Die Steine des Herzens
Es begab sich vor langer Zeit, als die Menschen noch Menschen waren, und noch nicht vergessen hatten, woher sie alle einst gekommen waren.
In jenen Tagen ging eine junge Frau hinaus, um den richtigen Mann für sich zu finden. Sie war wunderschön, doch es fehlte ihr an Vertrauen in Ihrer selbst. Und so zweifelte sie stets, und bei jedem Manne. Sie fragte sich, wie ein Herr sie denn lieben sollte, hatte sie doch noch nicht viel erreicht in ihrem Leben, und keine nennenswerten Tugenden vorzuweisen.
So verzagte sie und lief hinaus in den Wald. Sie lief drei Tage und Nächte ohne Rast. Am Ende ihrer Kräfte brach sie zusammen und erwartete ihr frühes Ende.
Doch es sollte anders geschehen.
Sie erwachte in einer hölzernen Hütte, im flackernden Schein eines wohlig wärmenden Feuers im steinernen Kamin.
„Da bist du ja!“, sprach eine rauhe, doch sanfte Stimme aus den tanzenden Schatten in der Ecke.
„Wer ist da?“ Eine ungewisse Furcht überkam das Mädchen.
„Fürchte dich nicht, mein Kind!“. Hervor trat ein greiser Mann, gestützt auf einen langen Stab, sein langer Bart, der die Farbe frisch geschmiedeten Eisens hatte, über einem langen Gewand von grober, brauner Wolle wallend. „Doch sage mir, was verschlägt dich allein so tief in den Forst?“
„Die Suche.“, entgegnete sie leise.
Er lächelte leicht. „Ah, die Suche. Nun, hier draußen bin ich zweifellos der einzige Mann, den es zu finden gibt. Doch bin ich sicher nicht das Ziel deines Strebens!“
Sie schüttelte den Kopf.
„So sage mir“, forderte er sie auf, „was betrübt dich?“
„Ich bin unwert geliebt zu werden.“, erwiderte sie. „Ich habe keine Eigenschaften, die ein Mann lieben könnte.“
Der Greis reichte ihr eine Schale voll Wasser. „Sieh hinein!“, sprach er und sie tat es. „Was siehst du?“
„Nichts...“, sie war verwirrt. „Nur mein eigenes Spiegelbild.“
Er nickte zufrieden und entzog ihr das Behältnis. „Ist dieser Anblick allein nicht schon etwas, das man zu lieben vermag?“
Sie schüttelte den Kopf wie ein Pferd, das sein Zaumzeug nicht tragen mag. „Ich will nicht ob meines Äußeren geliebt werden, sondern ob meines Herzens!“
Ein eigenartiger Schimmer leuchtete in den Augen des Alten, und er lächelte breit. „Hier kann ich dir helfen!“
Er bedeutete ihr, sich auf die Kante des Strohbettes zu setzen, in welchem sie gelegen hatte. Mit einem glimmenden Span, welchen er ins Kaminfeuer gehalten hatte, entzündete er eine Talglampe und brachte sie heran. Dabei entnahm er noch etwas aus einem kleinen, ledernen Beutel, welcher an einer Schnur an der Wand hing.
Bei dem Mädchen angelangt brachte er eine goldene Nadel hervor, welche er nun an der Lampe erhitzte. Als sie hell glühte sprach er zu dem Mädchen: „Schließ deine Augen!“ Und als sie es tat führte er die Nadel an ihre Nase und durchstach sie auf der rechten Seite.
