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Die sterbende Meerjungfrau

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20.02.2013
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Die sterbende Meerjungfrau

Meine erste Erinnerung war das Rauschen des Ozeans. Weich wie mein eigener Atem, rhythmisch wie mein schwaches Herz. Aber dann schlage ich die Augen wieder auf, und ich weiß, dass der Ozean zu weit entfernt ist, um ihn jemals zu erfahren.

Ich sitze im absoluten Vakuum der Nachbarschaft um 4 Uhr nachts, wo gelbe Irrlichter auf Laternen sitzen und der Schwärze so etwas wie Kontur schenken. Das Rauschen – weit entfernt – ist der einzige Hinweis auf eine Welt, die da draußen existiert. Autos, die über tote Ampeln fahren. Woanders soll Dunkelheit glitzern, schreien, heulen, doch davon wissen zwanzigtausend Wertheimer in ihrem allnächtlichen Winterschlaf nichts. Es erschiene mir auch nicht richtig.
Die Kälte benetzt meine Lippen und sickert in meine Lungen. Ein schreckliches Gefühl, und es gibt nichts Schöneres.

Aber ich muss zurück. Durch die Glastür in das erstickte Schlafzimmer, wo sie liegt, so wie ich sie zum letzten Mal verlassen hatte. Ihr Rock hängt über dem Gebirge aus Wodkaflaschen in der Ecke, von denen eine umkippt, sobald ich eintrete – natürlich, ich bin nie allein bei all den Geistern in meinem Zuhause. Und sie ist da. Ich beuge mich über ihren Körper, um sicher zu gehen, dass sie’s wirklich ist: Die schwarzen Sonnen vor poolblauem Himmel sind starr auf die Zimmerdecke gerichtet, die Fingerspitzen weich und warm.
Ich hoffe, sie erfriert nie.


Stadtstrand.

Künstlicher Sand, Plastikstühle, für 5€ nach Ibiza.
Jenseits der Kante geht es in den Abgrund, zwei Meter tief in den schlammigen Fluss, wir sitzen auf den von der Hitze gebratenen Backsteinen und schauen der Fähre beim Ausparken zu. Der größte Idiot unter uns fällt ins Wasser. Sein bester Freund springt hinterher.
Die beiden wollen mal Pilot werden.
„Heute bei dir?“, als wär’s eine Frage, die schwarzen Sonnen halb hinter lila geschminkten Lidern versunken. In der Welt muss es ein kaleidoskopisch buntes Meer geben, dessen Meerjungfrau sie ist. Wenn ich betrunken bin, muss ich ihr das sagen.


Heute bei mir.

Die Steintreppe hinter dem Spielplatz führt direkt in die ausgeräucherte Kristallkaverne, die ich Wohnzimmer nenne, wohin selbst die Lichter ausgehen.
Heute zu Gast: Ein Körper, fünf Fratzen, Mutationen hinter zerkratzten Masken. Ich beobachte den Schlauch, wie er von Hand zu Hand weiter gereicht wird: Lackierte Nägel, unlackierte Nägel… Ich bin dran. Glückshormone im Gewehrtakt, Kopfschuss! Blaues Blut spritzt auf die Fotos an der Wand. Herzklappen trommeln zu Upbeats von Künstlern, die es weiter brachten.

Trink.

Ich vermisse die Meerjungfrau. Und sie Dinge sagen zu hören… Wie lange ist es jetzt her?

Trink.

Den Kater hat man überfahren. Ich weiß noch, wie einer mal dem Tier Tequila eingeflößt hat. Wir stoßen an, schon okay, der ist jetzt im Himmel.

Trink.

Eine zieht mich aus dem Zimmer bis ans andere Ende. Sobald sich ihr Griff löst, werfe ich mich rücklings gegen die Wand: Die Wärme hat sich in die Tapete gefressen und lädt mich auf, gerade gibt’s nichts Schöneres. Sie verschränkt die Arme. Den Blick kenne ich seit der Mittelstufe.
„Hat sie dir… am letzten Tag irgendwas gesagt, was sie vorhatte, irgendwas?“
Wie von alleine tanzen meine Fingerkuppen auf der schmalen Zone zwischen Jeans und Top, wo sie Haut zeigt. Klebrige Fäden der Stille. Sie erwidert mein Lächeln als wär’s echt, und ich umarme sie, weil jeder Einzelne hier die Meerjungfrau vermisst.

Trink.

Wir haben eine zwölfjährige Schönheitskönigin bei uns, diesen Monat die Freundin von einem Skater, er gehört zu den Guten. Auf dem Gips um ihr linkes Bein sind mit Filzstift alle Namen ihrer Neiderinnen verewigt - sie wusste noch nicht, wie man sich in der Gefahrenzone der wilden Jungs positioniert. Ich füge mich hinzu, hellgrün über Julia, Nicole, Sophia und Michelle.
Ihr Lächeln über mir bringt die Glühlampe zum Flackern. Sie alle wollen Avril Lavigne sein.
Tiefkühltruhenkalt und schwer liegen die Kapseln in der Hand. Luftballons in Knetfarben füllen das Vakuum – des Raums, unserer Lungen, meines Gehirns.

Einatmen.

… einatmen.

Einer hält’s nicht aus, prustet los, und wie Böller in Luftballons explodieren unsere Köpfe. Ich lache wie ein gefolterter Delphin und falle hart auf das mit Brandflecken gemusterte Zedernholz.

Trink nach.

Wo die Dämmerung am weitesten entfernt ist, stolpert alles Frischfleisch ins Kühle, und nur der giftige Kern der Pfirsich bleibt. Das letzte Kohlestück flammt zwischen meinen Fingern auf – bald müssen wir auf Sauerstoff umsteigen. Bis dahin stoßen wir mit Resten an. „Auf jetzt.“

Trink aus.

„Was habt ihr so nach’m ersten Tag gemacht?“ Wir stehen vor dem Drahtzaun, hinter dem das Freibad schläft, und er presst die tote Kippe mit der Schuhspitze tief in den Asphalt.
„Nich‘ gelernt, oder?“
„Den Kalender von der Wand gerissen.“ Im Nachtwind tanzen ihre Strähnen Jitterbug.
„Irgendwas mit Nicole.“ Jenseits des Gitters breiten wir uns frei aus wie Papierflieger in der Stille. Was bringt’s uns, die Schwimmbecken sind leer.
Den weiten Weg zurück nach Hause sprinten, springen, stolpern wir. Wer schnell sein will, hat die Wahl: Der Wolf verfolgt dich, oder du verfolgst den Wolf. Ich werfe die letzte Bierflasche im hohen Bogen in einen Innenhof. Ein bellender Hund weckt Lichter auf.
Jetzt sprinten wir wieder, springen an der Kreuzung auseinander, und ich stolpere allein den Berg hinauf.


5 Uhr. Große Pause bis zur Nacht.

Wer hat die Farben mitgenommen?
Das Zimmer sieht aus wie die Postapokalypse und riecht danach, und der erste Schritt endet in den Scherben eines Jägermeisters, der jetzt nie seine Cousinen im Gebirge nebenan kennenlernen wird.
Vor ein paar Wochen kamen sie alle. Jetzt ist ein Pärchen auf der Autobahn verreckt, und ihr Kind hat den Palast ganz für sich und seine neuen Freunde. Glückliches Schwein.
Ich checke meine verpassten Anrufe, skippe die beiden von meinen Eltern und rufe Nummer Drei zurück.
Der ist höchstens auf dem Heimweg.
„Was läuft?“ Im Hintergrund schnurrt der BMW.
„Hey.“
„Was machst du?“
„Daheim. Du?“
„Auf’m Heimweg. Würzburg für’n Arsch. Nächstes Wochenende wieder bei dir am Start.“
Ich mixe aus fast geleerten Gläsern einen satanischen Wunschpunsch und warte.
„Du, hör mal.“
„Ich hör zu.“
„Kann des sein dass es dich am heftigsten erwischt hat?“
„Was meinst du?“
„Weißt schon.“
„Also das Angebot steht. Komm und überzeug‘ dich selbst.“
Der BMW knurrt, vielleicht hat er eine wache Ampel entdeckt. „Ey, das ist normal dass man, wenn so was –“
„Ich hatt’s genau so wenig geglaubt wie du.“
„- ist eh erst eine Woche ‘rum. Hör mal, ich glaub‘ echt, du drehst halt ‘n bisschen durch. Ich komm‘ morgen mal vorbei.“
„Eben.“
„Okay.“
„Sag‘s keinem.“
„Mach ich nicht.“
„Okay.“
Das Waschbecken schluckt den Wunschpunsch, und für einen Herzschlag frage ich mich, wie er geschmeckt hätte, aber dafür ist es zu spät.
Was haben wir gesagt?

Wie immer blieb das Schlafzimmer unversehrt, früher Kokon fürs nüchtern sein, heute Schneewittchens Konservendose. Ich lege mich neben sie, wie ich es immer haben wollte, und denke, früher oder später hätte auch ich mich in sie verliebt, aber wenn wir im Herbst alle gehen, wird sie noch da sein, so wie sie war.


Trink.

Endlose Lichtschlieren zieren das Türkis jenseits der Kante. Das Tier streift intoxikiert meine Chucks und huscht ins warme Dunkel, das den Garten gleich Gottes schützender Hand umschließt, als sie neben mir auftaucht. „Kannst du nicht mehr schwimmen?“
„Nicht heute Nacht.“ Ein Overkill von Shots hat meinen Hals zerstochen und meine Stimme in ein Flüstern verwandelt, auf einer Frequenz, die keiner hört. Sie schon. Ihre Hand umfasst meine, als sie aus dem Pool steigt, und wir lauschen den aufschäumenden Kommentaren der Kids auf der anderen Seite. Sind die nicht damit beschäftigt, hinter Büschen zu vögeln?
Ganz oben, die Augen am Nachthimmel klebend, dessen Wellen durch das Dachfenster brechen und uns auf das Bett drücken. Die Sterne scheinen heute nicht, aber das ist okay, sie hätten uns nur Konkurrenz gemacht. Wir sagen dieselben Dinge.
An der Wand sehe ich vertraute Bilder, gemalt mit Lippen- und Granatenstiften. Ich bin wieder im gläsernen Sarg, und wie weit ich von Wertheim weg drifte, sie ist bei mir. Ich beuge mich über ihren Körper, um sicher zu gehen, dass sie’s wirklich ist: Die schwarzen Sonnen vor poolblauem Himmel sind starr auf die Zimmerdecke gerichtet, die Fingerspitzen weich und warm.
Ich hoffe, sie erfriert noch nicht.
Die Sonne ist vielleicht aufgegangen. Ich brauche frische Luft und gehe eine rauchen.


