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Die Speisekarte
Ich küsste ihren kleinen Blitz auf dem Handgelenk drei mal, während ich sie durch die Straßen von Wismar führte. Sie ließ es sich gefallen und wendete kühn den Blick in den Himmel, als wäre ich eine männliche Zimmerzofe und sie Katharina die Große. Zügigen Schrittes tippelte Sonja an mir vorbei und zog nun mich hinter ihr her. Das ließ ich nicht auf mir sitzen. Wir drehten uns einige Male um uns selbst und wechselten dabei wild die Führung. Ich habe mal vor einiger Zeit gelesen, dass es sogenannte „Japanische Tanzmäuse“ geben soll, die sich auf Grund einer Missbildung im Innenohr, nur noch in Kreiseln fortbewegen können. So ähnlich müssen wir im Mondlicht auch ausgesehen haben, doch es gab zum Glück keine neugierigen Beobachter, hier am Holzhafen.
Unser holpriger Tanz endete, als Sonja sich fallen ließ und ich sie fangen musste. Die Arme über Kreuz. Ihr Gesäß an meinem Schritt. Jetzt küsste sie mein Handgelenk, auf dem kein Blitz war. Sie hatte sich den Blitz im September stechen lassen. Für mich.
Sie deutete mit dem rechten Zeigefinger auf ihr Dekolleté, kreuzte die Unterarme erneut übereinander und zeigte dann auf mich.
„Ich dich auch.“, antwortete ich.
An der Tür zum Italiener stand ein Mann, der aussah wie ein Italiener. Er hielt uns freundlich die Tür auf.
„Buona sera.”, rief ich ihm zu und wedelte dabei sehr energisch mit zusammengeklappter Handfläche.
“Guten Abend.”, antwortete der italienische Mann in akzentfreiem Hochdeutsch.
Ich zuckte mit den Schultern und führte Sonja an den Tisch, der für uns bereits reserviert war.
Ich nahm ihr die Jacke von den hübschen Schultern. Sie bestellte ein Glas Weißwein, ich ein Weizen.
Eine ältere Frau mit dicken, aufgemalten Augenbrauen saß alleine, zwei Tische neben uns im Restaurant, und vergrub ihre Nase in der Speisekarte. Das Licht in dem kleinen Lokal war eine Mischung aus Braun- und Goldtönen, die einem die Augenlider schwer werden ließen.
Sonja erzählte mir etwas von dem Rezept für das Salatdressing, das sie sich von ihrer Stiefmutter besorgt hatte, und wie ihr Vater inzwischen fast 30 Kilo zugenommen hatte. Mein Kopf war ganz woanders.
Ihre Hände sprachen schnell und ich hatte Probleme ihr zu folgen. Wir verstehen uns im Normalfall blind. Aber dieser Abend war nicht der Normalfall. An diesem besonderen Abend stand nämlich der wunderhübsche Name Sonja Zander auf der Speisekarte des urigen Plaza Nico, die ich in den Händen hielt. Und Sonja wusste noch nichts davon.
Sonja kramte in ihrer Handtasche. Die hatte ich ihr, zu unserem Fünfjährigem geschenkt. Das Leder sieht ein bisschen so aus, als würde rostrotes Herbstlaub darauf kleben.
Der Kellner wusste Bescheid. Sobald ein ganz gewisser Jemand in diesem Lokal, am heutigen Abend, die Fischspezialitäten auf Seite Acht der Speisekarte aufschlagen würde und rein zufällig den Sonja Zander bestellen würde, anstelle des üblichen Dorschfilets oder dem Heilbutt mit Bratkartoffeln, würde der Kellner, mit einem ihm angeübten Selbstverständnis, die Bestellung aufnehmen und aus der Küche den silbernen Servierteller bringen. Auf diesem Teller lag ein kleines weißes Sticktuch und ein Ring. Nicht aus Gold und ohne Diamant. Aus Kirschholz. Mehr nicht.
