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Die Standuhr
Die Standuhr
Die riesige Standuhr befand in der einzigen Schrank freien Ecke des Wohnzimmers. Zu jeder vollen Stunde schlug ein kräftiger Gong und kündigte die Zeit an.
In diesen Moment schlug sie zum zwölften Mal und der alte Mann, der in dem bequemen Sessel saß, legte das Buch beiseite. Er hatte bereits seit Mittag gelesen und nun hielt er es für an der Zeit zu Bett zu gehen.
Die Uhr tickte lautstark in der Ecke, während der alte Mann sich aus dem Sessel erhob, die Kerzen löschte und in sein Schlafgemach ging. Nachdem er seine Kleider abgelegt hatte, legte er sich einsam in das reich verzierte Bett und schlief schnell ein. Das Ticken der Uhr hing über der fast Grabhaften Stille.
Am Mittag des nächsten Tages erwachte der alte Mann und durchschritt, nachdem er sich angekleidet hatte, einsam die unzähligen Zimmer des riesigen Herrenhauses. Verfolgt von dem Ticken der Uhr.
Sein einsamer Rundgang endete wie jeden Tag im Wohnzimmer, bei der Standuhr, und wie jeden Tag, stellte er sich vor jene Uhr und zog mit dem Finger einen weiteren Strich durch die dicke Schicht Staub, die sich auf der Uhr gebildet Hatte. Ein weiterer Tag.
Dann setzte er sich wieder in den Sessel, schob seine Brille zurecht und las weiter in seinem Buch.
Heute jedoch war etwas anders, das wußte der alte Mann, nur was anders war wußte er noch nicht. Er ignorierte einfach dieses Gefühl und las in dem Buch. Im Hintergrund tickte die Uhr.
Eine gehauchte Stimme flog durch das Haus. Der alte Mann konnte kein klares Wort erkennen und hielt die Stimme für eine Illusion, die von dem Wind, der durch die undichten Fenster pfiff, gebracht wurde.
„Jasper!“, hörte er dann plötzlich seinen Namen gehaucht. „Jasper!“, das Ticken der Uhr unterstrich die Botschaft, die in diesem einen Wort lag.
„Amanda?“,. in seiner Verwirrtheit rief er den Namen seiner verstorbenen Ehegattin.
„Jasper, komm zu mir!“, schien der Wind zu säuseln.
Zitternd vor Furcht erhob sich der alte Mann aus seinem Sessel, folgte dem Ruf und gelangte zu der Treppe, die zu dem alten Schlafzimmer führte. Er hatte das Zimmer seit dem Tod seiner Frau nicht mehr betreten. Von dort kam die Stimme und er schlich langsam die Treppe empor.
„Jasper!“, hauchte die Stimme immer wieder, begleitet von dem Ticken der Uhr, in einem merkwürdigen Rhythmus.
Vorsichtig und starr vor Angst schob er langsam die Tür auf, protestierend quietschten die Scharniere. Mit geweiteten Augen betrat er das Zimmer.
Da war sie, eine blonde Frau lag in dem Bett.
„Jasper, komm zu mir!“, hauchte sie und streckte die Arme nach ihm aus.
„Amanda?“ Tränen standen dem alten Mann in den Augen, als er das jugendliche Abbild seiner Frau erblickte. „Ich…Ich…habe dich so vermißt, Amanda! Mit weichen Knien bewegte er sich auf das Bett zu.
„Ja, komm zu mir, Jasper“, wurde ihm entgegen gehaucht. „Es ist an der Zeit, mein Geliebter!“
„Oh, mein geliebtes Wesen!“ Mit jedem Ticken der Uhr verließ eine Träne sein Auge. „Ist es endlich so weit? Darf ich dich wieder in meine Arme schließen?“
„Ja, mein Geliebter, es ist an der Zeit!“
Der alte Mann stand nun vor dem Bett und ließ sich langsam in die Arme seiner Frau gleiten. Sein Körper hatte gerade das Bett berührt, da erstarb das Ticken der Uhr.