Mittsommernachmittag zu Schöfferhofer und Kalkbrenner. Sonnen schneiden alle Himmelsrichtungen.

Triton, König der Meere parkt seinen schattenwerfenden Mercedes auf dem Granit vor meinem Fenster. Ich schiebe den verbrannten Toast nochmal rein und gehe zur Tür; mein Zuhause ist kein Ort für Götter, nur ihre Kids.
Seinen Augenringen und verkrampften Händen sehe ich an, dass er den Einlass erwartet, den ich ihm wortlos verweigere. Er sagt seine Fragen auf. Ich weiß nichts von seiner Tochter, die erst hat verschwinden müssen, bevor er realisierte, dass sie ihm verloren ging.
Ich kann mich nicht einmal an die letzte Nacht mit ihr erinnern. Aber wie die Tage vergehen, erinnere ich mich an keinen mehr, deshalb sind sie so gut.
Die feuchten Murmeln, die mich aus den Falten heraus anstarren, sprechen von Angst. Ungewissheit ist Wertheimern unvertraut. Ich sage ihm Auf Wiedersehen und Triton fährt zurück zu seinem Palast aus Gold, Stolz und Statussymbolen.
Mein Handy klingelt; Eltern. Wer seinen Hund in der Wildnis aussetzt, hat nicht nur sein Besitzrecht verwirkt, sondern darf vor allem nicht erwarten, ihn später abzuholen.


Eichhörnchenmatsch wird auf dem Asphalt gebraten. Ist weit gekommen im Vorstadtlabyrinth, doch unsere Minotauren sind gnadenlos.
Es muss jetzt das zehnte oder elfte Wolkenlos in Folge sein. Kinder zwitschern auf dem Spielplatz. Zeige- und Mittelfinger spielen Buchstabenhockey auf leuchtender Eisfläche: Ich schreibe ihm, wo er bleibt, während der kanariengelbe Van den Kadaver tiefer in meine Straße presst. Heute keine Post.
Die Eisfläche blinkt: Er kommt zu mir.


Kaufwagenparty auf dem Parkplatz zur Rush Hour. Der größte Idiot unter uns segelt geradewegs in den Markt und wirft Anker vor dem Bierregal, sein bester Freund jagt hinterher, bringt beide zum Kentern ins selbstgemachte Schöfferhofermeer - die waren schon immer so.
„Heute was von ihr gehört?“ Sie sitzt neben White Trash fressenden Müllcontainern und überfliegt den Text auf dem Hockeymatch in ihrer Hand. Nicht die erhoffte Nummer.
Als sie zu mir aufschaut, fallen Regentropfen in ihre leeren Augen. Und so hat der Himmel wieder das Heulen erlernt.
Es sind ja erst zwei Tage. Und es ist nicht so, dass wir nicht frei wären. Wir haben den größten Käfig im Zoo.
Werden trotzdem nervös. Ungewissheit ist Wertheimern verhasst.

Die nächste Zigarette schmeckt nicht. Ich fühle mich gemästet mit Sounds, die auch in der tiefsten Gasse der Altstadt kein Echo erzeugen.


2 Uhr.

Wo die Dämmerung am weitesten entfernt ist, wecken Hunde die Schimäre, und die zündet dreckige kleine Feuerwerkskörper hinter meinen Augen bis ich blind bin, bis auf Fixsterne, die nur auf Netzhäuten existieren. Die Welt geht unter meinen Lidern unter. Aber sie sind immer noch da.
Unten am Ufer, weil ich dachte, dass das Rauschen des Ozeans meine Ohren streichelt und mein Herz zur Ruhe bringt, doch der Fluss spielt sein eigenes Requiem. Abfall treibt vor meinen Füßen vorbei. Der Weg hinter mir sieht gestorben aus. Kein Ort für Götter, nur ihre Kids.
Es waren zwei Tage. Zeit war nie so dick und verfault gewesen. Lag giftiger auf der Zunge als Bourbon und alle seine bösen Stiefschwestern…
Ich frage mich, wie eine Welt ohne Meerjungfrauen aussehen mag.
Sie allein tragen keine Masken, und dieser blasse Eindruck, die Erinnerung an eine Haut, über die man mit der Fingerkuppe streicht und man fühlt echte Haut, und der Blick in fremde Augen, und man bringt sie zum Weinen und sieht echte Tränen – Doch dann schlafen die Leute irgendwann ein, was Meerjungfrauen einfriert, einsperrt in Erinnerungen, wo sie einen zweiten Tod erleiden. Und dann werden die Schläfer einäugig und farbenblind und kaltblütig ermordet durch Blaustich in der Neustadt, die Tatwaffe war das Taschenmesser ihres großen Bruders, mit dem sie Buchstabe plus Buchstabe gleich Herz in den Baum ritzten, auf dem Hügel jenseits des Ährenmeers, auf dem schon tausend gebrochene Herzen sich Dinge sagten, auf untoter Frequenz.
Sie treibt im Fluss. Meine Hand umfasst ihre, als ich sie aus dem Giftpool ziehe, und wie auf Befehl wirft der Nebel eine Decke über uns. Da ist dieser seltsame Moment der Angst, etwas möge nicht richtig sein, also pflücke ich die Strähnen aus ihrem Gesicht. Die schwarzen Sonnen vor poolblauem Himmel sind starr auf die Decke gerichtet, die Fingerspitzen weich und warm.
Es macht mir nichts aus, hier im Grauen zu bleiben, sie jedoch ist durchnässt, nicht lange und sie friert. Also nehme ich sie in meine Arme und trage sie den Berg hinauf zum Spielplatz. Zwei Ritter in zerbrochenen Hüllen. Setzen sich in den Sand und lauschen den Wellen. Die Sonne geht vielleicht auf, deshalb genieße ich die frische Luft bis sie da ist.


Kreischende Reifen auf glühendem Asphalt.

Er springt aus dem BMW, Haare und Kleidung noch nass vom Schwimmbad, und läuft auf mich zu. Handschlag, vermiedener Blick. „Was läuft?“

Häute toter Gespenster wehen im Luftzug der geöffneten Schlafzimmertür. Seite an Seite stehen wir im Schattendickicht und schauen herab auf das Bett, wo ich sie liegen sehe, und schweigen.


Zurück in der Welt.

Wir setzen uns auf unseren Holzzaun vor dem Spielplatz und ignorieren die Mütter auf ihren Stammbänken, die den beiden zugedröhnten Exemplaren deutscher Zukunft keine Sorge schenken. Zwei Kippen, Feuerzeug schnappt auf, tanken, ausatmen.
„Und?“
Still umarmt er sich selbst und kreuzt die Füße in der Luft. „Eigentlich, also vom Aussehen her müsste sie… Ich hab‘ das mal im Fernsehen gesehen. Biste sicher, dass es schon ‘ne Woche her ist?“
„Vielleicht fünf oder sechs Tage.“
„Wie lang‘ war sie im Wasser?“
„Frag mich nicht.“
„Die ist bestimmt reingefallen. Auf’m Heimweg. Das ist… Also tot is‘ sie nicht. Das würden wir ja sehen.“
„Find‘ ich auch.“
„Des macht überhaupt keinen Sinn.“
„Sag ich ja.“ Auf der anderen Straßenseite sitzen drei Männerfresser und bräunen ihre Extensions, hinter denen hellwacher Verfolgungswahn uns Cliquen und Exen zuordnet.
Ich weiß so viel über den Dreck unter ihren lackierten Fingernägeln.
„Bestimmt is‘ sie im Schock oder irgend sowas. Ist vielleicht besser wenn du sie bei dir hast, bis es ihr besser geht. Ihr Dad würde ausrasten, kennst’n ja. Bist ‘ne bessere Wahl würd‘ ich sagen. Also kein Stress… Ich würd‘ sagen wir erzählen das Keinem.“
„Ist okay. Ich pass‘ auf sie auf.“
„Kann ich nochmal rein zu ihr?“
Ich ziehe stärker an der Kippe als sonst. „Mach.“


Das kleine Wunder aus dem Meer wird von Mund zu Mund weiter gereicht wie Kaugummi. Nur vor ihren Göttern wahren die Kids das Geheimnis.


„Heute bei dir?“

… heute bei mir.


Stadtstrand.

Wolkenlos Nummer 55.
Die Zahl ist erfunden. Die 500€ auf dem polierten Tisch sind’s nicht. Aber die sind auch normal.
Der mir gegenüber sitzt, quetscht seine Kippe ins Plastik. Als er sich zurücklehnt, filetieren die Schatten des Strohdachs sein Gesicht in ein Schachbrett, aus dem giftgrüne Iriden die vorbeilaufende Bedienung anvisieren. „Noch was für euch?“ Wunschlos glücklich.
„Ich erinner‘ mich noch ganz gut… Sie war bei mir, als ich zum ersten Mal das Meer gesehen hab‘.“, erzählt er und nippt an seinem Bier, „Also ein richtiges Meer, so in hellblau und warm, wie’n Pool nur größer. Auf den Malediven. Kennste? War’n Geschenk zum Achtzehnten, aber dafür gab’s kein Auto. Naja.“
„Zwischen euch lief da nichts.“
„Stimmt. So wie bei allen halt, ich mein‘, wer wollte nicht mal was von ihr zu irgendeiner Zeit? Das war wie’n Fluch, weißte, wie ‘ne Auster, alles abgeprallt.“
Tank ist leer. Feuerzeug schnappt auf, und die Flamme bringt mein Gesicht zum Glühen. Bei der Hitze spürt man gar nicht, wie das Nikotin die Lunge schneidet.
Er zieht seine eigene Schachtel aus den bunt gemusterten Shorts hervor; eine andere Marke. „Aber hinterher dachte ich mir immer: ich hätte mich bestimmt so richtig verliebt, wär‘ nich‘ Nicole dazwischen gekommen. Vielleicht hab‘ ich Glück gehabt.“
„Und jetzt?“
„Hm?“
Fingernägel, die Plastik schleifen. „Komm zur Sache. Was brauchst du?“
Er klopft auf den Geldschein, surreal lila. „Alter, nimm’s einfach. Wir haben dir so viel schuldig, du kaufst auch immer alles wenn’s bei dir steigt, und in den Trips zum Zauberberg nach’m Abi haben wir bei dir pennen dürfen –“
„Schon okay.“
Er hat mal eine im Jacuzzi seines besten Freundes entjungfert, nur um zu sehen, ob Blut und Türkis eine gute Kombination abgeben. Und um die anderen anzupissen natürlich.
Das Lila wird von ihm in die Schachtel gedrückt, die er mir über den Tisch entgegen schiebt.
- schwer liegen die Kapseln in der Hand –
Ich greife zu.
- lache wie ein gefolterter Delphin und falle hart auf das mit Brandflecken gemusterte Zedernholz –
„Kennst du noch Dornröschen?“ Sein Zahnpastagrinsen multipliziert sich im Dunkelraster. „Vielleicht wacht sie ja auf, wenn ich rangeh‘.“

Und wie Böller eingesperrt in Luftballons explodieren unsere Köpfe. Einer hält’s nicht aus.