Nahe der Eingangstür saß eine Familie. Zwei Kinder. Beide plärrten wie Rauchmelder.
Sonja warf endlich einen Blick ins Tagesmenü. Auch ich nahm in üblicher Gewohnheit die Speisekarte des Restaurants in beide Hände und schlug sie auf. Es war keine Angst. Auch kein Unbehagen. Es war allerdings ein seltsames Gefühl in der Magengegend, das mir durch den Leib stieß, als ich die Karte das erste Mal berührte. Fast so als würde man in ein Spinnennetz greifen, in dem jedoch keine Spinne zu sehen war. Neugierig spähte ich über meine Speisekarte hinweg und beobachtete sie. Ihre Augen fanden meine und sie lächelte.
„Was?“, gestikulierte sie.
„Gar nichts“, erwiderte ich.
Ich betrachtete ihren kleinen Blitz. Um ehrlich zu sein, war es auch mein kleiner Blitz. Ich interpretierte ihn schon seit längerer Zeit als das Ja, was ich inbrünstig hoffte, von ihr heute zu bekommen. Obwohl es eigentlich diese Art von Tattoo war, die ein Pärchen tief verbindet, und dennoch bei einer Trennung problemlos weiter getragen werden konnte. Ein Blitz. Wen juckt es schon, dass man einen Blitz auf dem Handgelenk trägt?
Mich juckte es. Es ist ein Insider. Wir sind beide große AC/DC – Fans. Schon immer gewesen. Mein Name ist Lars Struck, und wir würden einen Doppelnamen annehmen, wenn wir heiraten würden. Rein theoretisch natürlich. Und ich persönlich kann Angus Young schon unseren Namen kreischen hören.
Der Kellner kam jetzt allmählich in die Nähe unseres Tisches. Er trug ein weißes Hemd, einen penibel ausrasierten Schnauzer, hatte den üblichen Mittelmeer-Teint und sprach perfektes Deutsch mit den Gästen. Er erkannte mich. Zumindest machte er soetwas wie einen überglücklichen Schmollmund, als er mich mit meiner Angebeteten ausmachte.
„Ich hätte gerne den Sonja Zander.“, quiekte die alte Dame mit den Bob-Ross-Augenbrauen aus der dunklen Ecke des Plaza.
Ich verschluckte mich und hustete heiser.
Das kann doch nicht wahr sein, dachte ich mir zornig und sank ein wenig unter unseren Tisch.
Der Kellnerbursche blieb augenblicklich stehen und blickte unsicher mit seinem dämlichen Schmollmund, zwischen meinem Tisch und dem der Alten hin und her.
Sonja ließ die Karte ein wenig sinken und signalisierte mir fragend, ob ich mich schon entschieden hätte. Ich nickte und biss mir im Mundraum die Wangen blutig.
Wütend (Aber die Ruhe in Person) machte ich dem Kellner klar, dass er auf der Stelle zu uns kommen sollte.
Hatte er etwa auf jede Speisekarte Sonja Zander's Namen hinterlassen? Trottel.
Mit einem Grinsen, das seinen dünnen Schnauzbart weit über die Grübchen spannte, nahm er unsere Bestellung auf. Sonja deutete mit dem Finger auf die Lachssuppe. Er notierte brav.
„Ich denke ich habe wohl heute nur eins im Sinn.“, sagte ich und klappte die Karte zu. „Ich nehme Sonja Zander.“ Er notierte.
Der Kellner wollte gerade gehen, als ich eben noch bemerkte, dass Sonja mich gar nicht angeguckt hatte, als ich meine Bestellung aufgab. Das hieß sie hatte meine Lippen nicht gelesen.
Eilig winkte ich den armen Italiener wieder heran (die Stirnfalten zusammengeknautscht, so als hätte ich noch etwas Essentielles in meiner kleinen Bestellung vergessen).
Ich trat leicht gegen das Tischbein, so dass Sonja erschrocken aufblickte.
