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Die Sonnenblume
Die Sonnenblume
Für Susi
Damals, als wir noch auf dem Steppenberg, mitten in einer fast ländlichen Familiensiedlung, lebten, musste ich mir noch mit meinem kleinen Bruder ein Zimmer teilen. Ich wohnte mit meiner Familie in einem hübschen weißen Reihenhaus mit einem hübschen grünen Rasen und einem hübschen silbernen Briefkasten vor unserer Tür. Besonders gut kann ich mich noch an das Maisfeld erinnern, das an unseren Gartenzaun grenzte und sich kilometerweit in alle Richtungen zu erstrecken schien.
Vor dem Fenster unseres Zimmers hatte meine Mutter, die schon immer leidenschaftlich gerne Blumen pflanzte, einen Blumenkasten angebracht. Eines von den Dingern, die man im Praktiker recht günstig bekommt und die man einfach an das Fensterbrett hängen muss, damit sie halten. Mein Brüderchen war zwar davon begeistert, ich dagegen hielt es für total kindisch, dass vor das Fenster von unserem Zimmer jetzt Blumen sollten.
„Mama, das sieht sicher total doof aus“, meinte ich zu ihr. Aber irgendwie schien es doch nicht so ganz mein Zimmer zu sein, denn am nächsten Tag kam sie mit etwas Erde und ein paar kleinen Blümchen wieder. Jede Gegenwehr war zwecklos, selbst als ich mich auf meine Menschenrechte berief, wollte sie nicht locker lassen. Nach kurzer Zeit waren die Blumen eingepflanzt, was ich mit gespielt teilnahmsloser Miene wahrnahm.
„Siehst du, Eike. Sieht doch gar nicht total doof aus. Und du könntest mal wieder dein Zimmer aufräumen. Schau dir nur mal diese Unordnung an.“
Danach hab ich sie schnell aus meinem Zimmer vertrieben, irgendeine kleine Ausrede genuschelt und etwas verdrießlich auf den neuen Zimmerschmuck geschaut. ‘Ich werde einfach nie mehr aus dem Fenster schauen’ dachte ich mir und hielt mich auch lange Zeit daran.
Die Blumen goss, wenn es nicht gerade regnete, meistens meine Mutter. Ich hatte auch in den folgenden Wochen kein echtes Interesse an den kleinen Blüten und Blättern. Zudem veranlassten sie meine Mutter dazu, noch öfter in mein Zimmer zu kommen und über die stetige Unordnung zu meckern. Ich meinte immer, dass ich nicht wüsste, wie die ganzen Legosteine auf den Boden gekommen seien und warum sich meine Anziehsachen nicht im Kleiderschrank befanden, konnte ich mir auch nicht erklären.
Und so verwunderte es mich dann schon ein wenig, als sie eines Tages nach unten kam, ich war grade dabei im Fernsehen einen Zeichentrickfilm anzusehen und mich streng ansah.
„Eike, hast du oben was mit deinen Blumen gemacht?“
Ich war erst verblüfft, weil ich nicht wusste, was sie mit „deinen Blumen“ meinen konnte, aber dann folgte ich ihr und sah, was sie meinte. Sie hatte das Fenster geöffnet und sich darüber gelehnt.
„Alle kaputt“, meinte ich ein wenig schadenfroh. Das Grinsen konnte ich mir einfach nicht verkneifen.
„Letzte Woche waren sie doch noch in Ordnung. Werde ich wohl Neue kaufen müssen.“
Ich nahm meinen Schreibtischstuhl und stellte mich drauf, um mir das Schlamassel auch näher anzusehen. Und da entdeckte ich etwas. Etwas sehr, sehr Kleines zwischen all den verdorrten Blüten und zerknitterten Halmen.
„Guck mal, Mama. Da ist ja noch eine Blume.“
Sie warf einen einzelnen fachmännischen Blick auf meine Entdeckung und winkte abwertend mit der Hand.
„Das ist ja nur Unkraut. Werde ich morgen wohl auszupfen müssen.“
Dann ging sie, aber irgendwie konnte ich meinen Blick nicht von dem kleinen Gewächs lassen. Ich wollte nicht, dass es einfach ausgezupft werden soll.