Mädchen bereuen die Jungs, mit denen sie geschlafen haben. Jungs bereuen die Mädchen, mit denen sie nicht geschlafen haben.
Und jeder war mal in die Meerjungfrau verliebt. Und jetzt haben viele Jungs etwas nachzuholen.


„Schau, wenn du nicht tun kannst was du fantasierst, dann, was ist Fantasie für dich?“, sagt sie und lässt ihre Strähnen tanzen. Unter ihr führt der Wind in die Schlucht, wo der Fluss entspringt und vor Leben vibrierende Wellen am Fels zerschellen; Aphrodites Bethlehem. Uralte Bestien warten dort unten auf die Nächste ihrer Art.


1 verpasster Anruf.

„Hey, Mann. Hab‘ Neuigkeiten. Meine Eltern fliegen für ‘n Monat nach Australien, also am besten ich hol‘ sie dann ab und wir nutzen des Sturmfrei aus, was meinste? Kannst sie bis dahin noch bei dir behalten, oder? Hast einfach die perfekte Bude dafür.“
Der Schwamm aus erstickter Luft saugt uns auf. Das Blut an den Wänden lange getrocknet, jetzt violett und rostig. Ich beuge mich über ihren Körper, um sicher zu gehen, dass sie noch da ist: Die schwarzen Sonnen vor poolblauem Himmel sind starr auf die Zimmerdecke gerichtet, und im Weiß jenseits der Farben ist eine Ader geplatzt. Ein einsamer Blutwurm im Schnee.


Der Streifenwagen scheint surreal im Sonnenlicht des Spätnachmittags. Kinderaugen strahlen, als sie den Fremdkörper erfassen.
Ich kenne den, der aussteigt. Vor zwei Jahren hat er mir das Sprayen beigebracht, heute läuft er mit gläsernen Augenklappen umher, nun, er hat sich beide Augen ausgequetscht, das Aufnahmeritual für die Wertheimer Polizei. In seiner Rüstung aus Leder und Moos sieht er so lächerlich aus. Als hätte man den Kopf einer alten Puppe auf ein neues Modell geschraubt.
Er fragt Dinge ein zweites Mal, und ich gebe ihm die Antworten vom ersten Mal, und er nickt und setzt Zahnräder in Gang und lächelt, das Signal zum Standby. Ich lasse die Maschine auf dem Asphalt stehen und tätige den nächsten Anruf.


Dreizehnter Geburtstag für Alice im Wunderland.

Irgendwer hat „Miss Wertheim 2012“ auf ihren Unterarm geschrieben, der viel zu weich in einer von Raucherpausen geröteten Hand liegt. Ihre Skatersocken sind in Schlamm getränkt. Für sie keine Pillen bis auf die Pille und sie knickt auf der Zuschauerbank ein, während die Kids mit dem Lagerfeuer spielen; einer springt darüber, einer hinterher - die beiden sind beste Freunde -, sein Bein fängt Feuer und wir treten wie die Wilden auf ihn ein bis es tot ist.
Irgendwann verliert die Drehung ihre Achse. Ich laufe tiefer in den Wald, um eine zu rauchen und die Schrauben festzudrehen. Auf einem verwesten Baumstamm liegend warte ich auf etwas. Es gibt Nächte im Fegefeuer, da hoffst du auf die Hölle.

Irgendwer knallt Alice im Hühnerstall.

Danach klappen wir zwei Liegestühle auf und sehen dem Feuer beim Sterben zu. „Als ich, glaub‘ ich, fünfzehn war, hab‘ ich mich damit abgefunden, dass ich die Liebe meines Lebens nicht in Wertheim finde.“, murmelt er und winkelt die Beine an. In elastischem Stoff und Gedanken versunken sieht er aus wie ein Kind. „Aber soll ich auf den Spaß verzichten? Ich verlang‘ ja nicht viel. Tanz‘ eine an, Schwanz an Arsch, mehr ist’s nicht.“
Aus der Anlage einer vergangenen Generation läuft Aaliyah einmal um die eigene Asche.


„Von hier aus sieht die Stadt gar nicht so scheiße aus.“, sagt Cinderella und trommelt mit den Stiefeln im Rhythmus gegen die Kante. Sie weckt damit die Bestien auf, deren Echos so laut, dass mein Kopf platzt.


Ich habe die Skyline auf einem verschwommenen Schnappschuss eingefangen und über den Fernseher gehängt. Hinter mir löst sich das Poster der dunkelhaarigen Schönheit aus New York, ein teurer Import, aber seit das Lila in Kippenschachteln geliefert wird, bin ich diese Sorgen los.
Einer der Reißnägel fällt zu Boden, und die Ecke beugt sich mir zu.
Im Bruch der Illusion beuge ich mich über sie und berühre ihre Haut an der Stelle wo schwarze Adern durch die Blässe scheinen.
Jemand klopft an der aufgebrochenen Tür. Hört auch nicht auf, als ich mich taub stelle.


Heute bei mir, oder heute bei ihr? Ich laufe zum Patronen kaufen in die Altstadt, da stehen grauhaarige Kleinstädter und reden über Autofarben. Taubenfedern taumeln auf Fliederkästen am Fenster, wo eine türkische Meduse jeden Schritt verfolgt.


Sechs Stunden später hauen wir uns die Dinger rein wie Asthmatiker an der Kante zum Jenseits.

Milch läuft aus seinen Ohren, Produkte des von Softpornos aufgeweichten Gehirns. Zum letzten Mal habe ich ihn bei seiner Dankesrede am Abschlussball gesehen, die Stimme geölt und die Hände ans Podium geklebt. Heute kleben sie an Lana Del Rey. Männerfresser wie sie bringen dich dazu, dich richtig hart zu verlieben.
„Hat dich die Polizei genommen?“
„Ne. War so knapp.“
„Aus’m Raster wegen Rot-Grün-Schwäche.“
„Haste ‘nen Plan B?“
„Vielleicht was mit Medien.“
„Und du?“
„Auch.“
Ich ziehe meine Kippenschachtel aus bunten Shorts hervor; eine neue Marke. Was in ihr liegt, sind keine Zigaretten. Die Schlafzimmertür fällt ins Schloss. Als ich mich umdrehe, ist es schon zu spät.
Tiefkühltruhenkalt und schwer liegen die Kapseln in der Hand. Luftballons in Knetfarben füllen das Vakuum – meines Raums, meiner Lunge, meines Verstands. Einatmen.

… einatmen.

Einer hält’s nicht aus, prustet los. Durchhalten!

Einatmen.
Innehalten.

Wie Böller in Luftballons explodieren unsere Köpfe. Farben spritzen an die wild rotierende Decke über mir. Ich lache wie ein gefolterter Delphin und falle hart auf das mit Blutflecken gemusterte Zedernholz.


4 Uhr.

Jemand klopft an der aufgebrochenen Tür und hört einfach nicht auf. Also klettere ich durch das Milchglas und lege mich zum schlafenden Spielplatz, finde im Lila die letzte Kippe und zünde sie an. Sanft vom Wind getragen ziehen Schaukeln über mir hinweg.
Die Hitze benetzt meine Lippen und sickert in meine Lungen. Ein schreckliches Gefühl, und es gibt nichts Schöneres.
Jemand fotografiert mich. Kann’s nicht sehen, nur das Geräusch ist hörbar. Klick. Stell dir vor, eines Tages kommt ein Fremder auf dich zu und drückt dir einen Umschlag in die Hand; es ist das Fotoalbum deiner schrecklichsten Fehler, ein Negativ für jeden Moment, in dem du fällst.

Jemand klopft an der verschlossenen Tür und hört einfach nicht auf. Aber da ist niemand.

Ich muss zurück. Ich muss ganz schnell zurück. Durch die Glastür in das erstickte Schlafzimmer, wo sie liegt, so wie ich sie zum letzten Mal verlassen hatte – nein, etwas stimmt nicht mit ihrer Haut, und den Flecken, und den schwarzen Fingerspitzen.
Sie dreht sich zu mir.


Ich laufe so schnell ich kann, den Berg hinab durch die tiefsten Gassen der Altstadt bis zum Ufer, den Stadtstrand entlang, über die Brücke und die Kreuzung, wo tote Ampeln blenden, in sechzig Sekunden durch den Wald und über die Asche und den Asphalt und gegen den Drahtzaun, hinter dem das Freibad schläft. Presse mich tiefer ins Gitter, hindurch, in das Jenseits dahinter, die Schwärze ohne Irrlichter, stolpere hinein. Falle. Stehe wieder auf.
Als ich noch klein war, hab‘ ich hier jeden Sommer verbracht. Erinnerungen führen mich zum Springerturm.

Atemlos sitze ich auf der Kante, unter mir der dunkle Abgrund, das Rauschen der einzige Hinweis: Die Welt da draußen existiert. Die endlosen Lichtschlieren erreichen mich nicht, aber sie erwarten mich.
Und Wertheim leuchtet in der Ferne, so schläfern und schwerelos wie sie es für immer sein wird, die Bucht der kleinen Meerjungfrau. Wo wir so viel Zeit verschwendet, nichts getan haben – Nein, nichts war es nicht.
Ich weiß, kein Sprung und kein Fall wird das Ende bringen, so wie sie ihres nie gefunden hat.
Dann erinnere ich mich an das Wasser im Pool, aquatile Ambivalenz und Harmonie aus dem Blickwinkel chlorgeröteter Augen.
Und ich denke, ich kann jetzt springen oder fallen, wichtig ist die schwerelose Sekunde danach.

Sie schließt die Augen. „Als wir mal in der Nacht über‘s Fußballfeld gewandert sind, haben wir beim Tor die Stoffenden vom Netz angebrannt. Nicht, weil wir wollten oder weil wir es konnten (wir haben uns verdammt schlecht angestellt). Sondern einfach weil wir Feuerzeuge hatten.“


Meine letzte Erinnerung war das Rauschen des Ozeans. Er ist immer noch da.

