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Die Spielregeln der Ignoranten
Stephan Dichter war siebenundzwanzig Jahre alt und fuhr für gewöhnlich mit der U-Bahn um die Orte zu erreichen, die seine Anwesenheit erforderten. Da gab es zum Beispiel die Universität, das Büro in der Stumpergasse, wo er neben seinem Studium jobbte, seine Freundin und etliche Einkaufszentren, Kinos und Discotheken.
Auch an diesem Tag fuhr er mit der U-Bahn. Es war schon spät am Abend und die Nacht kündigte sich bereits mit ihren Vorboten an, dunkle Gestalten, die an Straßenecken standen, Augen die plötzlich aufblitzten und einen ansahen, als wäre man selbst einer von ihnen und Gelächter, das von den Wänden widerhallte um zu einem unheilvollen Schwall an Abscheulichkeit anzuwachsen. Landstreicher, Diebe und Prostituierte besetzten die Plätze der Jugendlichen, Arbeiter und Pensionisten, und dementsprechend sah die Zusammensetzung der Fahrgäste in den U-Bahnen aus.
Stephan fuhr in einem Wagon, in dem ein paar ältere Herrschaften saßen, die sich über tagespolitische Themen unterhielten, eine junge Frau, die ein Buch von einem unbekannten Autor las und ein alter Mann mit Hut und einer verschlissen aussehenden, braunen Jacke.
Stephan blickte aus dem Fenster und versuchte so gut wie möglich, alle anderen Menschen zu ignorieren. Das waren die Spielregeln. Jeder für sich und niemand zusammen. So hatte er sein Leben bisher gut gemeistert und man beachte, er war ein guter Sportler, hatte an der Uni gute Noten und eine hübsche Freundin. Ein angehender Jurist mit einer viel versprechenden Karriere und ein anständiger, zukünftiger Bürger einer sauberen Stadt. Kein Problem, solange man die Spielregeln einhielt, man wegsah, wenn Eltern ihre Kinder schlugen und sein Gewissen mit ein paar Euro Spendengelder an die Dritte Welt reinwaschen konnte.
Er fuhr die übliche Strecke, zu der üblichen Zeit und mit den üblichen Gedanken an gar nichts. Doch diese Üblichkeit sollte zerstört werden und zwar von dem Mann, der an der Station Vorgartenstraße in den Wagon einstieg. Auf den ersten Blick sah er nicht ungewöhnlich aus, etwa Mitte vierzig, mit Dreitagebart und der üblichen Arbeiterklassevisage, und er war auch nicht ungewöhnlich, zumindest nicht für ein Geschöpf der Nacht.
Er wartete bis die Türen der U-Bahn geschlossen wurden und machte dann den Anschein, als wolle er sich hinsetzen.
Doch er wollte sich nicht hinsetzen. Er wollte etwas ganz anderes.
Er ging zu der jungen Frau, die vertieft in ihr Buch, den Mann gar nicht bemerkt hatte, bis sich dieser zu ihr herunter beugte und sagte: „Na Hure, was gibt’s?“
Die junge Frau sah kurz auf, senkte ihren Blick aber sofort wieder. Sie tat so, als habe sie ihn nicht gehört, aber natürlich hatte sie das. Jeder hatte die Worte des Mannes gehört.
Er schlug der jungen Frau das Buch zu. „Was is los du Büchernutte, bist du etwa schwerhörig?“
Die Frau sah erschrocken um sich. Nun konnte sie sich nicht mehr hinter ihrem Buch verstecken, er hielt es fest in seiner Hand. Sie beschloss aus dem Fenster zu sehen. Es war ihre letzte Chance die Situation doch noch zu ignorieren.
Da richtete sich der Mann auf und verpasste der jungen Frau eine Ohrfeige. Der Knall war im ganzen Wagon zu hören und kaum dass er ausgehallt war, schrie der Mann: „Ich will dich ficken, du Hure!“
Die Frau hatte leise zu schluchzen begonnen. Sie bemühte sich, nicht laut los zu heulen, um die anderen Fahrgäste nicht auf sich aufmerksam zu machen, die sich bereits sichtlich schwer taten, so zu tun, als wäre nichts. Aber sie waren geübt und schafften es schließlich nichts zu hören und nichts zu sehen.
„Du steigst jetzt mit mir aus, du Strichdrossel und kommst mit mir in den Park. Dort warten schon meine Freunde auf dich, die dich gehörig durchficken werden!“
Sie schrie auf, als sie noch eine Ohrfeige einstecken musste. Jetzt konnte sie sich nicht mehr zurückhalten und weinte laut.
Stephan blickte auf, da der Knall der Ohrfeige ihn für kurze Zeit aus der Fassung gebracht hatte. Nur nicht hinsehen, dachte er sich und sah zu dem alten Mann in der braunen Jacke, der wild gestikulierte. Stephan lächelte ihm zu und gab ihm zu verstehen, dass er seine Gesten nicht verstehe.