„Ich denke ich nehme doch heute nur eines: Sonja Zander.“
Sonja fing an mich spöttisch anzugrinsen und legte das Köpfchen in eine leichte Schräglage. Der Kellner tat erneut so, als würde er notieren und trat dann genervt ab.
Sie duckte sich in ihre Speisekarte hinab und fing an sie ungläubig zu studieren. Jackpott.
Ihre blauen Augen weiteten sich zu Billardkugeln, als sie die richtige Stelle fand. Sie klappte die Hand auf den Mund und sah mich grinsend an.
„Bist du dafür verantwortlich?“, signalisierte sie mir mit gespieltem Zorn. Es gefiel ihr, das merkte ich. Ihre Mundwinkel verrieten es. Nur sie hatte noch nicht ganz herausgefunden, worauf dieser kleine Scherz hinausführen sollte.
Ich grinste schelmisch zu Boden. „Vielleicht.“, sagte ich. „Vielleicht ist es aber auch nur das Tagesgericht des Nico.“
Sie streckte mir die Zunge raus. „Du hast also Hunger auf mich?“ Der Zeigefinger endete in einer Kräuselbewegung in ihrem Haar.
„Ich verhungere.“, erwiderte ich und krallte die Fingerspitzen in die Tischdecke.
„Sonja Zander ist ein Gericht, das man am Besten kalt serviert.“
Ich blickte wieder auf meine Schuhe und lächelte. „Weißt du, dass wir jetzt sechseinhalb Jahre zusammen sind, Sunny.“
„Ich will aber auch Sonja Zander.“, quengelte ein kleiner Junge am Tisch rechts neben uns und riss dabei seiner Frau Mama am Hosenbein herum. Ungläubig riss ich den Kopf herum und starrte den Frechdachs an. Die etwas jüngere Schwester des Jungen stammelte freudig kreischend ein Brabbeln über den Tisch, dass wie „Sonnanander“ klang.
Dieser verdammte Kellner. Jede einzelne Speiskarte trug Sonja's Namen! Aber solange ich Sonja davon abhielt, den Gesprächen der anderen Gäste durch Blicken zu lauschen, konnte ich diesen Fauxpas noch kaschieren.
Sonja sah jetzt auch herüber zu der kleinen Familie. Wahrscheinlich nur weil ich Idiot sie so erschrocken angegafft hatte.
Ich klatschte wild in die Handflächen, um ihre Aufmerksamkeit zurückzugewinnen. Ein sehr irritierter Blick von ihr.
„Willst du einen Zaubertrick sehen?“, fragte ich sie in Gebärdensprache.
„Nein.“, antwortete sie.
„Ok, pass gut auf.“
Drei halbstarke Jungs kamen herein. Sie setzten sich an den Thresen und bestellten drei Bier.
Ich kramte eilig das Feuerzeug aus meinem Parka und hielt es ihr vor die Nase.
„Hier ein ganz normales Feuerzeug, nicht wahr?“
Ich knippste es einige Male an. Sonja rollte mit den Augen und nickte.
Auf der Mitte des Tisches brannte eine Kerze.
„Siehst du die Flamme?“ Ich deutete zur Kerze. Sie nickte.
„Alles klar, du wirst staunen.“
„Ich kenne den Trick schon. Du hast ihn mir schon zehn Mal gezeigt.“
„Das tut nichts zur Sache.“
Dann bließ ich den Docht der Kerze aus, das Feuer erlosch und eine feine Linie aus Rauch, säuselte Richtung Decke. Schnell knippste ich mein Feuerzeug wieder an und hielt es an den Rauchfaden. Das kleine Flämmchen sprang nach unten und landete wieder auf dem Docht der Kerze. Die Kerze brannte wieder.
„Das ist kein Zaubertrick.“, bedeutete sie mir.