Vom Schmerz überrascht schreckte sie auf und rief: „Warum hast du das getan?“
Er aber hielt ihr seine flache Hand hin, auf der vier glitzernde Schmuckstücke zu erblicken waren. „Dies sind die Steine des Herzens.“, sprach er. „Jeder steht für einen Wesenszug. Trage den Stein mitten im Gesicht, und die Eigenschaft welche er verkörpert wird dir ins Antlitz geschrieben stehen.“ Er deutete auf eines der Schmuckstücke. „Der silberne Mond verkörpert die Eigenschaften, die Luna verleiht. Weiblichkeit, Sinnlichkeit, Fruchtbarkeit, Fürsorglichkeit und die Fähigkeit, durch geschicktes Thun in Küche, Haus und Hof eine gute Ehefrau zu sein.“ Sein Finger deutete auf einen weiteren, in Silber gefassten Stein. „Der tiefschwarze, kantenlos runde Stein entfacht tiefe Gefühle, die ebenso tief reichen wie die Schwärze seiner Farbe.“ Er zeigte auf den Nächsten. „Ebenso schwarz und tief, doch mit Kanten und vier Ecken, ist der Stein des Mutes. Mit ihm wirst du dich niemals scheuen an Ecken oder Hindernisse zu stoßen. Tapfer und frohen Mutes wirst du dich jeder Gefahr und jeder Schwierigkeit entgegen stellen.“ Er verwies nun auf den letzten Stein. „Dieser klare Kristall besticht durch seine Reinheit. Ebenso wird es dein Gemüt, wenn du dich für diesen Stein entscheidest. Du wirst voller Güte sein, kein bosartiger, eigennütziger oder hinterhältiger Gedanke wird deinen Geist vergiften. Voll Selbstlosigkeit wird es stets dein Bestreben sein, das Beste für Andere zu erreichen.“ Mit einer einladenden Geste bedeutete er ihr zuzugreifen. „Wähle wovon du dir am meisten versprichst!“
Zögerlich ergriff sie das Schmuckstück mit dem klaren Kristall. „Ich baue auf die Güte des Herzens!“
„So sei es!“, erklärte der Greis. Er legte die übrigen Stücke beiseite, zog die Nadel aus der Nase des Mädchens und steckte den Schmuck in das geschaffene Löchlein hinein. Er wischte die stumme Träne von ihrer Wange, die aus ihrem rechten Auge geronnen war. „Nun geh hin und finde deinen Mann!“
So dankte sie ihm und ging erneut hinaus, einen Mann zu finden.
Voller Güte half sie all jenen die sie brauchten, half Bettlern, Witwen und Waisen und ward bald von jedermann geliebt. So fand sich alsbald auch ein Mann, der sie zu sich nehmen wollte. Sie sorgte stets gut für ihn, wie für alle anderen, doch dachte sie niemals an sich selbst. So ward sie verbittert und unglücklich, und ihr Leib vermochte nicht das Kind auszutragen, welches in ihr heranwuchs. Nachdem sie es verloren hatte, ließ ihr Angetrauter sie allein zurück. Er nahm ihr ganzes Hab und Gut und entschwand damit in der Nacht.
Gepeinigt von Gram zog sie erneut hinaus in den Wald, den alten Kautz zu finden. Nach drei Tagen und drei Nächten stieß sie auf eine von den Elementen gezeichnete Hütte. Sie klopfte an der Tür und als sie sich auftat lächelte ihr der Greis entgegen. „Ich habe dich erwartet!“, sprach er. „Genau ein Frühling, ein Sommer, ein Herbst und ein Winter sind vergangen, seit unserer letzten Begegnung.“
„Herr, ich habe die falsche Tugend gewählt!“, klagte sie. „So bitte, lasset mich einen anderen Stein wählen!“
Der Greis gewährte ihr den Wunsch. Sodann erwählte sie den eckigen, schwarzen Stein. Der Alte nahm den Kristall zurück und steckte indes den Silberstecker mit dem Stein des Mutes in ihr Angesicht.
Sie dankte ihm und kehrte alsbald aus dem Walde zurück.
Und so erwählte sie sich den stattlichsten, bestaussehenden und wohlhabendsten Junggesellen, eine wahrlich gute Partie, und ging mutig auf ihn zu. Sie forderte ihn zum Tanze auf beim Marktfest und eroberte ihn.
Doch nach einigen Monden erwies sich der Gatte als Tyrann, der sie des Öftren mit Schlägen strafte.
So kam es, als er sie eines Nachts wieder schlug und quälte, dass er mit dem Stiefel in ihren Unterleib trat, in dem sie ihr ungeborenes Kind trug.
So geschah es, dass erneut ein Kind den Weg des Blutes ging. Zornig begehrte sie gegen ihren Gatten auf. Als er das nächste Mal gegen sie zur Tätlichkeit schritt widersetzte sie sich, und erschlug ihn mit dem Nudelholz. Mutig stellte sie sich dem Prozess und zeigte die Male ihres Martyriums. So ward sie denn begnadigt und von des Henkers Liste gestrichen.
