Die Staatsanwältin
Petra Kern ist außer sich vor Angst. Sie kann sich nur mit Mühe auf den Beinen halten. “Reiß dich zusammen!” ermahnt sie sich. Der Anruf hat ihr den Boden unter den Füßen weggerissen. Sie kann es immer noch nicht glauben. “Bitte, bitte lass es ein schlechter Traum sein” fleht sie innerlich. Aber sie weiß, dass es kein Traum ist. Es ist wirklich passiert. Es ist Realität. Als Staatsanwältin hat Petra Kern schon unzählige Krisensituationen erlebt, in denen es um Mord und Totschlag ging, mit dem Unterschied, dass sie persönlich nicht betroffen war. Jetzt war sie es.
“Frau Kern, Frau Petra Kern?” fragt eine dunkle Männerstimme. “Ja, am Apparat” “ Hier ist jemand für sie”, “Mami, Mami ich habe Angst, der Mann ist böse. Ich will nach Hause.” schrie Annina. “Annina - was ist passiert?” Petra Kern merkte wie sich ihre Kehle beim Sprechen regelrecht zuzog.
Bis zu diesem Telefonat war das ein wirklich schöner Tag. Sie hatte bereits viel geschafft, um etwas früher in den Feierabend zu gehen. Ihre kleine Tochter Annina würde sich riesig freuen , wenn sie früher nach Hause kommt. Als sie den Anruf entgegen nahm, war sie leicht verärgert, weil sie gerade einen so guten Schwung in ihrer Arbeit gefunden hatte.
Im Hintergrund war das Schluchzen von Annina zu hören. ”Was wollen sie von mir. Wenn Sie ihr nur ein Haar krümmen, bringe ich Sie um.” schrie sie ins Telefon. Sie spürte wie Panik Besitz von ihr ergriff. “Wenn Sie genau das machen, was ich Ihnen jetzt sage, wird ihrer Tochter nichts geschehen.” hörte sie die Stimme ruhig aber sehr bestimmt sagen.
“Keine Polizei, sonst stirbt ihre Tochter. Kommen Sie heute um 19:30 Uhr an die Aggertalsperre. Am Südufer ist ein Ruderboot für sie festgemacht, mit dem Sie zum Nordufer übersetzen. In der kleinen Sandbucht, die durch zwei hochgewachsene Birken links und rechts eingerahmt ist, legen Sie an. Gehen Sie ca. 200 Meter in nördlicher Richtung, bis Sie das Blockhaus erreichen. Die nächsten Anweisungen erhalten Sie dort.”
“Ich will mit meiner Tochter sprechen” schrie Kern ins Telefon. Keine Antwort, die Leitung war tot. Gedanken jagen ihr durch den Kopf, wie eine Kugel im Flipperautomat. „Was will dieser Verbrecher von mir? Warum hat er meine Tochter? Was kann ich tun?“ Sie greift zum Telefon um die Polizei zu alarmieren. „Nein, das kann ich nicht riskieren. Er wird Annina töten.“
Nach dreimal Klopfen öffnet sich die Tür ihres Büros und ihre Assistentin steckt den Kopf herein. „ Hallo Frau Staatsanwältin Sie werden in zwanzig Minuten bei Frau Dr. Bubenzer erwartet. Wenn Sie mich dann nicht mehr brauchen, mache ich Feierabend.“ „Ja, geht in Ordnung, Brigitte. Ihnen einen schönen Feierabend.“ Versucht sie so normal, wie es in einer solchen Situation überhaupt möglich ist, zu erwidern.
Um 19:30 Uhr erreicht sie die beschriebene Stelle am Südufer der Aggertalsperre. Weit und breit niemand zu sehen. Der Kahn liegt etwas abseits vom Wanderweg. Nach 10 Minuten, die ihr wie Stunden vorkommen, erreicht sie das Nordufer. Das dichte Waldstück, das hinter dem Strand liegt, durchquert sie im Laufschritt. Ihre Erregung steigt immer mehr. Was erwartet sie dort an der Hütte. Wie geht es Annina? Hätte sie doch besser die Polizei verständigt?
Da, endlich erreicht sie die Blockhütte. Keine Spur von Annina. Auch sonst ist niemand zu sehen. Wo sind diese Anweisungen, die sie hier bekommen soll. Sie läuft um die Hütte herum. Hat sie etwas übersehen?
„Frau Kern, Frau Petra Kern“ da ist sie wieder diese tiefe ruhige Stimme. „Bleiben sie ganz ruhig, es wird ihnen nichts geschehen. Ich bringe Sie ….“ Mehr hört Petra Kern nicht mehr, da sie vor Aufregung das Bewusstsein verliert.
Als sie erwacht liegt sie in einem Bett. Es riecht nach der Art Sterilität, die jedes Krankenhaus ausfüllt. Ihr Blick ist verschwommen. Im Zimmer sind zwei Frauen in weißen Arztkitteln.
„Wo hat man sie gefunden?“ „Wieder bei der Hütte am See, Frau Dr. Bubenzer“ sagte die Oberschwester Brigitte besorgt. „Bereits das 4. Mal seit sie vor einem Jahr bei uns in die Psychiatrie eingeliefert wurde. Und immer wieder leidet sie unter der Wahnvorstellung, dass ihr Kind entführt wird und sie als Staatsanwältin sie retten muss.“ „Als sie zu ihrer Therapiesitzung heute Nachmittag nicht erschienen ist, war mir klar, dass sie wieder zur Hütte am See unterwegs war. Unser Security-Chef hat sie dort aufgegriffen“ „Der Unfalltod ihrer Tochter vor zwei Jahren hat sie völlig aus der Bahn geworfen. Ihre Seele hat diesen Verlust nie verkraftet.“ „ Was ist damals passiert?“ „ Auf der Aggertalsperre kenterte das Ruderboot, mit dem Frau Kern und Annina zur Blockhütte übersetzen wollte. Die Leiche von Annina wurde nie gefunden. Sie konnte nicht Abschied nehmen“
„ Und seitdem ist Frau Kern davon überzeugt, dass sie Staatsanwältin ist, nicht die erfolgreiche Schriftstellerin, die bis vor zwei Jahren mit ihren Kriminalromanen die Bestsellerlisten dominierte.“ schlussfolgerte Schwester Brigitte.