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Die Spinne unterm Dach
Ich habe eine Spinne unterm Dach. Eines Abends, im Licht meiner Schreibtischlampe, habe ich sie bemerkt. Sie lebt gleich unterm Giebel, zwischen einem schrägen und einem vertikalen Balken. Sie ist gross, hat lange, haarige Beine und kleine, funkelnde Augen. Sie hat ein grosses, staubiges Netz. Sie bewegt sich nie, es sei denn, ein Insekt verfängt sich in ihrem Netz, und das passiert sogut wie nie. Immerzu sitzt sie still da und lauert. Ich spiele mit dem Gedanken, sie hinauszuwerfen, lasse sie aber gewähren. Sie tut mir ja nichts. Die Spinne bleibt. Jeden Abend, wenn ich in mein Zimmer hochsteige, sitzt sie am selben Ort. Ich frage mich, ob sie tot ist, entscheide mich aber dagegen, sie anzustupsen, um es zu erfahren. Die Spinne rührt sich nicht. Oft sitze ich da und starre sie an. Ich denke mir, was wohl in ihr vorgehen mag. Eine Spinne besitzt ein so kleines Gehirn, dass darin für mehr als Reiz und Reaktion kein Platz sein kann. Sie ist kaum mehr als ein Rezeptor. Ich verliere das Interesse an der Spinne. Aber sie bleibt. In ihrem Netz sammelt sich Staub an. Die Zeiten ändern sich, es gibt vieles zu tun. Immer seltener sitze ich in meinem Zimmer, und immer seltener beachte ich die Spinne. Eines Abends bemerke ich, dass sie weg ist. Ich wundere mich, wo sie wohl sein mag. Am Abend darauf ist die Spinne wieder da. Noch mehr Zeit vergeht, ich rühre mich und die Spinne rührt sich nicht. Es wird Winter, Schnee fällt, dann wird es Frühling. Eines Tages beschliesse ich, wieder einmal nach der Spinne zu sehen. Die Spinne ist tot. Tausend kleine, grüne Spinnen tummeln sich auf dem verstaubten Netz und dem Vertrockneten Leib ihrer Mutter. Sie wuseln durcheinander und fressen sich durch das dünne Exoskellett der Spinne, dringen in sie ein, durchdringen sie und absorbieren das letzte bisschen Flüssigkeit, das sie in ihren Organen noch finden können. Ich spiele mit dem Gedanken, die kleinen Spinnen hinauszuwerfen, entscheide mich aber dagegen. Jetzt wuseln sie durch meinen Dachstock und bauen grosse Netze, die Staub ansammeln, ihre Körper werden alt und braun und ihre Beine lang und haarig. Sie bewegen sich nicht, nichts an ihnen bewegt sich. Nur wenn man ganz nah rangeht und ganz genau schaut kann man in ihren kleinen, schwarzen Knopfaugen seine eigene Reflexion erahnen.