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Die Steinschleuder

Beitritt
19.06.2001
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Die Steinschleuder

Die Steinschleuder

Die unbarmherzige Sonne stach und brannte über der Wüste. Alisha saß hinter dem Haus und nähte. Manchmal blickte sie auf, um die Augen zu entspannen. Dann schaute sie in die Ferne. Doch da war nichts, woran das Auge hätte haften bleiben können. Nichts, als endlose Wüste, eine weite Fläche ohne jede Erhebung, nur vom Horizont begrenzt. Wüste und Steine. Ihre Augen ruhten einen Moment auf einem verbeulten Panzer, der hundert Meter vom Haus entfernt stand. Nashid spielte dort manchmal mit den anderen Kindern. Alisha sah dies nicht gerne und hatte es ihm schon oft verboten. Aber was sollte der Junge hier auch sonst machen, wenn er mittags nach Hause kam von der Schule, in der sie ihm eh´ nichts gescheites beibrachten, außer dass es gut und richtig war, die Bestie zu lieben. Alisha nannte den Diktator insgeheim nur noch die Bestie, seit seine Soldaten ihren Mann abgeholt hatten, vor einigen Monaten, früh morgens, als er gerade auf dem Weg in die Stadt gewesen war. Seither hatte sie kein Lebenszeichen mehr von ihm gehört. Er war einfach verschwunden. Die Nachbarn hatten ihr erzählt, er sei von uniformierten Männern abgeholt worden, ohne dass er irgendeine Gegenwehr hätte leisten können. Den Grund konnte Alisha allenfalls ahnen. Er hatte sich abfällig über die Bestie geäußert, nachdem sie gezwungen worden waren, aus dem Dorf umzusiedeln in diese Barackensiedlung nahe der alten Fabrik, deren hässliche Betonmauern gegenüber der Vorderseite des Hauses im Wüstensand standen. Damals hatte er gesagt, sie wären nur dorthin umgesiedelt worden, damit die Bestie unschuldige Opfer präsentieren könne, wenn der Feind die Fabrik bombardierte. Dies hatten Andere gehört. Sie hatten zwar alle genickt, aber Einer musste es weitergetragen haben.
Und nun wusste sie seit über einem Monat nichts über seinen Verbleib. Jedoch: sie gab die Hoffnung nicht auf, dass er eines Tages wiederkommen würde. Eines Tages würde es an die Türe klopfen, sie würde öffnen, und er würde vor ihr stehen. Da war sie sich ganz sicher. Sie vermisste seinen Blick, diese liebevollen dunklen Augen, die ihr nachblickten, wenn sie geschäftig durch die Wohnung eilte. Sie vermisste auch die Art, wie er seine Brille zurückschob, die beim Lesen immer wieder von der Nase rutschte. Sie vermisste seine Zärtlichkeiten in der Nacht. Sie vermisste ihn ganz und gar.
Nun war ihr nur Nashid geblieben. Der Kleine verstand nicht, warum sein Vater nicht mehr da war, und sie konnte ihm schwerlich sagen, dass die Bestie ihn geholt hatte, die Bestie, von der sie ihm in der Schule beigebracht hatten, dass sich für sie zu opfern das höchste Verdienst sei und ein jeder, der dies tue, direkt bei den Huris im Pardes aufwachen würde. Alisha schüttelte den Kopf. Dies brachten sie einem siebenjährigen Jungen bei, der dies natürlich voller Begeisterung nachplapperte. Mit den Anderen spielte er dann Krieg in und um den alten Panzer, denn der Krieg war vor seiner Zeit gewesen, aber Alisha konnte sich noch gut daran erinnern. Daran und an die Säuberungsaktionen danach, denen ihr Schwager zum Opfer gefallen war.
Sie wendete sich wieder ihrer Arbeit zu. Vorne hörte sie Nashid im Wasser plantschen. Dort führte ein kleiner Kanal entlang, denn der große Fluss war nicht weit.
Sie hatte versucht, im Garten vor dem Haus etwas essbares anzupflanzen, doch obwohl genug Wasser vorhanden war, wollte in der schlammigen Erde nichts wachsen. Es kam ihr immer wieder in den Sinn, dass dieses ganze Stück Land einfach verflucht war seit Urzeiten und dass hier nie irgendetwas wachsen würde.
Sie seufzte. Manches Mal in der Nacht überkam sie große Trauer und Wut, dass sie an diesem verfluchten Ort leben musste. Ein Onkel von ihr, der im Ausland lebte, hatte ihr kürzlich das Angebot gemacht, sie und Nashid über die Grenze zu bringen. Aber sie wollte bleiben, bis ihr Mann wiederkam, und irgendwann, das hoffte sie mit all ihrer Kraft, würde er wiederkommen. Wenn mitten in der Nacht die Hoffnungslosigkeit von ihrer Seele Besitz ergreifen wollte, ging sie zum Bett ihres Sohnes und lauschte auf seinen ruhigen und sorglosen Atem. Dann strich sie ihm das dichte Haar aus der Stirn und gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Sei unbesorgt, mein Liebling,“ flüsterte sie dann. „Ich werde Dich behüten und beschützen. Nie soll Dir irgendein Leid geschehen, mein Ein und Alles.“ Sie summte ein Lied, das ihre Mutter ihr beigebracht hatte und wiegte sich dadurch selbst in den Schlaf. Der Junge sprang dann am nächsten Morgen unbekümmert und frisch aus dem Bett. Die ganze Welt war noch ein Spiel für ihn.
Sie blickte wieder in die Ferne. Die Sonne brannte, und die flirrende Luft ließ den Horizont verschwimmen, verwischte alle Konturen. Es war spät am Nachmittag und bald würde ein kühler Wind von Westen den Abend ankündigen.