 

Verdammt, Sticks,
ich gestehe meine Niederlage ein.
Ja, ich bin erbärmlich gescheitert an deiner Geschichte.
Wirklich erbärmlich, weil ich mich ungemein bemüht habe, regelrecht gekämpft habe ich mit dem Text, immer wieder wollte ich die Flinte ins Korn werfen, meine Blödigkeit saß neben mir und grinste mich schadenfroh an, scheiß drauf, vergiss es, dummer alter Mann, aber ich wollte nicht kapitulieren, weder vor meiner Blödigkeit, noch vor einer Geschichte, vor Wörtern, vor Buchstaben! Und so ließ ich mich immer weiter hineinlocken, Satz für Satz versuchte ich zu verstehen, und Satz für Satz waren meine Bemühungen vergeblich, ich kam einfach nicht dahinter, was zum Henker mir da erzählt wird, scrollte zurück, las den einen und den anderen Absatz noch einmal, versuchte Überlesenes zu entdecken, zu entschlüsseln, zu verstehen …
Immer wieder, gerade wenn ich endgültig den Hut draufhauen wollte, scheiß drauf, ich bin doch kein Kryptologe, verführte mich eine weitere schöne Formulierung, ein spannendes Wortbild, um die nächste Ecke zu lugen, verdammt, ich kam mir vor wie Odysseus, der, an den Mast gefesselt, die Sirenen zwar hören, ihnen aber nicht näherkommen kann.
Ich kam dem Sinn, der sich in der Geschichte versteckt, einfach nicht näher! Ich zerrrte an den Fesseln meines Hirns wie ein Irrer, meine Blödigkeit kicherte hämisch, aber ich hatte keine Chance.
Am Ende der Geschichte kroch ich auf allen Vieren, aber ich lebte.
Und ich werde wiederkommen, gestärkt, gewappnet, siegesgewiss.
Irgendwann.

offshore

 

Hi Sticks,

die sterbende Meerjungfrau in Seltsam.
Eine tödlich schöne Geschichte.
Gefällt mir wirklich.
Z.T. überaus kunstvolle Formulierungen, wie ich sie in dieser Art bisher noch nicht gelesen habe. Jedoch fällt die Story für eine saubere Textanalyse schlichtweg zu lang aus. Mein System zählt mehr als 4000 Wörter. Das ist viel! Zumindest für eine KG.

Hundert Prozent schlau werde ich aus der Story ebenfalls nicht. Die Geschichte spielt in Unterfranken (Wertheim & Würzburg), es wird viel gesoffen (Jägermeister & Wodka), ab und an wird ein Tier vergiftet bzw. betrunken gemacht, die Darsteller hängen an verschiedenen Lokationen ab, befingern sich, denken schwermütig über die Langeweile der Welt nach und vermissen sie. Wer ist sie? Vermutlich die o.g. Meerjungfrau, die entweder gerade stirbt oder bereits tot in einer Ecke bzw. auf dem Grund des weit entfernten Ozeans liegt.

In diesem an und für sich sehr gelungenen Absatz (den ich willkürlich herausgepickt habe) entdecke ich ein wenig Verbesserungspotenzial:

Ich sitze im absoluten Vakuum der Nachbarschaft um 4 Uhr nachts, wo gelbe Irrlichter auf Laternen sitzen und der Schwärze so etwas wie Kontur schenken. Das Rauschen – weit entfernt – ist der einzige Hinweis auf eine Welt, die da draußen existiert. Autos, die über tote Ampeln fahren. Woanders soll Dunkelheit glitzern, schreien, heulen, doch davon wissen zwanzigtausend Wertheimer in ihrem allnächtlichen Winterschlaf nichts. Es erschiene mir auch nicht richtig.
Die Kälte benetzt meine Lippen und sickert in meine Lungen. Ein schreckliches Gefühl, und es gibt nichts Schöneres.
- 4 = vier
- 2x sitzen in einem Satz. 1x müsstest du m.E. auswechseln
- Das weit entfernte Rauschen (gefiele mir persönlich besser als die von dir verwendete Parenthese)
- tote Ampeln = sehr gut!!
- Es erschiene mir auch nicht richtig: was? Dass die pennenden Wertheimer evtl doch über das Glitzern der Dunkelheit Bescheid wüssten?
- … und es gibt doch nichts Schöneres.

Das Lila wird von ihm in die Schachtel gedrückt, die er mir über den Tisch entgegen schiebt.
- schwer liegen die Kapseln in der Hand –
Könnten entweder Psilos oder irgendeine Chemiedroge sein. So wie die Darsteller drauf sind, konsumieren sie nicht nur Alkohol.

Der Clou der Geschichte? Schwer zu deuten, da sehr kryptisch. Evtl erlebt der Prota das alles im Drogenrausch; der Erzähler schildert also einen (schlechten?) Trip. Bzw. mehrere Rauschzustände hintereinander. Das von allen gesuchte Mädchen ist bereits tot u. liegt nicht im Sarg, sondern beim Prota im Bett. Der Erzähler liebäugelt damit, sich selbst umzubringen. Ob er es tatsächlich tut, wird offengelassen.

Die Geschichte könnte eine Spur weniger Angliszismen vertragen. Einige Sätze erscheinen mir sehr (zu?) abgehackt, fügen sich allerdings problemlos in den Rahmen der Geschichte ein.

Hin und wieder wechselst du (begründet o. evtl doch unbewusst) die Erzählzeit. Einen tieferen Sinn dafür konnte ich beim ersten Durchlesen nicht erkennen.

Die Story gefällt mir sowohl stilistisch als auch vom Inhalt her; wenngleich ich den nicht völlig verstehe. In der Rubrik Seltsam muss der Leser jedoch nicht alles begreifen, von daher ist das okay für mich.

Mit Freude gelesen. Demnächst gerne mehr aus deiner Feder mit der Bitte, dann eine kürzere (!!) Geschichte einzustellen, damit ich die im Sinne „seriöser“ Textanalyse Zeile für Zeile durchgehen kann. Die Story hier ist mir dafür einfach zu voluminös. Sorry.

Vg sinuhe

 
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Hallo Sticks,

willkommen auf kg.de. Dein Text ist seltsam, die Rubrik perfekt gewählt. Du bist wort- und formulierungssicher und es gelingt dir, durch eigenwillige und ungewöhnliche (auch ungewöhnlich gute!) Formulierungen mich als Leser zu faszinieren und zu beeindrucken, so dass man erst einmal den teilweise atemberaubenden Sätzen und der seltsamen Struktur willig und gespannt hinterher hechelt, ohne die eigentliche Geschichte zu vermissen. Sie zeigt sich zwar hier und da immer ein wenig, aber das nur so, als würde man von einer Stripperin hier mal eine Hand sehen. die durch den Vorhang ragt, dann wieder einen Fuß und mal eine halbe Gesichtshälfte. Was am Anfang beeindruckt und fasziniert, wird mit zunehmender Dauer immer nerviger. Selbst deine Menschen verhalten sich kryptisch, werden kryptisch dargestellt und reden kryptisch, um den Leser auf kunstvoll kunstvolle Art künstlich auf Distanz zu halten. Und bei all den tollen Sätzen und Formulierungen und dem deutlichen Beweis, dass du die Kunst des Schreibens sehr gut beherrscht, blieb zwar bei mir bis zuletzt das Lesevergnügen über deine sprachlichen Fähigkeiten erhalten, aber leider verging mir zunehmend die Lust, mich auf deine Figuren einzulassen oder mir Gedanken über das zu machen, worum es da eigentlich geht (gut, Saufen, Drogen usw, das wird schon sehr deutlich, geradezu überdeutlich!). Es schimmern im Grunde genommen viele Alltäglichkeiten hindurch, die du literarisch geschmackvoll, und mit vielen besonderen Gewürzen darbietest.

Am Ende war ich dann von den "äußerlichen" bzw. "formalen" Reizen völlig übersättigt, während das Inhaltliche mich eher hungrig zurückließ. Das liest sich irgendwie so, als hättest du dir als Motto gewählt "Wenn ich keine echte Geschichte habe, dann schreibe ich eben keine Geschichte, aber das mache ich sehr kunstvoll und poetisch."

Nur für ein Formulierungsfeuerwerk bedarf es allerdings nicht einer solch langen KG, vor allen Dingen dann nicht, wenn der Inhalt so kryptisch ausgewalzt sich etwas zu beharrlich dem Leser zu entziehen versucht, was stellenweise doch ziemlich nervt. Das ist das Spiel des Autors "Ich weiß etwas, was du nicht weißt", das entweder spannend und sich langsam auflösend gestaltet werden kann, oder eben so wie du es machst. Rätselhaft. Ich habe schon mal Kritiken bei anderen Werken gelesen, da stand dann in etwa "Ich hab es nicht verstanden, aber ich fand es gut/toll/beeindruckend/faszinierend." Ich habe mich damit immer schwer getan, aber irgendwie habe ich bei deinem Text dieses zwiespältige Empfinden tatsächlich gehabt.

Das ist schon ein gelungener Einstieg, weil deine Sprache hoch erfreuliche Kabinettstückchen bietet, die um ihrer selbst willen absolut lesenswert erscheinen.

Rick

 

Hey,

erst einmal vielen, vielen Dank für die Kritiken!

Bevor ich zu einzelnen Antworten übergehe - da einheitlich über die Bedeutung der Story gerätselt wurde, dachte ich, ist's vielleicht ganz gut den Plot nüchtern nieder zu schreiben. Zumindest in meinem Kopf hat es sich während dem Schreiben so abgespielt, ich weiß nicht, ob es sich an einzelnen Stellen selbstständig gemacht hat.

Die chronologisch korrekte Abfolge:

1. "Meerjungfrau" gehört zum Freundeskreis des Protagonisten, und obwohl von vielen begehrt, ging sie mit keinem eine Beziehung ein. („So wie bei allen halt, ich mein‘, wer wollte nicht mal was von ihr zu irgendeiner Zeit? Das war wie’n Fluch, weißte, wie ‘ne Auster, alles abgeprallt.“)

2. Eines Nachts fällt Meerjungfrau in den Fluss und ertrinkt. Aber scheinbar weiß niemand, was mit ihr passiert ist, wo sie ist und so weiter. („Hat sie dir… am letzten Tag irgendwas gesagt, was sie vorhatte, irgendwas?“)

3. Protagonist findet die Meerjungfrau nachts, als sie am Ufer angespült wird. Hier findet der übernatürliche Kick statt: Sie verwest nicht, wirkt wie im Wachkoma. ("Da ist dieser seltsame Moment der Angst, etwas möge nicht richtig sein, also pflücke ich die Strähnen aus ihrem Gesicht. Die schwarzen Sonnen vor poolblauem Himmel sind starr auf die Decke gerichtet, die Fingerspitzen weich und warm.")

4. Protagonist beherbergt die Wachkoma-Meerjungfrau bei sich im Bett. Erzählt es erst dem BMW-Jungen, dann dem Geldverschenker am Stadtstrand, dann wird es ein offenes Geheimnis.