Erneut enttäuscht machte sie sich auf in den Wald, und nach drei Tagen und Nächten erreichte sie die Hütte des Alten. Genau ein Jahr war vergangen, seit sie hier zuletzt eingekehrt war.
Der Greis öffnete sogleich auf ihr Klopfen. „Ah, mein Kind! Ich habe dich bereits erwartet.“, gebot er ihr zum Gruße.
Sie klagte ihm ihr Leid und bat erneut, eine andere Tugend wählen zu dürfen. Er gewährte ihr den Wunsch, wechselte den Stecker in ihrer Nase und schickte sie erneut aus, ihren Mann zu finden. Der runde, schwarze Stein sollte es diesmal sein – jener, der sie mit tiefen Gefühlen versehen würde.
Alsbald verliebte sie sich auf Gedeih und Verderb in einen stattlichen jungen Mann, der auch sie sehr lieb gewann. Aus ihrer leidenschaftlichen Liebe entsprang alsbald ein Kind. Doch als das Leben des Kindes in die zehnte Woche gehen sollte erwachte es nicht mehr am Morgen. Dem plötzlichen Kindstod zum Opfer gefallen verursachte es dem Vater solches Leid, dass er hinging, und sich in der Scheuer erhenkte.
Blind vor Tränen rannte die junge Frau in den Wald und irrte durch's Gehölz, drei Tage und drei Nächte lang. Und als der vierte Tag anbrach war genau ein Jahr vergangen, und erneut stand sie vor der Hütte des Greises.
Der alte Mann spendete ihr Trost so gut er es vermochte. Dann kam er ihrer Bitte nach, ihr den letzten Stecker in die Nase einzusetzen.
Mit dem silbernen Halbmond im Antlitz verließ sie den Forst und kehrte in die Stadt zurück. Nicht lange darauf fiel ein anständiger junger Mann ihrer Schönheit und ihrem Wesen anheim und sie heirateten einander. Sie bewohnten das schönste und gepflegteste Haus in der Gemarkung. Sie sorgte gut für Haus und Vieh, und machte ihren Mann rundum glücklich. Alsbald ward ihnen ein Kind geboren, das sie bestens umsorgte. Doch eines nachts, nachdem sie einen sinnlichen Abend mit Ihrem Gatten verbracht hatte, ging sie in die Stallungen, um die Kühe zu versorgen. Als sie wieder heraus trat sah sie ihr Haus lichterloh in Flammen stehen. Eine Kerze war ins Stroh des ehelichen Lagers gefallen, in dem ihr schlafender Mann gelegen hatte. So verlor sie Haus, Ehemann und Kind in einer höllischen Feuersbrunst.
In ihrer Verzweiflung machte sie sich erneut auf in den Wald, wo nach drei Tagen und Nächten das vierte Jahr verstrichen war, als sie an der Hütte angelangte.
„All deine Tugenden, sie sind zu nichts gut!“, beklagte das Mädchen. „Deine Steine, was immer sie mir gaben, es war stets nur Kummer und Leid!“
„Mein liebes Kind.“, begann der Greis. „Die Steine haben dir niemals etwas gegeben – sie haben dir stets nur etwas genommen! Die Eigenschaften die sie zum Vorschein brachten waren alle bereits in dir. Die Stecker hielten nur die übrigen unter Verschluss, sodass die verbleibenden hervor treten konnten. All diese Tugenden waren immer so in dir vorhanden. Du selbst bist ein besserer Mensch als du mit einem solchen Stein jemals sein kannst!“ Und so riss er den Mond aus ihrer Nase und schickte sie fort.
Alsbald begab es sich, dass der Tross des Kronprinzen durch die Stadt zog. Unterdessen sie rasteten bemerkte der Prinz die junge Schöne, die ihm im Namen des Wirtshauses zum Goldenen Hirsch zu Essen brachte. Er gewann sie lieb und lud sie ein, im Trosse mit ihm zu reisen.
Er erkannte die Königin in ihr und ehelichte sie, und so ward sie Königin Miranda II. Es war eine Zeit weiser und gütiger Regentschaft, und so lebten beide glücklich bis ans Ende ihrer Tage.