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Die Sonnenblume
Der Sonnenaufgang nahte. Die Blume neigte ihren langen Hals Richtung Osten, um die ersten Strahlen der Julisonne aufzufangen. ‚Hoffentlich besuchen mich die Bienen heute wieder‘, dachte sie sich. Alles was sie wusste, hatte sie von ihnen gelernt; andere Sonnenblumen kannte sie nicht und die Gespräche mit den Weizenhalmen, in deren Mitte sie wohnte, langweilten sie. Manchmal erzählte sie den Gräsern von ihrer täglichen Ausrichtung nach der Sonne. Es war anstrengend, aber die Blume machte es gerne. Sie genoss nichts mehr als das Gefühl der Wärme auf ihren Blättern und ihrer Blüte. Die Weizenhalme, die den einzigen Sinn des Pflanzenlebens darin sahen, nützlich zu sein, waren erstaunt über die exzentrische Sonnenblume. ‚Sie ist schön, aber nutzlos‘, dachten sie sich; dass die Blume jeden Tag ihren Hals verrenkte, um der Sonne nah zu sein, empfanden sie als reine Zeitverschwendung. Welche andere Pflanze nahm solche Mühen auf sich?
Das stimmte die Sonnenblume nachdenklich; sie war traurig darüber, dass man sie für überflüssig hielt. Sie beschloss, sich nicht mehr nach der Sonne zu richten. Fortan verharrte sie Tag und Nacht in derselben Position, ausgerichtet nach Osten. Die Zeit verging. ‚Wer braucht schon so viel Sonne‘, sagte sich die Blume. ‚Die Mühe ist es nicht wert.‘ Sie gewöhnte sich an das Nichtstun und hörte schließlich auf zu wachsen. ‚Vielleicht ist es besser, wenn ich die Weizenhalme nicht überrage; dann bin ich wenigstens nicht allein‘, redete sie sich ein. Trotzdem erwischte sich die kleine Blume manchmal dabei, wie sie an die Abendsonne dachte. Die Sonnenstrahlen fühlten sich anders an als morgens; wärmer und kraftvoller. ‚Wie es wohl wäre, den Kopf wieder nach Westen zu neigen?‘ Die Sonnenblume beschloss, vernünftig zu sein.
Die Tage zogen ins Land und die Blume wurde immer trauriger. Ihre Blätter, die leuchtend gelb gewesen waren, wirkten mittlerweile fast bräunlich. Die Bienen besuchten sie kaum noch; die wenigen, die kamen, verzogen sich schnell wieder. Manchmal hörte sie, wie die Weizenhalme hinter ihrem Rücken tuschelten. „Sie wirkt alt und verbraucht; ich finde sie überhaupt nicht mehr schön.“
Summ, summ, summ. Das erste Mal seit langer Zeit hörte sie das vertraute Geräusch. Die Biene setzte sich und fragte die Blume: „Warum sind deine Blätter braun?“ Die Blume antwortete: „Ich folge der Sonne nicht mehr. Es ist zu mühselig, sich immerzu zu verrenken.“ Die Biene wunderte sich über die Faulheit der Blume. „Jeden Tag sammle ich Nektar, damit wir den besten Honig herstellen können. Und du hängst hier nur herum?“ Die Blume wiederholte, was die Weizengräser gesagt hatten. „Ich bin nutzlos. Ob ich mich nun nach der Sonne richte oder nicht – es interessiert ohnehin niemanden.“ Die Biene schüttelte den Kopf. „Alberne Blume! Die Gräser sind gewöhnlich und haben keinen Sinn für solche Dinge. Wir Bienen suchen Blumen nach Farbe und Duft aus. Je größer und schöner du wirst, desto mehr von uns wirst du anlocken." Die Biene brach auf. Als die Sonne langsam Richtung Westen wanderte, folgte ihr die Blume.