5. "Mädchen bereuen die Jungs, mit denen sie geschlafen haben. Jungs bereuen die Mädchen, mit denen sie nicht geschlafen haben. Und jeder war mal in die Meerjungfrau verliebt. Und jetzt haben viele Jungs etwas nachzuholen."

6. Durch die andauernde Prostitution beginnt die Meerjungfrau zu verwesen. ("Die schwarzen Sonnen vor poolblauem Himmel sind starr auf die Zimmerdecke gerichtet, und im Weiß jenseits der Farben ist eine Ader geplatzt. Ein einsamer Blutwurm im Schnee.", sowie: "[...] etwas stimmt nicht mit ihrer Haut, und den Flecken, und den schwarzen Fingerspitzen.")

7. Die Schuld raubt dem Protagonisten den Verstand (respektive, das passiert schon die ganze Zeit) und eines Nachts als er nach ihr sieht, dreht sie sich zu ihm um.

8. Aus Panik flüchtet er zu einer seiner Kindheitserinnerungen, dem Schwimmbad, steigt auf den Zehnmeterturm und springt. Zuvor wurde erwähnt, dass in der Nacht die Becken leer sind, er jedoch hört das Meeresrauschen unter sich - was nach dem Sprung passiert, bleibt offen.

Soweit.

Zum Hintergrund:
Der Text war für eine Bewerbung, deshalb auch die Überlänge, für die ich mich entschuldigen muss; nur nachträglich kürzen wollte ich sie nicht. Zweitens ist das wahrscheinlich auch der Grund, warum sich das Ganze wie eine Demo meiner Fähigkeiten liest.

ernstoffshore:

Ja, ich bin erbärmlich gescheitert an deiner Geschichte.

Das tut mir ernsthaft leid - kein gutes Zeichen für eine Geschichte, gerade wenn sie surrealistisch ist. Das ist wie die Angel zu früh und heftig aus dem Wasser reißen, bevor der Leser in den Köder beißt.

[...] ich kam mir vor wie Odysseus, der, an den Mast gefesselt, die Sirenen zwar hören, ihnen aber nicht näherkommen kann.

Das wiederum hört sich wundervoll poetisch an.

sinuhe:

Vielen Dank für das Lob!
Im Text stecken ohne Frage noch viel mehr Fehler als die von dir erwähnten. Ich habe das Ganze sehr "organisch" geschrieben: Alles innerhalb von 2 Wochen mehr oder weniger aus mir herausfließen lassen ohne den nötigen Blick in den Rückspiegel, Korrekturen usw.

Die Geschichte spielt in Unterfranken (Wertheim & Würzburg)

Dort aufgewachsen. Ich dachte mir: Jeder macht mal eine Geschichte über seine goldene Jugend; diese KG ist quasi mein Beitrag zur Tradition.

Könnten entweder Psilos oder irgendeine Chemiedroge sein. So wie die Darsteller drauf sind, konsumieren sie nicht nur Alkohol.

Lachgas. Wenn auch sehr viel davon. Habe ganz absichtlich keine Eindrücke aus härteren Sachen benutzt: Die beschriebene Welt ist eine mit falschem Strand, falschen Prinzessinnen und falschen Drogen.

Einige Sätze erscheinen mir sehr (zu?) abgehackt, fügen sich allerdings problemlos in den Rahmen der Geschichte ein.

Mein altes Problem mit der Satzstruktur. Und Hemmingway bin ich leider auch nicht...

Demnächst gerne mehr aus deiner Feder mit der Bitte, dann eine kürzere (!!) Geschichte einzustellen, damit ich die im Sinne „seriöser“ Textanalyse Zeile für Zeile durchgehen kann. Die Story hier ist mir dafür einfach zu voluminös. Sorry.

Notiert! Nochmals sorry! Ich hätte diese Schnappschuss-Eindrücke noch seitenweise weiterführen können.

Rick:

Sie zeigt sich zwar hier und da immer ein wenig, aber das nur so, als würde man von einer Stripperin hier mal eine Hand sehen. die durch den Vorhang ragt, dann wieder einen Fuß und mal eine halbe Gesichtshälfte.

Mein Ansatz war folgend: Ein Plot, erzählt als Antiplot. Deshalb hast du definitiv recht...

Was am Anfang beeindruckt und fasziniert, wird mit zunehmender Dauer immer nerviger.

... und ich denke hiermit auch.

Selbst deine Menschen verhalten sich kryptisch, werden kryptisch dargestellt und reden kryptisch, um den Leser auf kunstvoll kunstvolle Art künstlich auf Distanz zu halten.

Die Idee war tatsächlich die, alle Dialogpassagen so zirkulierend und sinnentleert wie möglich zu halten. Á la sprechen, aber nicht wirklich reden ("Was haben wir gesagt?"). Die Buntheit der geschilderten Welt entspringt dem Kopf des Protagonisten, nicht der Realität in der er lebt.

Anderswo hat ein Kritiker der Kurzgeschichte ein Zitat fallen lassen, an das ihn die Story erinnert und mir sehr gefallen hat: "Wir nehmen die Welt nicht wahr wie sie ist, sondern so wie wir sind." Ich schreibe normalerweise nicht in der Ersten Person, deshalb wollte ich diese Perspektive so sehr auskosten wie möglich. Es macht irre Spaß, die Realität durch die Augen eines Wahnsinnigen wahrzunehmen.

"Wenn ich keine echte Geschichte habe, dann schreibe ich eben keine Geschichte, aber das mache ich sehr kunstvoll und poetisch."

Siehe oben - Volltreffer, aber Gott bewahre dass ich ich mich als Poet oder Künstler sehe. Die Story hier erzählt ja nicht von echten Werten oder löst tiefgreifendere Gedanken im Kopf des Lesers aus. Sie vermittelt Bilder, inspiriert bestenfalls, das ist alles.

Nur für ein Formulierungsfeuerwerk bedarf es allerdings nicht einer solch langen KG, vor allen Dingen dann nicht, wenn der Inhalt so kryptisch ausgewalzt sich etwas zu beharrlich dem Leser zu entziehen versucht, was stellenweise doch ziemlich nervt.

Ebenfalls notiert. Überlänge scheint der große Makel der Story zu sein?

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Noch einmal, vielen Dank für alle die sich die Zeit genommen haben die KG durchzustehen! Was Prosa betrifft, hatte ich bisher nur wenig Output+Feedback, deshalb ist mir jede Rezension hier kostbar.

Sticks

 
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Hallo Sticks,

ich wollte mich noch einmal melden. Danke für deine Interpretationshilfen, so macht das alles schon Sinn, und das Meiste davon habe ich mir schon so oder ähnlich zusammenreimen können. Da du die Story unter "Seltsam" gepostet hast, ist das auch alles okay.

Ich möchte dir aber noch einmal bescheinigen, dass ich in deinem Text viel Kunst und viel Poesie entdecken konnte und besonders ausdrücklich eine sehr hohe Qualität im Umgang mit der Sprache! Insofern ist es schade, dass dieses gewagte und sperrige und außergewöhnliche Werk hier bisher so wenig Beachtung finden konnte. Es hätte sicher mehr Aufmerksamkeit verdient.

Aber die Zurückhaltung hier im Forum hat meines Erachtens evtl. zwei entscheidende Gründe:

1. Die Geschichte ist schon sehr, sehr lang und erfordert eine sehr hohe Bereitschaft, sich auf sie einzulassen. Sie zu lesen, und dann angemessen zu kritisieren kann einen schon mal einen halben Tag kosten (wobei ich finde, es lohnt sich!).

2. Hier herrscht in der Regel ein Prinzip von Geben und Nehmen, d. h., jemand, der Geschichten einstellt und sich Kritiken erhofft, muss auch selbst Bereitschaft zeigen, andere Texte zu beurteilen. Geschieht das nicht, bleiben manche Werke, auch wenn sie noch so beachtenswert sind, eher unbeachtet. Das sind keine festgelegten Regeln, aber das ist der gelebte Forums-Alltag. Ich finde das auch okay. Ich habe hier schon viele Kritiken zu Debüts geschrieben, ohne dass es wenigstens eine Rückmeldung gab, da vergeht einem schnell die Lust, Neulingen eine Kritik zu schreiben. Dafür ist das bisschen (Frei)Zeit, was man zur Verfügung hat, dann doch zu kostbar.

Ich werde deine Story mit dem abgerundeten Wissen auf jeden Fall noch einmal lesen.

Rick

 

offshore schrieb:
„Noch mal ich, Sticks,
ich sag’s dir, deine Geschichte macht mich noch verrückt. Ich habe sie mir jetzt ausgedruckt und bereits zum dritten Mal (einige Passagen noch öfter) gelesen und komme einfach nicht von ihr los …
Trotz ihrer Rätselhaftigkeit empfinde ich sie als einen der allerstärksten Texte, die ich im letzten halben Jahr hier gelesen habe, spaßohne, schräg und hirnverdrehend, ja, aber sprachlich dermaßen ungewöhnlich und bezaubernd, ach was, scheiß drauf, ich nenn’s jetzt einfach mal „brillant“, zumindest für mein Sprachempfinden.
Ich kann mir nach wie vor nicht erklären, wieso ich so fasziniert bin von der Geschichte, wirklich fassbare Bilder lässt sie in meinem Kopf ja eigentlich nicht entstehen, nur so eher nebulose Assoziationen.
Müsste ich jetzt eine Inhaltsangabe schreiben, wäre ich trotz des mehrmaligen Lesens chancenlos. Was habe ich?
Einen Icherzähler, der mir nicht wirklich vorstellbar wird, jede Menge Drogen, Sommerhitze, abwesende Eltern (ein Ambiente, das mich an Brett Easton Ellis‘ Less than Zero erinnert), ein paar Namen mit märchenhafter Konnotation, Alice in Wunderland, Nicole, Cinderella, die ominöse Meerjungfrau (offenbar ein Drogenopfer, das schließlich zu Tode gefickt wird, jessas!), das Meer, das ich erst als Metapher begreifen konnte, nachdem ich Wertheim gegoogelt hatte, was weiß schon ein blöder Wiener.
Und immer wieder Dialoge, die ich in ihrer Stimmigkeit und Authentizität schlicht für genial halte, die mir aber leider beinahe gar nichts an Information vermitteln, und schließlich das Rauschen des Ozeans als letzte Erinnerung … Haut sich der gar vom Sprungturm?
Sehr, sehr seltsam das alles!
Seltsam und kryptisch das Geschehen, seltsam auch die Faszination, die der Text auf mich ausübt, mir erklärbar eigentlich nur durch die Magie deiner Sprache!

