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Die Stadt war sein Zuhause

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31.07.2003
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Die Stadt war sein Zuhause

Die Stadt war sein Zuhause. Er liebte das multikulturelle Flair, er liebte die Weite und er liebte es, immer wieder Stellen zu entdecken, an denen er noch nie gewesen oder die ihm noch nie so aufgefallen waren. „Die Stadt ist ein einziges Abenteuer“ sagte er häufig und freute sich, ein Teil, ja vielleicht sogar der Held dieses Abenteuers zu sein. Oft wanderte er ziellos und stundenlang durch die Straßen. Er genoss die Wärme der Sommernächte und er liebte den Herbst, der die Stadt in Farbe tauchte, fast genauso wie den Frühling, der die Straßen wieder mit Leben und Liebe füllte. Nach Feierabend ging er selten direkt nach Hause, viel lieber ging er bis in die späten Abendstunden am Ufer der Spree entlang oder traf sich mit Freunden in der Nähe der neuen Mitte auf ein oder zwei Cocktails. Auch heute Abend wollte man sich wieder treffen. Es war halb 5 nachmittags, eine halbe Stunde lag noch vor ihm. Unerwartet wurde er in das Büro seines Chefs gerufen. Mit gemischten Gefühlen betrat er dessen Büro, in dem dieser hinter einem protzigen Schreibtisch thronte. „Sie werden befördert“ empfing ihn der Chef und bremste die Euphorie über die unverhoffte Belohnung direkt wieder: „Als Projektleiter sorgen sie in Ostfriesland für den Aufbau einer neuen Niederlassung“. Schockiert sah er seinen Chef an. Hatte er richtig gehört? Er sollte die Stadt – er sollte seine Heimat verlassen? „Das... das geht nicht...“ versuchte er zu kontern. „Unsinn, das ist doch eine großartige Chance für sie. Sie sind mobil, haben keine Frau und keine Kinder. Was hindert sie?“ Er war sprachlos. Er wollte und er musste etwas antworten. Doch ihm fehlten die Argumente. Er wollte seine Stadt nicht verlassen, nicht für seinen Chef, nicht für dessen Firma. Doch wie hätte er dies erklären sollen? „Ich deute ihr Schweigen als Zustimmung“ resümierte dieser und deutete auf eine Aktentasche. „In dieser Tasche finden sie alle Informationen, die sie benötigen.“ Der Chef reichte ihm auch eine Bahnfahrkarte und einen Schlüssel „Beethovenstraße 16, gute Lage. Sie wohnen 2 Jahre kostenlos. Morgen früh um halb 8 fährt ihr Zug am Bahnhof Zoo, Gleis 7 ab“ erklärte der Chef und drückte ihm die Aktentasche in die Hand. „Wir hören von einander.“ Damit durfte er gehen.

An diesem Abend traf er sich nicht mit seinen Freunden, obwohl sie mehrmals auf seinem Mobiltelefon anriefen. Er ging auch nicht nach Hause. Er lief kreuz und quer durch die Stadt. In seinem Inneren setzte sich das Bewusstsein fest, dass ab dem heutigen Tage alles anders sein würde. Die Dinge, die er zuvor noch als selbstverständlich schön betrachtet hatte, sah er nun in einem ganz anderen Licht. Er glaubte zu wissen, dass er alles zum letzten Mal sah. Er lief durch den Tiergarten, an der Bank vorbei, auf der er seinen ersten Kuss bekommen hatte. Er überquerte den Alexanderplatz, auf dem er sich als Jugendlicher immer mit Gleichaltrigen getroffen hatte. Er kam schließlich am Französischen Dom an und blickte hinüber zur Ecke Markgrafenstraße / Französische Straße, wo seine Eltern Jahrzehnte lang bis zu ihrem viel zu frühen Tod gelebt hatten. Er lief sämtliche Stationen seines Lebens ab, um sich schließlich in der Nähe der Gedächtniskirche auf einer Bank auszuruhen. Er blickte auf die Uhr – halb 2 nachts. Noch 6 Stunden also. Sein Kopf war leer, seine Schläfen pochten. Er konnte nicht mehr. Tränen liefen über seine Wangen. Er war verzweifelt und er schämte sich. Sein Chef hatte ihn ausgenutzt, das war ihm klar. Er war schwach, er hätte protestieren sollen. Nun war es zu spät. Er hatte verloren.

