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Die Standuhr
Ich sitze auf meinem Stuhl und lausche den Tönen meiner neuen Standuhr aus dem Jahr 1821. Ein wahrhaft vornehmes Modell. Wahrhaft teuer. Wahrhaft nutzlos. Doch wie so vieles dieser Art, so wollte ich es dennoch mein Eigen nennen dürfen. Was mir allerdings zu spät klar wurde, war, dass von diesem vornehmen, ja gar fürstlichen Besitz wohl nie ein Mensch erfahren dürfte, da sie nur bei mir zuhause stehen kann. Wäre es ein teurer Anzug, oder eine goldene Taschenuhr, ich könnte sie all den Menschen auf der Straße beiläufig vorführen, doch wer läuft schon mit einer Standuhr umher? Und da sie sonst keinen Zweck zu erfüllen scheint, lausche ich nun ihren 200 Pfund teuren Zeigern, wie sie sich um ihre eigene Achse drehen.
Wie seltsam. War ich in Gedanken verloren oder war sie gerade langsamer geworden? Ich drehe mich zu ihr und starre auf ihre Ziffern, Zeiger, Goldumrandungen und Zahnräder. Ich musste mich wohl verhört haben. Ich versuche ganz leise zu sein, selbst das Atmen unterbinde ich für die Zeit, die es benötigt herauszufinden, was hier vor sich geht. Und tatsächlich, verändert sich die Geschwindigkeit der Zeiger erneut. Ja, dieses Mal bin ich mir ganz sicher. Doch noch kenne ich nicht die Uhrsache dieses Umstandes.Ist es die Zeit, die fehlerhaft erscheint, oder gar, was wohl um einiges verheerender wäre, meine neue Standuhr?
Ich erhebe mich mühsam aus meinem Stuhl und gehe auf die Uhr zu. Die Achsen ihrer Zeiger betrachten mich spöttisch, wie die Augen eines überheblichen Weibes. Seit ihr es, die ihr mir Ärger macht?, frage ich. Nicht, dass ich eine Antwort erwarte, doch ihr Schweigen erzürnt mich. Ich öffne die Glasvitrine und sehe nach den Zahnrädern. Es geht alles seinen gewohnten Gang. Aber kann ich mir da sicher sein? Natürlich nicht, wie könnte ich denn auch, nach nur zwei Stunden Besitz. Ich ziehe die Uhr erneut bis zum Anschlag auf, dann gehe ich zurück in meinen Sessel. Ich warte, ja, lauere fast schon auf ein Fehlverhalten dieser unnützen Verschwendung meines Geldes und nun, da sie mich nicht mehr ruhen lässt, auch meiner Lebenszeit. Wie gebannt, starre ich auf die Zeiger und bemerke mit Schrecken, dass sie immer langsamer zu werden scheinen. Doch gleichzeitig scheint auch alles um mich herum still zu stehen. Wie könnte es auch anders sein? Ich lebe allein, habe weder Kind, noch Tier, noch Weib und nichts Lebendiges, was sich bewegen könnte, befindet sich in diesem Raum. Ich beschließe mit der Standuhr das Haus zu verlassen. Ich brauche Klarheit. Ich brauche Gewissheit.
Es dauert einige Minuten, bis ich die Standuhr die Treppen meines Hauses heruntergebracht habe und sie schnaufend abstellen kann. Zumindest glaube ich, dass es Minuten waren. Herrgott! Es könnten auch Tage gewesen sein! Wie sollte ich Sklave der mechanischen Zeit das jemals wissen? Ist es nicht furchtbar, wie sehr wir von den Maschinen abhängig geworden sind? Wer kann schon heutzutage noch sagen, wie viel Uhr es ist, ohne auf die Uhr zu sehen? Eine Schande, diese unsere Unfähigkeit!
Ich fluche vor mich hin während ich dieses gottverdammte Verdammnis des menschlichen Zeitgefühls an den Straßenrand bugsiere. Dann stelle ich sie ab, setze mich vor ihr auf dem harten Zementboden nieder und beginne sie anzustarren. Doch noch bevor ich mich wirklich konzentrieren kann, kommt ein Mann auf mich zu und zückt sein Portemonnaie.
Was für eine wundervoll erhalte Standuhr, sagt er begeistert. Sagt mir einen Preis und bei Gott, ich werde ihn zahlen.
Oh, das wollt Ihr nicht, sage ich. Sie ist kaputt, dieser Strick des erdrosselten Sinnes für Zeit.
Kaputt?, fragt er mich verwirrt und zückt eine goldene Taschenuhr. Sie scheint doch tadellos zu funktionieren.
Auf den ersten Blick wohl, ja., kläre ich ihn auf. Doch setzt euch zu mir und ihr werdet es sehen.
Er setzt sich neben mir auf den Bürgersteig und ich kläre ihn über die Verfehlungen dieser Missgunst der deutschen Technik auf.
Bei Gott, Sie haben recht., sagt der Mann, dem ich die Augen öffnete. Wie seltsam, dass sie dennoch die richtige Zeit anzuzeigen scheint.