Ich hab’s wirklich sehr gerne (und sehr ausdauernd) gelesen, würde mich jetzt aber über eine Hilfestellung von dir, eine Auflösung, eine Art Textbedienungsanleitung, was weiß ich, wirklich freuen. Hab ich mir verdient, glaub ich …

offshore


Das schrieb ich am Sonntagmorgen vor einer Woche, als mein erster Kommentar vier Tage lang der einzige unter deinem Text geblieben war und es weder von anderen Lesern noch von dir Stellungnahmen dazu gab. Und das erschien mir einigermaßen seltsam, weil ich selbst eben die Geschichte als ein so ungemein packendes und außergewöhnliches Leseerlebnis empfunden hatte. Geht dieser Geniestreich hier sang- und klanglos unter, dachte ich mir, wird der ignoriert und verschwindet einfach in den Tiefen des Archivs? Bleibe ich alleine mit all meinen ungelösten Fragen, bin ich der einzige, der dem Zauber dieses Textes erlegen ist? Das wäre doch jammerschade, wahrhaftig eine Schande …

Dann war ich beruflich abgelenkt, obendrein kamen endlich andere Kommentare, sowohl sinuhe als auch Rick lobten deinen Stil, und schließlich nahmst auch du Stellung.
Als ich gestern Ricks neuerlichen Kommentar entdeckte, fiel mir mein nicht abgeschickter Leserbrief wieder ein, gespeichert hatte ich ihn zum Glück und, ja, eigentlich will ich dir den nicht vorenthalten, dachte ich mir heute. Zugegebenermaßen mit dem Hintergedanken, meine Euphorie könnte dich motivieren, weitere Geschichten ins Forum zu stellen, weil, ja,

ich will mehr lesen von dir!

offshore

 
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Vorschnelles Urteil: Viel verkrampft verkünstelte Worte auf wenig Banales verschwendet, einmal so klingen wie Extravaganz und Avantgarde, ach, schön.

Langsames Urteil: Eine Geschichte hat gute Chancen, dass ich sie mag, wenn ich nach den ersten Absätzen ein gewisses Gefühl für sie, für ihren weiteren Verlauf kriege. Das war hier leider nicht der Fall. Klar ist es möglich, Wörter so aneinanderzureihen, dass es wie aufsteigender Wahnsinn rüberkommt. Es fragt sich nur, ob sie dem Leser – hier: mich – diesen Wahnsinn begreiflich machen können, wenn sie sozusagen schon selbst ein Produkt der allzu locker, ja, im scheinbar manisch-exzessiven Rausch geschwungenen Feder sind. Zumindest ging ich da schnell auf Distanz zu dieser pompös »metaphetten« Sprache, zum dechiffrieren krieg ich vermutlich erst Bock wenn die richtigen Appetithäppchen unverschlüsselt vorliegen. Vielleicht eine Überlegung wert, könntest du ein paar nüchterne eindeutige Schlaglichter über Wesen und Herkunft der Meerjungfrau prologhaft oder so der Geschichte hinzufügen, damit du es dem Leser später leichter machst, Realität und Einbildung auseinanderzudividieren. Damit meine ich natürlich keine trockene Szenenbeschreibung. Zumindest rate ich zu etwas mehr Stringenz in der Geschichte, trotz Wahnsinn. Wozu dient der Kater, zum Beispiel? Die darauf folgenden Absätze hatten es schwer von mir wahrgenommen, geschweige denn verstanden zu werden, so Mitleid hatte ich mit dem Tier. Damit ging dann auch der letzte Rest an Empathie und Identifikation mit dem Prot über den Jordan, und ich bin weißgott kein Katzennarr, die Frage ist halt, wozu das, ist das nicht doch etwas übertrieben?

Handwerklich sauber, Fehler sind mir nicht aufgefallen. Ungefähr in der Mitte der Geschichte habe ich runtergescrollt, um zu sehen, wie lange der Text noch geht, und habe dann die Kommentare angelesen. Zum Glück bist du selbst anscheinend wenig überzeugt von der Geschichte und hast sie uns bis zum Ende vorgedeutet, was eigentlich auch gut ist, so bekommst du eher gute, konkrete Tipps. Ich also wieder hoch, um das Lesen an irgendeiner Stelle wieder aufzunehmen und erst mehrere Absätze später fiel mir auf, Mensch, da warst du ja schon ...

Vielleicht ist meine momentane Laune auch gar nicht kompatibel mit solchen Texten, insofern sei meine Kritik auf den folgenden Tipp runtergebrochen: Auch eine Sprachgewalt will gezügelt werden (möglichst so, dass der Leser davon nichts merkt), sonst geht sie mit dir durch, bzw. mit dem, was du rüberbringen willst.


Viele Grüße,
-- floritiv

 

@Rick

Ich möchte dir aber noch einmal bescheinigen, dass ich in deinem Text viel Kunst und viel Poesie entdecken konnte und besonders ausdrücklich eine sehr hohe Qualität im Umgang mit der Sprache!

Vielen, vielen Dank!

2. Hier herrscht in der Regel ein Prinzip von Geben und Nehmen, d. h., jemand, der Geschichten einstellt und sich Kritiken erhofft, muss auch selbst Bereitschaft zeigen, andere Texte zu beurteilen. Geschieht das nicht, bleiben manche Werke, auch wenn sie noch so beachtenswert sind, eher unbeachtet. Das sind keine festgelegten Regeln, aber das ist der gelebte Forums-Alltag. Ich finde das auch okay. Ich habe hier schon viele Kritiken zu Debüts geschrieben, ohne dass es wenigstens eine Rückmeldung gab, da vergeht einem schnell die Lust, Neulingen eine Kritik zu schreiben. Dafür ist das bisschen (Frei)Zeit, was man zur Verfügung hat, dann doch zu kostbar.

Notiert! Ich wälze mich zZ durch die Kurzgeschichten auf der Seite.

@ernst offshore

Wow, vielen Dank! Das ist überwältigend für mich, denn wie gesagt, meine Prosa ist eigentlich - lediglich - für einen anderen Bereich, und deshalb fühle ich mich umso überwältigter, wenn jemand an etwas aus diesem Bereich meiner Arbeit Gefallen findet.

Kurzgeschichten sind etwas, was ich generell immer nur nebenher schreibe, als Auflockerung quasi. Darum würde ich liebend gern noch mehr veröffentlichen.

@floritiv

Viel verkrampft verkünstelte Worte auf wenig Banales verschwendet, einmal so klingen wie Extravaganz und Avantgarde, ach, schön.

Woah! Das ist das genaue Gegenteil von dem, was ich schreiben bzw. erreichen wollte. Gerade Avantgarde. Mein bisheriges Ziel war, diese Ecke möglichst zu vermeiden oder bestenfalls anzuschneiden: "Die sterbende Meerjungfrau" als Antiplot, schwebend wie eine Matratze auf dem Schwimmbecken.
Das letzte, was ich will, ist eine Anbiederung an die contemporary art á la Neue Berliner Schule: Unverhüllte Philosophie, Meta ohne jegliche Ebenen darunter, quasi Metaphern ohne narrative Kreativität und Tiefe. So wie Alice im Wunderland, ohne das Wunderland.

In der Babelsberger Filmschule wurde 2012 ein Film veröffentlicht, der das ganze Dilemma auf den Punkt bringt, denke ich: Ein Mann namens "Figur" stolpert durch ein Labyrinth auf der Suche nach Schicksal. Das ist an sich ansprechend und hat Potenzial, aber wo ist die eigentliche Geschichte? Ich hatte versucht, das mit der hier vorliegenden Story zu verhindern. Was ist besser? Die philosophischen Fragen blank an den Leser zu bringen, gnadenlos Wörter wie Schicksal, Tod, Identität, Ich und Du, Sie und Ich, Einsamkeit, Sucht nach Leben usw. fallen zu lassen? Oder sie verschleiert zu präsentieren, auf dass der Leser das Puzzle zusammen setzt?

Aber wenn ein Leser es als Pseudo-Avantgarde identifiziert - das ist immer ein Zeichen, dass der Autor gescheitert ist. Das darf definitiv nicht passieren. Gerade im Surrealismis ist das der GAU.

Vielleicht eine Überlegung wert, könntest du ein paar nüchterne eindeutige Schlaglichter über Wesen und Herkunft der Meerjungfrau prologhaft oder so der Geschichte hinzufügen, damit du es dem Leser später leichter machst, Realität und Einbildung auseinanderzudividieren. Damit meine ich natürlich keine trockene Szenenbeschreibung.

Hierbei lag mein Problem. Ich wollte trockene Szenenbeschreibung um jeden Fall vermeiden, da sie die Atmosphäre gnadenlos gekillt hätte. Und bis heute habe ich keine vollwertige Alternative gefunden.

Wozu dient der Kater, zum Beispiel? Die darauf folgenden Absätze hatten es schwer von mir wahrgenommen, geschweige denn verstanden zu werden, so Mitleid hatte ich mit dem Tier. Damit ging dann auch der letzte Rest an Empathie und Identifikation mit dem Prot über den Jordan, und ich bin weißgott kein Katzennarr, die Frage ist halt, wozu das, ist das nicht doch etwas übertrieben?

Das ist vor allem ein interessanter Kritikpunkt, weil ich ihn noch nie zuvor gehört hatte. Ich hatte hier und da Details im Text fallen gelassen, ohne daran zu denken ob sie den Leser schwerwiegend ablenken würden.

Ich also wieder hoch, um das Lesen an irgendeiner Stelle wieder aufzunehmen und erst mehrere Absätze später fiel mir auf, Mensch, da warst du ja schon ...

Autsch! Ebenfalls ein Tabu! Noch so ein worst case - dass die Geschichte nicht im Kopf des Lesers Anker wirft...

Auch eine Sprachgewalt will gezügelt werden (möglichst so, dass der Leser davon nichts merkt), sonst geht sie mit dir durch, bzw. mit dem, was du rüberbringen willst.

Notiert! Ich nehme fast an, dass dieser Fehler ein tödlicher ist... Ich habe noch eine Kurzgeschichte im Fundus, in der meine Sprache viel nüchterner ausfällt, vielleicht wird dir die mehr munden.

Jedenfalls danke für den Verriss - denn auch der ist sehr wichtig; so wie man aus schlechten Filmen viel über Dramaturgie lernt, behält man viel aus negativen Kritiken... :)

Vielen Dank auch an die anderen für ihre Worte!

Sticks

 

Hi Sticks, bin erst mal froh, dass mein "Verriss" im richtigen Hals gelandet ist. Bin nun mal hoffnungslos ehrlich und will mir gar nicht vorzählen, wie viele Neumitglieder ich auf dem Gewissen habe (bzgl. ihrer Eigenschaft als Mitglied natürlich nur :D).