Er musste eingeschlafen sein. Denn als er die Augen aufschlug, blickte er auf das geschäftige Treiben der Marktleute, die auf dem Wittenbergplatz ihre Stände aufbauten. Je länger er den Leuten dabei zuguckte, desto stärker spürte er, dass er in Berlin, nur in Berlin und nirgendwo anders leben wollte und konnte. Er war ratlos, er wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. Immerhin wartete eine berufliche Herausforderung auf ihn, die ihm viel Geld bringen würde.

Er saß noch immer auf der Bank, doch seine Uhr zeigte, dass gut 4 Stunden vergangen waren. Nun musste er sich beeilen. Nach wenigen Minuten erreichte er den Bahnhof Zoo zu und fuhr von dort aus ein letztes Mal nach Hause. Dort angekommen packte er so schnell wie möglich zwei Koffer, holte die Post aus dem Briefkasten und las diese im Stehen. Seine Schwester schickte eine Postkarte, sonst fand er eine Rechnung vom Zahnarzt und Werbung vor. Während er die Postkarte las, fiel ihm auf, dass er noch nicht einmal Zeit hatte, einen Nachsendeantrag zu stellen. Ihm wurde bewusst, dass sein Chef ihn regelrecht überfallen hatte. Die Wut stieg in ihm hoch. Die Koffer ließ er stehen, als er wutentbrannt seine Wohnung verließ. Er war flexibel, er war gutmütig, doch er ließ sich von seinem Chef nicht von heute auf morgen aus seiner Stadt vertreiben. Er fuhr zum Bahnhof Zoo zurück. Drückte dort einem überraschten Obdachlosen die Fahrkarte und den Wohnungsschlüssel in die Hand. „Beethovenstraße 16, gute Lage. Sie wohnen 2 Jahre kostenlos. Um halb 8 fährt ihr Zug auf Gleis 7 ab“ rief er ihm noch zu und drängelte sich in die U-Bahn, mit der er zu seiner Arbeitsstelle fuhr. Dort angekommen lief er entgegen seiner Gewohnheit statt mit dem Aufzug zu fahren, die 4 Stockwerke hoch. Seine Füße trugen ihn direkt zum Büro seines Chefs. Überrascht blickte dieser auf, als er ohne zu Klopfen eintrat. „Es ist gleich halb 8, sie verpassen ihren Zug“ brummte der Chef. „Die Fahrkarte hab ich sowieso schon verschenkt, ihren dummen Aktenkoffer können sie auch wieder haben. Ich mache den Job nicht.“ antwortete er und verließ - ohne auf eine Antwort seines Vorgesetzten zu warten - den Raum.

 

Hallo FrozenFire,

Deine Geschichte hat mir wirklich gut gefallen. Ein an sich ungebundener Mann, der die Chance bekommt, Karriere zu machen - aber nicht aus seiner Stadt raus will. In dieser Hinsicht ist er doch gebunden.

Der Schluß war zwar wirklich vorhersehbar, aber trotzdem nicht schlecht. Der sichere Stil hat es geschafft, daß mir das Lesen der Story wirklich Spaß gemacht hat.

Einziger Kritikpunkt: Ich halte es für sehr unwahrscheinlich, daß ein Chef von heut auf morgen jemanden befördern und dann auch noch sofort in eine andere Stadt schicken kann, um einen Auftrag auszuführen, der auch noch zwei Jahre dauert. Das ist meiner Meinung nach dann doch ein wenig zu weit hergeholt, denn jedem muß eine gewisse Zeit zugestanden werden - allein um die Sachen zu packen und zuhause alles zu regeln, was man regeln muß, wenn man für 2 volle Jahre verreist.