Ich stimme ihm zu und er geht seiner Wege.
Ich sitze noch lange dort und sehe auf das Versagen des menschlichen Handwerks am Eingriff in die Natur. Und als ich da so sitze und es beginnt dunkel zu werden und mich zu frieren, da kommt mir der Gedanke, ob es wohl möglich wäre, dass diese Uhr nicht nur zu langsam zu ticken scheint, sondern in gleicher Weise und zu gleicher Zeit auch zu schnell um das vermisste Stück an Zeit wieder aufzuholen und tatsächlich: Auf einmal scheinen die Zeiger schneller zu fallen und aufzusteigen. Viel zu schnell um in der jetzigen Zeit zu schlagen. Völlig zeitlos. Vollkommen taktlos. Und als ich bemerke, dass die Uhr meinen Gedanken zu folgen scheint, erschrecke ich umso mehr. Mein Gott! Ich beherrsche die Geschwindigkeit dieser Uhr! Doch sah ich und auch der Mann nicht ganz eindeutig die einwandfreie Übereinstimmung zur Tageszeit? Bin ich also der Herrscher aller Uhren? Ja, vielleicht sogar der Zeit? So unglaublich diese These auch erscheinen mag, so ist sie doch der einzig mögliche Weg der Wahrheit. Warum war ich dieser meiner Macht noch nie zuvor bewusst gewesen?
Und da fällt es mir wie Schuppen von den Augen! Natürlich! Der Besitzer dieser Standuhr muss der Herrscher der Zeit sein. So bin ich es nun und so war es vor mir dieser Antiquitätenhändler. Doch wie kam er nur dazu, dieses göttliche Werk aus der Hand zu geben für diesen gar allzu menschlichen Betrag? Dieser Narr! War er sich denn seiner ungeheuren Macht nicht bewusst?
Dann war er wohl nicht würdig sie zu besitzen! Doch ich werde anders sein! Ich werde mein Glück nicht so leichtfertig verspielen wie dieser einfältige Trottel! Ich werde sie zum Wohle der Menschheit nutzen und bei Gott, nichts wird mir je diese Macht entreißen.
Plötzlich höre ich einen furchtbaren Schrei aus einer Seitengasse. Natürlich weiß ich, dass diese Gegend bei Nacht nicht gerade ungefährlich ist und so mache ich mich daran, meine Standuhr zurück ins Haus zu ziehen bis ich abrupt stehen bleibe. Warum zum Teufel sollte ich mich verstecken? Ich bin der Herrscher über die Zeit! Entschlossen mache ich kehrt und ziehe die Standuhr über die Straße in Richtung Seitengasse. Das Schleifen der Uhr, die über den Asphalt schlittert ist ohrenbetäubend und zieht mehr Blicke auf sich als der Schrei, was mich aber auch nicht weiter verwundert. Schließlich würde meine Standuhr sie wohl kaum mit dem Messer bedrohen. So bin ich natürlich letztlich der Einzige, der ächzend in die Seitengasse tritt, dicht gefolgt von meiner treuen und ach so mächtigen ehrwürdigen Freundin. Ich hebe den Blick und sehe eine junge Frau, vielleicht auch ein altes Mädchen, dass am Boden liegt. Wo ist da eigentlich die Grenze? Ich meine, wann kann man schon sagen, ob ein Mädchen eine Frau wurde, oder eine Frau noch ein Mädchen ist? Nun, ist es der erste sexuelle Kontakt, so ist dieses Ding wahrscheinlich eine Frau. Freiwillig oder nicht, wie sich aus ihrer zerrissenen Bluse und den Blutflecken auf ihrer Haut nicht mit Sicherheit schließen lässt. Ich komme langsam näher und betrachte die leblose Hülle ihrer verlorenen Zeit. Zeit. Zeit! Wenn es mir möglich war, die Geschwindigkeit der Zeit zu beeinflussen, so kann ich sie mit Sicherheit auch umkehren! Doch als ich mich gerade vor meinem göttlichen Geschenk niederlasse erscheinen zwei zwielichtige Gestalten aus dem Zwielicht.
Bleibt nur fern, rufe ich. Denkt Ihr nicht, Ihr habt schon genug angerichtet?
Doch sie scheinen mich für keine Bedrohung zu halten und kommen immer näher. Gut, denke ich. Ihr habt es nicht anders gewollt. Ich sehe die beiden an und versuche mich zu konzentrieren, doch sie werden nicht langsamer. Nicht mehr lange und sie stehen direkt vor mir. Natürlich funktioniert es nicht, denke ich mir. Es funktioniert nur, wenn ich meine Standuhr betrachte. So drehe ich mich also schnell um und starre auf das Ziffernblatt. Ich versuche mich zu konzentrieren. Ganz ruhig, denke ich. Ich kann die Zeit beherrschen. Was soll mir schon passieren? Die Schritte kommen immer näher, doch das macht mir nichts aus. Ich weiß, dass sie mir nichts anhaben können. Ich höre, wie einer von ihnen ein Messer zückt, doch es wird mich niemals schneiden können.
Nicht mich.
Nicht den Herrscher der Zeit.