„Sonja Zander.“, brüllte einer der Jugendlichen am Thresen und stocherte seinen Finger durch die Speisekarte. Nein wirklich. Er durchbohrte mit seinem Zeigefinger die aufgeschlagene Seite der Speisekarte vor ihm. Seine Kumpanen lachten dämlich.
Also jetzt reichte es mir allmählich. Verstehen sie mich nicht falsch. Ich war keineswegs sauer auf die energischen Bestellungen der umliegenden Gäste hier in diesem kleinen Gastro. Auch nicht darauf, dass der nette Kellner fälschlicherweise auf jeder Karte, den Namen meiner Zukünftigen hinterlassen hatte. Aber ein gewisser, nichtzuerklärender Umstand machte mich auf eine makabere Art und Weise irgendwie eifersüchtig, dass an diesem Abend mehr als ein Herr Struck Appetit auf eine Frau Zander hatte. Auf meine zukünftige Zander-Struck.
„Das ist kein Zaubertrick. Das ist Chemie.“
Als ich wieder zu ihr blickte, konnte ich meinen Augen nicht trauen. Das Bild, das sich mir dort, auf der gegenüberliegenden Seite des kleinen runden, gedeckten Tisches darbot, war so surreal, wie eine Seite aus einem Comicheft für Kinder. Alles passierte sehr schnell. Jegliche Farben blendeten mich furchtbar bunt und grell. Und ich reagierte darauf sehr langsam.
Die alte Frau aus der hinteren Ecke, mit den aufgedrückten, schwarzen Augenbrauen, stand direkt hinter Sonja und blickte mich über ihre Schulter hinweg an. Sie grinste.
Mit dünnen Speichelfäden an den Lippen, schrie sie laut: „Ich will Sonja Zander!“
Dann rammte sie ihren Kiefer in den Hals meiner Zukünftigen und versuchte ein Stück aus ihr herauszubeißen. Sonja kreischte kehlig los. Die falschen Zähne drangen nicht bis unter die Haut, doch die Frau ließ deswegen auch keineswegs locker.
Endlich stand ich auf, um die Frau von meiner Zukünftigen wegzureißen. Doch vorher kam die Gabel.
Die alte Frau ließ ihren Arm durch die Luft über uns sausen und schlug eine Gabel in Sonja's Handrücken. Man hörte am Knacken, dass sie in den Tisch eindrang. Jetzt lief Blut aus dem Maul der alten Frau, über den Hals meiner Frau. Bevor ich mir die Frage stellen konnte, ob es das Blut von Sonja war, riss der falsche Kiefer einen Hautlappen aus dem Hals meiner Frau, der lange rote Fäden hinter sich herzog, wie geschmolzener Käse.
„SONJA ZANDER.“, pfiff die Alte durch die triefroten Zähne und spuckte aus.
Das war der Moment, in dem ich die wahnsinnig-gewordene Frau, mit einem Schlag aufs trübe, rechte Auge ausknockte.
„Hilf mir doch!“, gestikulierte Sonja mittlerweile weniger, als dass sie tonlos krächzte. Ich sah die edenrote Lache sich auf der Tischdecke ausbreiten. Ihre Hand wie eine Insel in der Mitte, mit einer gabelähnlichen Palme. Sie zog wild an ihrem Unterarm, doch sie hing am Tisch fest. Mir wurde schwarz vor Augen. Speiübel. Ich wankte. Mein Gleichgewicht kam wieder zurück.
Dann griff ich selbst nach der Gabel und zog sie mit einem heftigem Ruck aus dem Tisch heraus.
Jedoch nicht aus der Hand. Die Zähne der Silbergabel steckten immer noch in Sonja's Hand. Ich hatte sie mit hochgerissen und Sonja schrie wie am Spieß. Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass sie solche Laute von sich geben könnte. Jetzt leuchteten tausend kleine Lichter vor mir auf und meine Stirn kühlte sich im nächsten Moment auf Gefrierschrankniveau ab. Ich fiel.