Doch er verstand sie, er verstand sie nur zu gut. Der alte Mann wollte sich einmischen, bildete sich ein, dass ihn das alles etwas anging, er traute sich nur nicht alleine. Er wollte Stephan zu Hilfe haben und zusammen sollten sie die junge Frau retten.
„Tut mir leid“, formte Stephan mit seinen Lippen und deutete mit beiden Händen auf seine Ohren. Für einen kurzen Moment funkelte Zorn in den Augen des alten Mannes, dann trat Angst an deren Stelle.
Der Mann, der zuvor eingestiegen war, hatte in der Zwischenzeit die junge Frau an der Hand genommen und schleifte sie über den Fußboden zur Tür. „Zier dich nicht so, du Nutte. Komm schon! Ich werd’s dir zeigen, du Hure! Ficken werde ich dich mit meinen Freunden, in den Arsch werde ich ihn dir stecken und es wird dir gefallen. Denn so was gefällt Huren wie dir!“ Er lachte ein entsetzliches Lachen, das den ganzen U-Bahnwagon ausfüllte.
Bald würden sie in der Station Praterstern einfahren und die beiden würden aussteigen und dann war die Prüfung überstanden. Dann konnte Stephan erzählen, dass er gerne etwas gemacht hätte, dass er die junge Frau gerne gerettet hätte, aber der Mann einfach zu stark war und er die Situation alleine nur noch schlimmer gemacht hätte und er zum Schutz aller, die Situation nicht verschlimmern wollte. Zum Schutz der Schwachen.
Oder er würde einfach gar nichts erzählen und es ein Geheimnis der Nacht werden lassen. Das könnte er tun, das war gut. Wenn sie nur endlich aussteigen würden.
Doch so leicht war es nicht. Der alte Mann mit der braunen Jacke und dem Hut stellte sich plötzlich dazwischen. Niemand konnte ihn verstehen, wie er sich nur selbst in so eine Gefahr bringen konnte, er, als alter und schwacher Mensch. Es gab eben immer Leute, die nicht nachdachten über ihre Taten, denen Konsequenzen einfach egal waren.
„Hör auf, du Fratz!“, versuchte der Alte mit schwacher Stimme zu brüllen und packte den Mann am Arm. Dieser ließ die Frau los, begann über ihn zu lachen, wie er da stand mit seinen achtzig Jahren, gebückt und auf einen Stock gestützt, und stieß den alten Einmischer wuchtig in die andere Ecke des Wagons. Dort blieb der Alte liegen und rührte sich nicht mehr.
Doch die Augen des alten Mannes blieben geöffnet und starrten Stephan an, als der Mann die Frau an den Haaren packte und an der Station Praterstern ausstieg.
Der alte Mann begann mit Stephan zu sprechen und das erzeugte eine Gänsehaut auf seinem Rücken, so klar sprach er die Worte aus. Doch das war unmöglich, der Alte konnte nicht sprechen, er war zumindest bewusstlos, wahrscheinlich sogar tot, getötet durch den harten Aufprall des alten Schädels auf dem U-Bahnboden.
Es waren seine Augen, die wie Steine in den Höhlen lagen, grau und glanzlos, aber trotzdem mit Stephan sprachen: „Du jämmerlich beschissener Angsthase! Du Wurm und Abschaum der Gesellschaft. Ihr haltet euch für so groß, so mächtig, seid aber in Wirklichkeit, außerhalb eurer Büros und Fitnesscenter nichts; ihr könnt euren hochhackigen, salatfressenden Freundinnen alles erzählen, denn erzählen ist leicht. Aber in Wirklichkeit seid ihr nichts!“ Die Augen des alten Mannes weiteten sich etwas. Dann sprachen sie weiter: „Ihr esst Kuchen aus der Schüssel und trinkt Wein statt Saft, nicht so wie wir, die wir im Staub leben und Wasser trinken. Aber eines könnt ihr gut, in einem seid ihr Weltmeister: im Ignorieren, im Zurückziehen in die eigene Wirklichkeit, in eine handgemachte Realität, in der ihr die Könige seid! Doch in Wirklichkeit, in jener, in der Menschen wie ich leben, seid ihr nichts!“
Blut floss über den Boden und unterstrich die Aussage des Alten auf unheimliche Weise.
Stephan Dichter schloss die Augen.
Plötzlich wachte er auf.
Zuhause in seinem Garten war er auf der Hängematte eingeschlafen. Er blickte in den blauen Himmel, sah Vögel über ihm kreisen und atmete erleichtert auf. Schmetterlinge aller Farben flogen um ihn herum und Harfenklänge drangen an sein Ohr. Er richtete sich auf und erblickte hinter dem Swimmingpool sein Haus, seine Villa. Neben ihr stand das Denkmal, das er vor einiger Zeit vom Bürgermeister bekommen hatte. „Ehrenbürger der Stadt Heiligenschein, 2002“, stand auf dem aus Silber gegossenen Schild.
„Bist du etwa schon wach, geliebter Stephan?“, fragte jemand an seinem Fußende besorgt.
„Alles in bester Ordnung“, sagte Stephan zufrieden zu den fünf Jungfrauen, die weiter machten, genüsslich an seinen Zehen zu saugen.