Das ist vor allem ein interessanter Kritikpunkt, weil ich ihn noch nie zuvor gehört hatte. Ich hatte hier und da Details im Text fallen gelassen, ohne daran zu denken ob sie den Leser schwerwiegend ablenken würden.
Nichts gegen Schockeffekte an sich, aber ich denke, gerade die sollten etwas mit der Geschichte, ihrem Kern zu tun haben. Schocken zum Selbstzweck, einfach, weil man da so eine Idee für toll hält, denkt, das schraffiert den Charakter einer Figur gut aus ... kann nach hinten losgehen.

 

Hallo Sticks,

der Text (ich habe ihn zweimal gelesen) hat einige sehr gute, starke Passagen. Die klingen lyrisch, manchmal haarscharf an der Grenze, überladen zu sein, aber du kriegst dann doch immer noch die Kurve. Ist natürlich gewagt, so fast ohne Plot. Dennoch hat dein Text ein gewisses Etwas. Ich würde mir mehr Stringenz wünschen, etwas mehr Substanz. Ich bin da zwiegespalten, da wir eine ähnliche Diskussion hier vor kurzem hatten: Darf ein Text einfach nur Stil sein, darf er nur aus stilistischen Versatzstücken entstehen? Also, man kriegt dann ja oft diesen Style over substance Vorwurf, wie im Film: Sieht geil aus, das Teil, aber worum ging es noch mal? Ach so, egal, sieht geil aus! Verstehe mich nicht falsch - ich schätze deine Schreibe, sie ist frisch und knackig, und auch ein wenig wild und verstörend, ich könnte so niemals schreiben. Vielleicht einfach nur ein wenig mehr Linearität, dann würden die Emotionen beim Leser sicherlich noch besser wirken.

Gerne gelesen

Gruss, Jimmy

 

Hey,

Jetzt erst das neue Feedback gelesen, man entschuldige mir die verspätete Antwort!

@floritiv:

Nichts gegen Schockeffekte an sich, aber ich denke, gerade die sollten etwas mit der Geschichte, ihrem Kern zu tun haben. Schocken zum Selbstzweck, einfach, weil man da so eine Idee für toll hält, denkt, das schraffiert den Charakter einer Figur gut aus ... kann nach hinten losgehen.

Da stimme ich absolut zu. Manchmal gibt es nichts Schlimmeres, als eine Idee, die nach hinten losgeht. Ich werde die Lektion für meine zukünftigen Stories im Kopf behalten.

@jimmysalaryman:

Zunächst einmal ein Dankeschön, dass du meiner Geschichte Aufmerksamkeit geschenkt hast!

manchmal haarscharf an der Grenze, überladen zu sein, aber du kriegst dann doch immer noch die Kurve

Das scheint die allgemeine Meinung zu sein. Ich werde versuchen, in Zukunft die Kurve etwas weniger scharf zu schneiden.

Darf ein Text einfach nur Stil sein, darf er nur aus stilistischen Versatzstücken entstehen? Also, man kriegt dann ja oft diesen Style over substance Vorwurf, wie im Film: Sieht geil aus, das Teil, aber worum ging es noch mal? Ach so, egal, sieht geil aus! Verstehe mich nicht falsch - ich schätze deine Schreibe, sie ist frisch und knackig, und auch ein wenig wild und verstörend, ich könnte so niemals schreiben. Vielleicht einfach nur ein wenig mehr Linearität, dann würden die Emotionen beim Leser sicherlich noch besser wirken.

Style over substance - ich hätte nie gedacht, dass ich mich mal auf der "Style"-Seite wiederfinden würde! Interessanterweise hatte ich bereits in Betracht gezogen, die Story auf eine erweiterte Länge zu strecken - d.h., die Geschichte weiter auszubauen (ein Polizist/Detektiv untersucht den Zwischenfall in diesem verwunschenem Ort - was sind die Unterschiede seiner Wahrnehmung und die Konsequenzen?), aber da die vorliegende Aufgabenstellung (Studienbewerbung für die HFF Potsdam) mich auf gerade einmal 20 Seiten beschränkte, ergab sich die vorliegende Kurzgeschichte.

Vielleicht einfach nur ein wenig mehr Linearität, dann würden die Emotionen beim Leser sicherlich noch besser wirken.

Notiert!

Liebe Grüße,
Sticks

 
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Hallo,


Das Tier streift intoxikiert meine Chucks und huscht ins warme Dunkel,
intoxiniert

*Ich sage ihm Auf Wiedersehen und Triton fährt zurück zu seinem Palast aus Gold, Stolz und Statussymbolen.
Mein Handy klingelt; Eltern. Wer seinen Hund in der Wildnis aussetzt, hat nicht nur sein Besitzrecht verwirkt, sondern darf vor allem nicht erwarten, ihn später abzuholen.
Das ist enttäuschend selbstgerecht und ein bisschen billig hier. Gold, Stolz und Statussymbole – das ist so eine Werbeästhetik aus der Mehmet-Scholl-Werbung, das man den Vater hier auf eine Charaktereigenschaft runterbricht.
Ich mochte die Idee aus einem Satz davor: .
Ich weiß nichts von seiner Tochter, die erst hat verschwinden müssen, bevor er realisierte, dass sie ihm verloren ging.
Das „realisieren“ mag ich nicht, begreifen wäre mir lieber, sonst ist doch da zu dem Vater alles gesagt. Bis dahin fand ich den Text sehr trittsicher, aber den Absatz fand ich – wie sagt man – tone-deaf.


Doch dann schlafen die Leute irgendwann ein, was Meerjungfrauen einfriert, einsperrt in Erinnerungen, wo sie einen zweiten Tod erleiden.
Ich find den „Was“-Satz grammatikalisch fragwürdig. Klingt wie eine misslungene Kindersprache hier.

deshalb genieße ich die frische Luft bis sie da ist.
Nervig bei einem hochkärtigen Text mit Kleinigkeiten, aber der Fall ist paar mal im Text. „, bis sie da ist“ - ist ein vollwertiger Temporalsatz und muss mit Komma abgetrennt werden.

Wolkenlos Nummer 55.
Die Zahl ist erfunden. Die 500€ auf dem polierten Tisch sind’s nicht. Aber die sind auch normal.
Der mir gegenüber sitzt, quetscht seine Kippe ins Plastik. Als er sich zurücklehnt, filetieren die Schatten des Strohdachs sein Gesicht in ein Schachbrett, aus dem giftgrüne Iriden die vorbeilaufende Bedienung anvisieren. „Noch was für euch?“ Wunschlos glücklich.
„Ich erinner‘ mich noch ganz gut… Sie war bei mir, als ich zum ersten Mal das Meer gesehen hab‘.“, erzählt er und nippt an seinem Bier, „Also ein richtiges Meer, so in hellblau und warm, wie’n Pool nur größer. Auf den Malediven. Kennste? War’n Geschenk zum Achtzehnten, aber dafür gab’s kein Auto. Naja.“
„Zwischen euch lief da nichts.“
„Stimmt. So wie bei allen halt, ich mein‘, wer wollte nicht mal was von ihr zu irgendeiner Zeit? Das war wie’n Fluch, weißte, wie ‘ne Auster, alles abgeprallt.“
Tank ist leer. Feuerzeug schnappt auf, und die Flamme bringt mein Gesicht zum Glühen. Bei der Hitze spürt man gar nicht, wie das Nikotin die Lunge schneidet.
Er zieht seine eigene Schachtel aus den bunt gemusterten Shorts hervor; eine andere Marke. „Aber hinterher dachte ich mir immer: ich hätte mich bestimmt so richtig verliebt, wär‘ nich‘ Nicole dazwischen gekommen. Vielleicht hab‘ ich Glück gehabt.“
„Und jetzt?“
„Hm?“
Fingernägel, die Plastik schleifen. „Komm zur Sache. Was brauchst du?“
Er klopft auf den Geldschein, surreal lila. „Alter, nimm’s einfach. Wir haben dir so viel schuldig, du kaufst auch immer alles wenn’s bei dir steigt, und in den Trips zum Zauberberg nach’m Abi haben wir bei dir pennen dürfen –“
„Schon okay.“
Er hat mal eine im Jacuzzi seines besten Freundes entjungfert, nur um zu sehen, ob Blut und Türkis eine gute Kombination abgeben. Und um die anderen anzupissen natürlich.
Das Lila wird von ihm in die Schachtel gedrückt, die er mir über den Tisch entgegen schiebt.
- schwer liegen die Kapseln in der Hand –
Ich greife zu.
- lache wie ein gefolterter Delphin und falle hart auf das mit Brandflecken gemusterte Zedernholz –
„Kennst du noch Dornröschen?“ Sein Zahnpastagrinsen multipliziert sich im Dunkelraster. „Vielleicht wacht sie ja auf, wenn ich rangeh‘.“
Das ist ein grandioser Absatz. Das erinnert mich an die Asiaten in den USA, die von Kind an auf Leistung gedrillt weren, wo jeder in der Familie später irgendwas ist, nur der missratene Sohn wird degenerieter Profi-Poker-Spieller und hat diese ganze Bildung, diesen „Headstart“ ins Leben und nutzt es dazu, um Mimtenschen zu manipulieren und sich durchzumogeln, weil er halt auch dieses Abfang.Netz der Eltern unter sich hat, Erbe, Treuhandvermögen, mindestens fünf bis neun Chancen. Gut, das haben die Asiaten wahrscheinlich nicht, aber das ist ja eine „Jugend“ hier, die von ihrem eigenen Potential derart überzeugt ist, dass es gar nicht nötig scheint, das abzurufen. Es wird ja eigentlich auf jeden in dem Text herabgeblickt, der nicht zu der Clique gehört, und das geht soweit, dass man auf andere herabblickt, während die zu einem herabblicken.
Ist ja fast ein Aussteiger-Text auf hohem Niveau. Man kann machen, was man will, solange Papa (die „Götter“) glaubt man macht irgendwas. Das hat natürlich einer, der mit 16 von zu Hause raus muss, und sehen soll, dass er einen eigenen Haushalt aufmacht, nicht. Der hatte aber auch keine schulbildung, die ihn jetzt von gefolterten Delphinen phantasieren lässt, und von Jacuzzis.
Also wenn das ein Roman wäre, dann wären die alle in Salem auf dem Internat gewesen.