Ansonsten aber gefällt mir Deine Geschichte.

Gruß,
stephy

 
Zuletzt bearbeitet:

ja okay, das war so ein Stolperstein, den ich mir in den Weg geräumt habe. Ich hatte keine Lust sämtliche Tage bis zur Abreise zu beschreiben. Hab deshalb auf die Kurzfristigkeit des Auftrags gesetzt. Auf jeden Fall ein Fehler, da geb ich dir Recht.

Hätte auch einfach nen Zeitsprung machen können, aber naja, hinterher kommen einem dann sämtliche Ideen, die vorher gefehlt haben.

 

Ich fand deine Geschichte wirklich fesselnd.
Du hast es geschafft, in wenigen Zeilen das Innerste deiner Hauptfigur freizulegen.
Ich habe seine Leidenschaften, Ängste und Hoffnungen kennengelernt.
Wirklich toll!

 

Ich komme gleich mal zu meinen Kritikpunkten:

Der Typ des Protagonisten wird mir nicht ganz klar. Einerseits hat er offensichtlich einen anspruchsvollen Job, in dem er sogar zu einem Projektleiter befördert werden kann (obgleich das hier wohl eine Stelle ist, die sonst keiner machen will. Andererseits verbringt er seine Freizeit am Ufer der Spree und im Multikulturellen Flair Berlins, benimmt sich also wie ein 17jähriger. Komischer Charakter. Du müsstest genauer beschreiben, wieso er so ist. Das wird mir nicht klar.

Unerwartet wurde er in das Büro seines Chefs gerufen. Mit gemischten Gefühlen betrat er dessen Büro, in dem dieser hinter einem protzigen Schreibtisch thronte.

Zweimal Büro. Einmal vielleicht durch "in dieses" ersetzen. Aber das doppelt sich dann auch. Deshalb statt dieser, den Chef beschreiben, ein Charakteristisches Merkmal hervorheben. Etwa so:
"nerwartet wurde er in das Büro seines Chefs gerufen. Mit gemischten Gefühlen betrat er diesen. Hinter einem protzigen Schreibtisch thronte sein bärtiger Vorgesetzter und begrüßte ihn mit ausdrucksloser Miene.

wo seine Eltern Jahrzehnte lang bis zu ihrem viel zu frühen Tod gelebt hatten.

Sind beide auf einmal gestorben?

Dort angekommen packte er so schnell wie möglich zwei Koffer, holte die Post aus dem Briefkasten und las diese im Stehen.

Früh gegen 6, 7 wohlgmerkt. Also bei uns kommt die Post frühestens um 10. Ob das in Berlin anders ist weiß ich nicht. Du solltest also lieber Post vom Vortag schreiben.

So und das Ende ist Mist. Also nicht, der Inhalt. Der ist ja ok. Sondern wie es geschrieben ist.

„Die Fahrkarte hab ich sowieso schon verschenkt, ihren dummen Aktenkoffer können sie auch wieder haben. Ich mache den Job nicht.“ antwortete er und verließ - ohne auf eine Antwort seines Vorgesetzten zu warten - den Raum.

Das klingt mir ein wenig unspektakulär. Entweder er brüllt den Chef an oder er bewahrt bei seinem Abgang ein gewisses Understatement (siehe den Film Lammbock *ggg*). So klingt das etwas kindisch.

Mir wird auch nicht ganz klar wieso er jetzt den Job nicht angenommen hat. Ist das so ein Scheißjob, den kein anderer machen will? oder hat er einfach nur Angst aus Berlin weg zu gehen?. Wieso trifft er sich an seinem letzten Abend nicht mit seinen Freunden. Will er lieber von Berlin Abschied nehmen, als von ihnen?

Ansonsten habe ich aber auch diese Geschichte gerne gelesen. Du erzeugst irgendwie ne angenehme Atmosphäre.

 

Eine kurze Frage als Antwort auf Vieles: Hast du Angst vor dem Unbekannten? Muss alles erklärt und ausgeführt sein oder denkst du gerne über Unklares nach?

 

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