Ich spürte nicht wie ich aufkam. Ich sah noch wie der Oberkellner Sonja am Arm nahm und so schnell wie möglich in die Küche führte.
Als ich wieder aufwachte, kämpfte ich mich blindlings auf die Beine. Alle anwesenden Gäste saßen zufrieden im Plaza Nico und schmatzten oder kratzten mit ihrem Geschirr auf den Tellern.
„Sonja!“, brüllte ich laut. Ein kleines Mädchen antwortete meinem Ruf zu meiner Rechten, während ihre Mutter gerade im Begriff war, ihr eine Tischserviette um den Hals zu knoten.
„Sonna! Sonna! Sonna!“, lachte die Kleine laut und schlug Messer und Gabel mit prallen Fäusten auf den Tisch. Ich rannte zur Küche. Die Schwingtür knallte gegen einen jungen Koch der gerade in einem Affenzahn Gemüse würfelte.
„Sonja?“ Mehrere der Hilfsköche drehten sich fragend zu mir um. „Hat hier irgendjemand meine Frau gesehen?“
Einer der südländischen Köche, er war mit Abstand der Dickste, kratzte sich mit seinem Suppenlöffel an der Stirn.
„Hallo, Leute? Die Frau mit der Gabel in der Hand!“
Keine der Köche schien zu verstehen, wovon ich sprach.
„Di cosa sta parlando quest'uomo?”, sagte der Dicke und blickte sich zu den Anderen im Raum um.
“Ach na, klar. Hier spricht natürlich keiner mehr Deutsch.”
Ich rannte wieder hinaus aus der Küche und lief dem netten Oberkellner, mit dem schmalen Oberlippenbart, in die Arme.
“Welche Laus ist ihnen denn über die Leber gelaufen? Herr Struck setzen sie sich bitte. Hier.”
Meine Knie gaben nach und ich seilte mich an dem kräftigen Arm hinunter auf meinen Stuhl. “Haben sie meine Frau gesehen? Ich meine meine Zukünftige. Ist sie im Krankenhaus?”
„Bitte geduldigen sie sich doch wie alle anderen Gäste, Herr Struck. Ihre Frau ist fix und fertig. Warten sie hier einen Augenblick.“
„Meine Frau ist fix und fertig. Ja, wieso ist sie dann nicht in einem Krankenhaus?“
Der Kellner verschwand wieder in der Küche und alles was ich noch hörte, war das eintönige Schmatzen, der Gäste um mich herum. Gabeln die auf Porzellan Schlittschuh liefen. Messer die sich durch Gräten wanden.
„Hat hier Irgendjemand gesehen was mit der Frau passiert ist?“
Das Besteckkonzert verstummte kurz. Es waren bereits mehr Gäste im Raum, als kurz bevor ich abgetreten war. Sie alle starrten mich jetzt aus leeren Augen an.
„Bitte? Hallo, Leute?“
Ein alter Mann mit müden, blassgrünen Augen stand auf und hob die Hände in meine Richtung, als wäre ich ein Wildpferd, dass er zu beruhigen versuchte.
„Es ist alles in Ordnung. Ein Krankenwagen steht draußen. Sie haben die Frau gerade in den Wagen gebracht.“
Ich rannte hinaus. Der Alte hatte Recht. Gottseidank. Vor der Auffahrt des italienischen Etablissements stand ein Krankenwagen mit rotierendem Blaulicht auf dem Dach.
Eine Trage wurde von zwei stiernackigen Sanitätern in den hinteren Wanst des RTW's gehievt.
Usain Bolt hätte nicht schneller zu den Männern sprinten können. Aber ich neige zur Übertreibung.
„Ist sie in Ordnung?“, brüllte ich die armen Beiden zornig an: „Kommt sie durch?“
Dann fragte mich der Stiernacken am hinteren Ende der Trage, ob ich denn der Sohn der Frau sei, oder ein Angehöriger in entfernter Form?
Ohne das Stiernacken Eins und Zwei einschreiten konnten, riss ich die Decke von der Person auf der Trage.