Sie kamen schnell und lautlos. Alisha hörte sie erst, als sie schon fast wieder verschwunden waren. Als erstes hörte sie die Detonation. Die Wände hinter ihr vibrierten und ein Höllenlärm drang bis in ihr Herz. Sie drehte sich um. Vor dem Haus stieg eine Stichflamme empor, eine schwarze Wolke breitete sich aus. Alisha schrie, doch der Lärm übertönte ihren Schrei. Sie lief nach vorne, denn ihr Sohn war dort, lief hinein in die schwarze Wolke, die doch voller Flammen war und Staub. „Nashid!“ schrie sie. Vor dem Haus sah sie die feindlichen Flieger abdrehen. Die Fabrik war nur noch ein einziger, brennender und rauchender Leichnam. Sie rief abermals ihren Sohn, und da sah sie ihn. Er lag in einer Wasserlache einige Meter von dem Haus entfernt, als sei er den Flugzeugen entgegengerannt. Sie stürzte zu ihm. „Nashid!“ Der Kleine blickte sie an, die Augen voller Angst und Unverständnis. „Mama!“ Aber seine Stimme war seltsam leise, fast tonlos. Sie hob ihn auf und drückte ihn an sich. Da sah sie, dass das Wasser voller Blut war und dass irgendetwas mit dem Bauch ihres Sohnes nicht stimmte. Er war voller Blut und sie sah eine schwarze Wunde. Irgendetwas musste seine Bauchdecke aufgerissen haben. Schwarzes Blut quoll in Strömen hervor. „Mama!“ In fassungslosem Entsetzen presste sie das Kind an sich. „Nashid! Liebling!“ Das Kind starrte sie mit dunklen, glänzenden Augen an. „Mama! Komme ich jetzt zu den-?“ er brach mitten im Satz ab. Jetzt sah sie die kleine Steinschleuder in seiner rechten Hand. Der Junge hatte den Mund halb geöffnet. Die Lippen wollten eine Wort formen, dann fing er an zu zittern. Das Zittern wurde stärker. Alisha presste ihre Hand auf den Bauch des Jungen, doch es kam immer mehr Blut hervorgequollen. Sie hielt ihn fest, hielt sein kleines Gesicht in Händen, presste ihre Wange an seine, versuchte, das Leben in ihm festzuhalten, ihm von ihrem Leben zu geben. Da hörte er auf zu zittern. Er blickte sie weiter unverwandt an, doch die dunklen Augen verloren ihren Glanz, und dann schauten sie nur noch durch sie hindurch.

Sie saß noch spät in der Nacht bei ihm, hielt ihn fest in den Armen. Der Mond war aufgegangen, voll und rund schien er über der Wüste. Seine silbernen Strahlen glitten über die beiden reglosen Körper, als wollten sie Trost spenden. Doch Alisha saß teilnahmslos da.
Sie fühlte nicht.

 

Hallo Eric,

in eindringlichen Worten beschreibst Du die gesellschaftlichen Konsequenzen, mit denen der einfache Bürger zu rechnen hat, wenn er in einem Gewaltregime lebt (Angst, Verrat, Willkür, ..). Die große Politik findet nicht in einem abstrakten Raum statt, sie ist bei den Menschen. Gut gefallen hat mir der Konflikt der Frau- soll sie sich in Sicherheit bringen? Eine schwierige Entscheidung, wie schuldig muß sie sich nach dem Tod des Kindes fühlen.
Ein Leben zwischen Indoktrination und Denunziantentum- ein gut beschriebenes Gesellschaftsbild, ohne Übertreibungen.
Da die Entscheidung das Land zu verlassen so essentiell ist, hätte man den Aspekt der möglichen Rückkehr des Vaters vielleicht mit mehr Grund zur Hoffnung beschreiben sollen.

Vielleicht willst Du hier noch etwas ändern:
Zitat:
Die unbarmherzige Sonne stach und brannte über der Wüste

„Stach … über der Wüste“ - brannte stechend auf die Wüste (oder die Bewohner der Wüste).

Tschüß… Woltochinon

 

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