Die Stadt
Es war einmal eine Stadt, eine ausgesprochen schöne Stadt, das wollte niemand bestreiten, doch natürlich gab es schöne und weniger schöne Viertel, es gab Gegenden in denen die Häuser kaum mehr als Bretterbuden waren und solche, in denen wahre Paläste standen. Riesige, mit weißem Kies bestreute Wege führten zu den großen hölzernen Türen, hinter denen sich ein Paradies aus Marmor und Gold verbarg. In einem dieser Häuser wohnte ein Mann, er war noch sehr jung, gerade den Kinderschuhen entschlüpft. Voller Stolz präsentierte er jedem sein Anwesen und erklärte wie fleißig sein Personal ist. Er rühmt sich gerne damit, den schönsten Rasen und die saubersten Räume zu haben. Der Mann war ein Emporkömmling, zwar nicht dumm, doch überheblich und arrogant.
Zu seiner Linken wohnte eine Frau, etwas älter als er, und doch waren sie gut befreundet. Regelmäßig wurde er zum Essen eingeladen, und die Einladung nahm er stets dankend an, denn wenn die Frau etwas gut konnte, dann war das Kochen. Pünktlich um Acht stand er jeden Samstag auf der Matte, er war immer pünktlich. Dann tratschten sie über die Stadt und deren Bewohner; mit dem Wissen, dass es einem Selber besser geht als den Meisten, fällt es gleich viel leichter über die Anderen herzuziehen. In ihren Prachtbauten saßen sie, fett und gesund, und lachten über die ärmeren Viertel, die Slums, die Ghettos. Doch verließen sie ihr Haus, schienen sie die Barmherzigkeit in Person, man wollte ja gut dastehen, wer Bürgermeister werden will muss eine breite Bürgerschaft aus allen Schichten hinter sich wissen, dessen waren sich die Beiden bewusst. Sie lächelten ihr falsches, aufgesetztes Lächeln und wenn es, wie meistens, erwidert wurde, fühlten sie sich gut; wieder einen hinters Licht geführt, dachten sie.
In ihrer blinden Arroganz bemerkten sie es nicht, sie bemerkten gar nichts.
Es war ein offenes Geheimnis, dass die Reichsten, zu denen sich die beiden Nachbarn zählten in Wirklichkeit nichts hatten, sie hatten nichts und sie waren nichts, als eine riesiger Ballon voll heißer Luft, der bei der kleinsten Erschütterung platzen würde. In Wahrheit hatten sie einen gewaltigen Haufen Schulden. Sie bezahlten einfach den einen Gläubiger, indem sie einen neuen Kredit aufnahmen, so wuchs und wuchs ihr Schuldenberg, bald war es Usus, dass nicht mehr der, welcher am meisten Geld hatte der Reichste war, sondern der, welcher am wenigsten Schulden hatte. Aber das interessierte sie selbstverständlich nicht, solange der Benz und die Jacht an ihrem Platz standen schien die Welt in Ordnung. Das Viertel der Beiden galt als das schönste und reichste, doch, wie schon erwähnt, war das alles nur Lug und Trug. Lediglich die Bewohner stärkten ihr Ego in dem Glauben, sie könnten die ganze Stadt hinters Licht führen, und lebten ihr Leben im verschuldeten Paradies. Doch eines Tages begannen in dem Viertel einige Häuser zu verfallen, die Bewohner verarmten, der Gummi des Ballons wurde porös. Der Mann und seine Nachbarin konnten das nicht tatenlos mit ansehen, ihr schönes Viertel, ihr Paradies. „Was sollen die Anderen von uns denken? Ein Bürgermeister aus dieser Umgebung? Undenkbar!“. Kredite wurden aufgenommen, Geld wurde herangeschafft. Die Nachbarn wurden wo es nur ging unterstützt, bis das Viertel in altem Glanz erstrahlte. Das der Ballon dadurch nicht geflickt, sondern nur aufgeblasen worden war, und nun näher am zerplatzen war als er es je zuvor gewesen ist, schien niemand zu bemerken. Sie glaubten wirklich es würde stets so weitergehen. Es heißt schließlich auch ein Auge für ein Auge, warum also nicht auch Schulden mit Schulden begleichen?
Sie glaubten wirklich es würde stets so weitergehen, bis Heute.
Jetzt sitzen sie verschanzt in ihren Häusern, in ihren riesigen, prunkvollen, imposanten Häusern. Draußen tobt der Mob, alle versuchen sie die Häuser aufzubrechen, am Personal vorbei und auf die Zimmer der Besitzer zu gelangen, sie wollen Blut sehen, zu lange hat diese Ungerechtigkeit geherrscht.
Und die Besitzer sitzen zu Hause in ihren Sälen, und halten eine Telefonkonferenz. Krisensitzung sollte man es besser nennen, aber das klingt zu hart, finden sie, Optimismus sei das Wichtigste in solchen Situationen. „Was haben wir denn falsch gemacht?“, „Ohne uns sind die da doch gar nichts, was erlauben die sich?“, so oder so ähnlich kann man sie am Telefon reden hören. Könnte die schreiende, mit allerlei Waffen bestückte Masse das hören, manche würden wohl lachen- denn lächerlich ist es wirklich- manche würden resigniert den Kopf schütteln um Sekunden später ihre Schlagstöcke zu heben und mit neuer Wut gegen die übermächtig aufragenden Paläste anzurennen.
Die Krisensitzung, pardon Konferenz, dauert an. Ratlos hört man zu oder ergreift selbst das Wort, mancher redet ohne etwas zu sagen, die, welche immerhin ein wenig Verstand haben halten einfach den Mund. Immer weniger Stimmen sind zu hören, die Menge verschlingt nach und nach die Konferenzteilnehmer, die Anderen hören lautes Geschrei und Jubelgesänge, dann sind die eroberten Leitungen tot. So geht es zu bis nur noch zwei Stimmen übrig sind, die sich allein wägen, doch wer weiß ob da nicht noch andere Zuhörer, letzte standhafte Bastionen gegen die hunderten Angreifer sind, und stumm lauschen. Vielleicht haben sie aufgegeben und erkannt, dass Worte nichts mehr bedeuten; haben sie überhaupt jemals etwas bedeutet?
In ihrer Verzweiflung wollen sich die beiden ein letztes Mal sehen, der Mann und die Frau treten ans Fenster und schauen sich über ihre Gärten hinweg an, ihre vormals schönen, falsch lächelnden Gesichter sind von Angst beherrscht . Die Frau hört wie ihre Tür unter der Wut der Masse bricht: „Michel, sie kommen!“. „Leb wohl, Marianne.“