Als meine Mutter am nächsten Tag wiederkam und die neuen Blumen einpflanzen wollte, meinte ich gleich zu ihr, dass ich das gerne machen würde. Immerhin sei es ja mein Zimmer und sobald die Blumen eingepflanzt wären, würden sie unter meine Hoheitsrechte fallen. Meine Mutter schien hocherfreut und gab mir eine kleine Schaufel und drei kleine Blumen, die sie aus dem Pflanzengeschäft hatte, an dem ich immer auf meinem Schulweg vorbei musste. Ich fand sie alle drei recht langweilig und achtete sorgsam darauf, dass die kleine Pflanze, die ich gestern entdeckt hatte, genug Platz in dem Blumentopf abbekam. Besonders auf der rechten Seite musste ich die zwei Blumen sehr eng aneinander einpflanzen. ‘Habt ihr es eben kuschelig’ dachte ich zufrieden. Danach goss ich die Vier noch, allerdings meinen Liebling etwas mehr als die anderen.
Da ich nun das Gießen übernahm, bekam meine Mutter erst recht spät mit, wie schnell die Pflanze wuchs, von der sie behauptet hatte, dass es Unkraut war. Und sie bekam auch erst recht spät mit, wie sie den drei anderen den Platz und die Sonne wegnahm. Denn ihre Blätter wuchsen sehr schnell und richtig weit in die Breite. Schon nach kurzem überschatteten sie die kleinen Blümchen zu den Seiten hin.
Ich war mächtig stolz auf meinen Liebling. Der Stiel und die Blätter waren zwar eintönig grün und schienen ziemlich langweilig. Aber in etwa 50cm Höhe entwickelte sich eine wundervolle Blüte mit knallgelben Blättchen, die wie mit Wasserfarben angemaltes Papier aussahen und sich fast genauso anfühlten. Ich mochte diesen süßlichen, unaufdringlichen Geruch, der von ihnen ausging. Meine Mutter dagegen schien etwas verwundert. Ich war grade beim Hausarbeiten machen und saß an meinem Schreibtisch, von wo ich einen schönen Blick aufs Fenster hatte.
„Was wächst denn da großes in deinem Blumentopf“, fragte sie mich und zeigte mit ihrer Hand auf die Pflanze.
„Schön, nicht wahr?“, meinte ich.
„Ja, aber ich hab dir doch gar keine Sonnenblume gekauft. Wie ist die denn dahin gekommen?“
Erst da wurde mir bewusst, dass ich gar nicht gewusst hatte, was das für eine Pflanze war. Ich musste ganz plötzlich lächeln, weil der Name doch wirklich so unglaublich gut passte.
„Das ist aus dem Unkraut geworden, das du rausreißen wolltest.“
Abwechselnd sah sie mich an und aus dem Fenster. Sie musste es öffnen und wirklich nachsehen, als glaubte sie, es würde sich eventuell um ein Täuschung halten. Sie kam mir vor wie damals mein kleiner Bruder, als er noch gedacht hatte, dass die Dinge im Fernsehen nicht aufgezeichnet sind, sondern sich wirklich grade bewegen. Er hatte auch den Fernseher lange untersuchen müssen, bis er mir glaubte, dass es keine kleinen Menschen in dem Apparat gab, die darin lebten.
„Schön, den Samen wird wohl der Wind oder vielleicht ein Vogel in den Topf getragen haben“, meinte sie schließlich nach näherer Untersuchung. „Na ja, die anderen Blümchen werde ich dann lieber mal rausholen, sonst gehen sie ein.“
Ich hatte nichts dagegen, freute mich sogar darüber. Es war dieses Gefühl, etwas richtig gemacht zu haben, das man immer dann spürt, wenn man vielleicht beim Klavierspielen ein Stück zuende gespielt hat oder eine Klassenarbeit zurückbekommt und nur ganz wenig Fehler hat. Und ich verlor auch in den nächsten Zeit nicht diese Freude an der Blume. Besonders, weil sie noch mal fast einen viertel Meter wuchs. Meine Sonnenblume blühte noch weit bis in den Herbst hinein und so schien auch an den langen Regentagen noch irgendwie die Sonne in mein Zimmer herein.
Marburg, 24.9.2005