Unter ihr führt der Wind in die Schlucht, wo der Fluss entspringt und vor Leben vibrierende Wellen am Fels zerschellen; Aphrodites Bethlehem. Uralte Bestien warten dort unten auf die Nächste ihrer Art.
Ja, das ist Hybris schon fast. Der Erzähler hat, weil wahrscheinlich im eigenen Leben gar nichts da ist, das große Bedürfnis, sich in eine mythische Kette einzureihen und das eigene Leben zu erhöhen, dadurch dass das Mädchen so erhöht wird. Es ist ein Requiem der Text, und man erhöht die Umstehenden, indem man die Tote erhöht.
Uralte Bestien warten dort unten auf die Nächste ihrer Art – das ist schon ein toller Satz.
Auch dass die offenbar gar nicht tot sein kann, weil das zu banal wäre. „Tot ist sie nicht, die sehen anders aus“ - und dann hat man da seitenlang eine tote Nixe im Pool. Auch dieses „poolblaue“ - als Leitmotiv, das ist Hollywood-Ästhetik. Die Party Nachts am Pool – das ist der Playboy-Mansion-Mythos, in Bikinis nachts am Pool – dann hat man es geschafft, das sind die 70er. Das ist Boogie Nights.

„Als ich, glaub‘ ich, fünfzehn war, hab‘ ich mich damit abgefunden, dass ich die Liebe meines Lebens nicht in Wertheim finde.“, murmelt er und winkelt die Beine an.
Ja, das ist schon toll. Also früher hätten die alle Hesse gelesen und ich denke heute konsumieren sie halt Kultur von Leuten, die auch Hesse gelesen haben. Das ist echt ein verdammt guter Text. Ist man als Leser aber auch in so einer Pharisäer-Haltung drin: Habt Danke, Herr, dass ich nicht bin wie jene dort.
Aus meiner Abi-Zeit, da waren die Skater auch die, bei denen Papa Kohle hatte. Da haben die Stüssi-Shirts und die Wollmützen auch richtig Kohle gekostet, damit man alternativ sein konnte. Ist ja nicht so, als würden die beim Baumarkt für 8EUro in der Stunde arbeiten, damit sie sich die Mützen leisten können. Das erstaunliche auch hier im Text: Die Frauen sind einfach da, sehen gut aus und sagen nix. Ich glaub so sind Skater-Bräute. Jung, angenehm und sagen nie was. Wollen alle wie Avril Lavigne sein, nur ohne Text. Ja. Ich glaub die einzige Frau, in dem Text, die Text hat ist die Meerjungfrau, oder? Wahrscheinlich lässt sich die 13jährige Alice da flachlegen, weil sie einfach kein Vokaublar hat, um „Nein“ zu sagen.

Heute kleben sie an Lana Del Rey. Männerfresser wie sie bringen dich dazu, dich richtig hart zu verlieben.
Das ist auch irgendwie im Text. Die Angst des Sprayers vor einer Frau mit eigener, körperlicher Sexualität. Extensions, lange Fingernägel, Soul-Musik, so das „Schwarze“ - so sind die immer nicht, stimmt.
Ich weiß nicht, ich mag den Text wirklich, obwohl ich die Figuren darin natürlich sehr kritisch sehe, aber der Text gibt mir eine neue Perspektive, ich hab über diese Skater/Sprayer/Söhne-Generation nie richtig nachgedacht. Mit Schwabs Sagen des klassischen Altertums aufgewachsen, weil man das in einem guten Haushalt halt neben dem Brockhaus stehen hat, und dann Skater geworden – das passt schon.

Ja, ich hab das ohne Vorkenntnis gelesen. Das ist halt ein Panoptikum, ein agebericht dieser Clique, das tote Mädchen ist ja kein Plot, sondern ist die Grundierung auf der sich die Figuren verhalten. Der Text war als Bewerbung für eine Hochschule gedacht? Ja, schwierig. Ich denke das ist mehr was für einen Nachwuchs-Literaturpreis oder so. Vielleicht mit einem klassiheren Plot dann, dass man weitere Figuren wirklich einführt, ein Konflikt kommt zwischen dem gescheiterten Polizisten, der sich mit der toten Meerjungfrau doch noch den Einstieg sichern will – irgendwie sowas. Aber das ist natürlich in dem Nebel der Geschichten schweirig. Es ist soviel Zeit daruaf verwandt, deutlich zu machen – durch indirekte Schilderung – wie diese kleine Subkultur da tickt, die 10 Sprayer in Wertheim, dass da für Plot halt wenig Raum ist und wenig Antrieb auch einfach.
Wie alt sind die Leute hier? Es soll so wirken wie „Nach dem Abi“, 18, 19, maximal 20, vielleicht Zivi noch gemacht. Aber diese Nostalgie in der Geschichte, dass jetzt keiner die Meerjungfrau haben durfte – das sieht mir doch eher nach Mitte/Ende 20 aus. Ich hätte den Erzähler und seine Kumpels nicht so jung geschätzt, deshalb war ich auch bisschen irritert, als dann da echt mit der 12jährigen Schönheitskönign – najo.
Ich fand den Text echt gut, viel länger hätte er in der Form aber auch nicht sein dürfen, dneke ich, weil ohne Plot tritt so ein Text chon ganz schön auf der Stelle. Also ja, das Mädchen verwest und man berät, wie damit zu verfahren sei, aber die Implikationen, da wirklich ein totes mädchen im Haus zu haben, die lassen deine Fiugren ja gar nicht an sie ran. Und der Ton ist eben von der ersten bis zur letzten Zeile gleich: Wir verdrängen das tote Mädchen. WennGefühle aufkommen, hauen wir uns irgendein Zeug rein, was in Luftballons steckt und feiern unsere Freiheit.
Und wahrscheinlich müsste für eine Geschichte, die über ein Panoptikum hinausgeht, dieser Stillstand in der Geschichte irgendwann überwunden werden. Er wird in der Geschichte aber zelebriert, die Geschichte ist ein Standbild. Man legt den Fokus auf die Gruppe auf ihr Verhältnisse zu anderen Gruppen. Und das ist ja auch eine Menge. Das macht die Geschichte wirklich toll, aber, wenn du dich fragst, warum das dann vielleicht nicht sooo einschlägt und dass es vielleicht mit Potsdam (glaub ich?) nicht klappt, dann zum einen, weil der Text natürlich schon künstlerisch ambitioniertist und eher was für Preise und das Feuilleton, und zum anderen weil der Schwierigkeitsgrad nochmal enorm höher, wenn du die Clique in Bewegung gezeigt hättest und nicht im Standbild.
Aber natürlich: Wenn das alles in Bewegung kommt, wenn du diesen Polizisten da als Figur ernst nimmst, dann den Vater, der nachschnüffelt, ernster nimmst, die eigenen Eltern einführst, dann vielleicht wirklich: Was machst du eigentlich mit deinem Leben? Dann wäre dieser Charme natürlich schwierig durchzuhalten und dieser Blick. So zelebriert man im Text eine Art zu Leben, stellt das vor, zeigt den Protagonisten auch in diesem Bedürfnis nach mythischer Verklärung und du hast tolle Sätze drin. Mir reicht das, hier im Forum, hier in der umgebung. Aber ich denke der nächste Schritt, die Geschichte in Bewegung zu setzen, würde dann enorme Risiken mit sich bringen, aber gäbe auch ein tolles Potential.

Gibt hier im Forum oder gab's zumindest mal eh einige Leute, die bei der Geschichte hier sich vor Begeisterung kullern würde . Die erreichst du wahrscheinlich aber eher später, wenn du dich mehr eingebrachst – vielleicht auch mit einem anderen Titel? Requiem für eine Meerjungfrau? Irgendwas lyrischeres? Ich seh die Zielgruppe für deinen Text genau vor meinen Augen, die Frage ist, wie du an die ran kommst. :)

Ich denk man noch zwei Tage über den Text nach, vielleicht hab ich noch was zu sagen. Auf jeden Fall willkommen hier, beeindruckendes Debüt.

Gruß
Quinn

Edit: Ich hab die Kommentare gelesen und deine Erläuterung, dass die Meerjungfrau dann nach ihrem Tod "rumgereicht" wird, habe ich beim Lesen des Textes nicht gesehen - und, ehm, mir ist das auch zu sehr auf dicke Hose gemacht. Das verroht den Text doch total und entmenschlicht jede Figur darin. Muss das sein? So Sachen sind immer so weit draußen, dass ich das Leser nicht wahrhaben will, wenn es angedeutet da steht, dann müsste dann schon richtig ausgebreitet werden und das passiert dann nicht, weil der AUtor davor auch ein bisschen Schiss hat - so "schockierende" Wendungen verleiden mir Texte.
"Hey, guck mal, Nina liegt seit 6 Tagen in der Badewanne und bewegt sich nicht." -" Spitze! Dann kann ich endlich mit ihr schlafee! Juhu!" - "Nicht so schnell, das wird nicht billig!" . auch als Analogie auf irgendetwas ... denke bei Licht besehen, taugt die Idee einfach nix.

 
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Hallo Sticks,

vom Stil her ist das einer der besten Texte, die ich seit langem hier gelesen habe. Da sind so viele lyrisch-schöne Ideen und originelle Gedanken drin. Meine Top Five waren:


Der größte Idiot unter uns segelt geradewegs in den Markt und wirft Anker vor dem Bierregal, sein bester Freund jagt hinterher, bringt beide zum Kentern ins selbstgemachte Schöfferhofermeer - die waren schon immer so.
Wo die Dämmerung am weitesten entfernt ist, wecken Hunde die Schimäre, und die zündet dreckige kleine Feuerwerkskörper hinter meinen Augen bis ich blind bin, bis auf Fixsterne, die nur auf Netzhäuten existieren. Die Welt geht unter meinen Lidern unter.
Und wie Böller eingesperrt in Luftballons explodieren unsere Köpfe.
Mädchen bereuen die Jungs, mit denen sie geschlafen haben. Jungs bereuen die Mädchen, mit denen sie nicht geschlafen haben.
Ich werfe die letzte Bierflasche im hohen Bogen in einen Innenhof. Ein bellender Hund weckt Lichter auf.
Wobei ich die letzte Stelle wirklich toll fand! ;)

Der ganze Text ist etwas kryptisch und ich bedanke mich an dieser Stelle für die Erklärungen, ohne die ich die Handlung nie verstanden hätte. Die folgende Stelle bedeutet anscheinend, dass die Jungs Sex mit der Toten haben (?)

Das kleine Wunder aus dem Meer wird von Mund zu Mund weiter gereicht wie Kaugummi.

Die Geschichte ist natürlich morbide, was ich normalerweise nicht so gerne lese, allerdings auf eine ästhetisch-schöne Weise, die das Schaurige zum Erlebnis macht. Um mich zu einem echten Fan dieses Textes zu machen, müsste ich beim Lesen wissen, worum es geht. Wenn schon Rätsel, dann solche aus den Rätselseiten der Zeitungen. ;)

Trotzdem sehr gern gelesen!

Berg

 

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