Auf der Pritsche lag eine ältere Frau, Mitte Sechsig, eine Sauerstoffmaske ans Maul geklemmt, schmierig-aufgemalte Augenbrauen.
„Hee! Was soll denn der Unsinn?“, rief Stiernacken Zwei mir empört hinterher, als ich schon längst wieder die Türen zum Plaza aufstieß. (Ich stieß sie wirklich auf. Mit der Schulter.)
Der Italiener, der die Gäste begrüßte, fiel zu Boden.
Ich schrie wie ein Vierzehnjähriger. Meine Stimme überschlug sich: „WO IST MEINE SONJA?“
Zwei Männer packten mich an den Armen. Ich währte mich. Ein Dritter kam dazu. Es waren die beiden Sanitäter und anscheinend auch der Familienvater, der am Tisch rechts von uns gesessen hatte. Sie hielten mich fest.
„Beruhigen sie sich doch endlich.“, rief irgendeine Frau.
Ich wurde auf meinen reservierten Tisch zugeführt. Die Blutlache war verschwunden. Eine strahlendweiße, neue Tischdecke auf der Platte.
Sie drückten mich in meinen Stuhl. Ich hörte Worte wie: „...jetzt loslassen?“, „Nein...“, „er um sich schlägt...“ und „...sicher ist sicher.“
Stiernacken Eins schnippte mit der Pranke vor meinem Gesicht und drückte mir dann das Licht einer kleinen Taschenlampe in den Augapfel.
„...Sie mich hören?“, „...jetzt loslassen...“, „...sie aufhören...“
Der eiserne Griff meines Eskortionsteams lockerte sich von meinen Oberarmen. Ich wehrte mich nicht mehr.
Der Oberkellner schoss aus der saloonartigen Küchentür, ein dampfendes Tablett mit Abdeckung in der Hand. Sicheren Schrittes stapfte er auf meinen Tisch zu.
„Herr Struck. Es ist mir eine riesige Unanehmlichkeit, dass sie so lange warten mussten.“
Er legte das Tablett vor mir ab.
„Wir haben heute ein so ungewöhnlich volles Haus. Ich kann es mir auch nicht erklären. Wie verhext.“
Seine Hand hob die Abdeckung vom Silbertablett.
„Und dabei haben sie doch als Erster bestellt. Ich bin untröstlich. Die Rechnung geht auf's Haus, Struck.“
Auf dem Tablett offenbarte sich mir eine kleine dampfende Schüssel. Gekochte Karotten schwammen an der Oberfläche, sowie zarte Scheiben Porrees und mundgerechte Lachsmedaillons.
„Ich wünsche Guten Appetit.“
Die Sanitäter entfernten sich offenbar beruhigt von mir. Und auch der Familienvater stapfte wieder zu seiner Frau und seinen beiden Quälgeistern.
Die Brühe kochte noch, so heiß wurde sie serviert. Es herrschte muntere Bewegung unter den Ingredienzien im Sud.
„Was ist das?“; fragte ich verwirrt. „Ich habe das nicht bestellt.“
„Doch das haben sie, Struck.“, sagte er.
Eines der Lachsmedaillons drehte sich, wie durch Zauberhand, in der Suppe herum. Ein kleiner Blitz zeigte sich auf der nackten Rückseite des Fischfleisches.
„Was ist das?“, fragte ich wie ein Idiot.
Der Oberkellner macht sich auf den Rückweg in die Küche. Über die Schulter rief er mir zu:
„Tagesgericht. Sonja Zander. Will heute jeder haben. Es gibt viel zu tun.“
Ein Ring ploppte in diesem Moment, aus den Tiefen meiner Suppe, an die Oberfläche meiner Suppe. Ein Ring aus Holz. Kirschholz. Mehr nicht.
Kratzendes Besteck auf Porzellan. Saftiges Schlürfen. Klebriges Schmatzen. Raunende Hmms im Raum.