende Decke über mir. Ich lache wie ein gefolterter Delphin und falle hart auf das mit Blutflecken gemusterte Zedernholz.
4 Uhr.
Jemand klopft an der aufgebrochenen Tür und hört einfach nicht auf. Also klettere ich durch das Milchglas und lege mich zum schlafenden Spielplatz, finde im Lila die letzte Kippe und zünde sie an. Sanft vom Wind getragen ziehen Schaukeln über mir hinweg.
Die Hitze benetzt meine Lippen und sickert in meine Lungen. Ein schreckliches Gefühl, und es gibt nichts Schöneres.
Jemand fotografiert mich. Kann’s nicht sehen, nur das Geräusch ist hörbar. Klick. Stell dir vor, eines Tages kommt ein Fremder auf dich zu und drückt dir einen Umschlag in die Hand; es ist das Fotoalbum deiner schrecklichsten Fehler, ein Negativ für jeden Moment, in dem du fällst.
Jemand klopft an der verschlossenen Tür und hört einfach nicht auf. Aber da ist niemand.
Ich muss zurück. Ich muss ganz schnell zurück. Durch die Glastür in das erstickte Schlafzimmer, wo sie liegt, so wie ich sie zum letzten Mal verlassen hatte – nein, etwas stimmt nicht mit ihrer Haut, und den Flecken, und den schwarzen Fingerspitzen.
Sie dreht sich zu mir.
Ich laufe so schnell ich kann, den Berg hinab durch die tiefsten Gassen der Altstadt bis zum Ufer, den Stadtstrand entlang, über die Brücke und die Kreuzung, wo tote Ampeln blenden, in sechzig Sekunden durch den Wald und über die Asche und den Asphalt und gegen den Drahtzaun, hinter dem das Freibad schläft. Presse mich tiefer ins Gitter, hindurch, in das Jenseits dahinter, die Schwärze ohne Irrlichter, stolpere hinein. Falle. Stehe wieder auf.
Als ich noch klein war, hab‘ ich hier jeden Sommer verbracht. Erinnerungen führen mich zum Springerturm.
Atemlos sitze ich auf der Kante, unter mir der dunkle Abgrund, das Rauschen der einzige Hinweis: Die Welt da draußen existiert. Die endlosen Lichtschlieren erreichen mich nicht, aber sie erwarten mich.
Und Wertheim leuchtet in der Ferne, so schläfern und schwerelos wie sie es für immer sein wird, die Bucht der kleinen Meerjungfrau. Wo wir so viel Zeit verschwendet, nichts getan haben – Nein, nichts war es nicht.
Ich weiß, kein Sprung und kein Fall wird das Ende bringen, so wie sie ihres nie gefunden hat.
Dann erinnere ich mich an das Wasser im Pool, aquatile Ambivalenz und Harmonie aus dem Blickwinkel chlorgeröteter Augen.
Und ich denke, ich kann jetzt springen oder fallen, wichtig ist die schwerelose Sekunde danach.
Sie schließt die Augen. „Als wir mal in der Nacht über‘s Fußballfeld gewandert sind, haben wir beim Tor die Stoffenden vom Netz angebrannt. Nicht, weil wir wollten oder weil wir es konnten (wir haben uns verdammt schlecht angestellt). Sondern einfach weil wir Feuerzeuge hatten.“
Meine letzte Erinnerung war das Rauschen des Ozeans. Er ist immer noch da.