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Die silberne Sichel

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04.11.2003
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Die silberne Sichel

Es war einmal ein Kräutersammler, der lebte mit seiner Frau und seiner Tochter in einem Häuschen am Waldrand. Jeden Tag zog er in den Wald, suchte den Boden nach Heilkräutern und Gewürzen ab und erntete sie mit einer silbernen Sichel. Dann trug er sie nach Hause und braute daraus Tinkturen und Essenzen gegen allerlei Leiden, die seine Frau an die Bewohner des Dorfes verkaufte. Als die Tochter des Kräutersammlers heranwuchs, wollte sie mit ihm gehen und von ihm lernen. So kaufte der Vater ihr schließlich eine Sichel, und ihre Mutter nähte ihr ein grünes Kleid. Fortan gingen sie zusammen in den Wald, und das Mädchen lernte, welche Pflanzen hilfreich, welche köstlich und welche giftig waren.

Eines Tages entschied die Mutter, dass für das Mädchen die Zeit gekommen war, zu einer Frau zu werden. Am Abend dieses Tages gingen die beiden tief in den Wald hinein, bis sie an eine Lichtung mit einem Hügel kamen. Sie kletterten darauf, legten sich auf das Moos und schauten nach oben. Dort sah das Mädchen den weiten, mondlosen Himmel, der sich wie ein schwarzes Tuch über die Erde gelegt hatte. Und auf dem Tuch steckten die Sterne, wie Staubkörnchen in unvorstellbarer Zahl. Bei diesem Anblick erschrak das Mädchen und erkannte, dass es so viel Großes und Erhabenes in der Welt gab, während sie doch nur Spitzwegerich und Fingerhut vom Waldboden auflas. Ihre Mutter hielt sie fest an der Hand, schaute zum Himmel und sprach:

„Himmel so groß, Himmel so weit
mach meiner Tochter ein Hochzeitskleid.“

Da begannen die Sterne noch heller zu leuchten. Sie drehten sich im Kreis, bis dem Mädchen ganz schwindelig wurde und sie ein Gesicht am Himmel zu sehen glaubte. Und eine tiefe Stimme sprach:

„So soll es geschehen,
ihr müsst jetzt gehen.“

So machten sie sich auf den Weg zurück nach Hause, bis ihnen ein junger Mann entgegen kam. Obwohl das Sternenlicht weiß auf ihn fiel, bemerkte das Mädchen seine dunkle Hautfarbe, die freundlichen braunen Augen und die langen schwarzen Haare, die er zu einem Zopf zusammen gebunden hatte. Es war der Jäger, der im Wald seiner Arbeit nach ging. Der Jäger lächelte das Mädchen an, geleitete die beiden Frauen nach Hause und machte ihnen Komplimente. Als sie am Ziel waren, nahm er seinen Bogen und schoss einen Apfel vom Baum. Den nahm er und schenkte ihn dem Mädchen. Später fragte sie ihre Mutter, warum der Jäger so freundlich zu ihnen gewesen sei. „Weil er sich in dieser Nacht in dich verliebt hat“, antwortete die Mutter.

Es dauerte nicht lange, da wurde die Hochzeit gefeiert. Das Mädchen trug ein Kleid, das funkelte, als wenn zehntausend Sterne darauf gestickt worden wären. Und als der Hochzeitstag zu Ende ging und die Sterne wieder hoch am Himmel standen, war sie die Frau des Jägers und ging mit ihrem Mann, um im Wald zu wohnen, wo er seine Arbeit tat. Die silberne Sichel, die ihr der Vater geschenkt hatte, nahm sie mit.

Die beiden waren sehr glücklich zusammen, denn sie liebten sich und hatten alles, was sie brauchten. Sie wohnten in einem Holzhaus, und die junge Frau freundete sich mit den Tieren des Waldes an und pflanzte Kräuter in einem Garten. Als aber ein Jahr so vergangen war, wurde der Jäger trübselig und seine Frau spürte, wie immer mehr Glück aus ihm verschwand. Es war so, als würde eine gierige Krankheit seine Seele auffressen. Den Grund dafür erriet sie nicht, und er verriet ihn ihr nicht. In ihrer Not brühte sie ihm jeden Abend einen Tee aus frisch mit der Sichel geernteten Kräutern, aber sie hatte alle Rezepturen verlernt, die der Vater ihr beigebracht hatte. Und so wurde der Jäger nur noch trauriger von ihrem Gebräu. Als sie sich gar nicht mehr zu helfen wusste, ging sie schließlich in den Wald, auf die Lichtung mit dem Hügel, den sie mit ihrer Mutter besucht hatte. Sie legte sich aufs Moos, schaute nach oben, wo immer noch kein Mond am Himmel stand, und sprach:

„Großer Himmel, Himmelsrund,
mache meinen Mann gesund?“

Wieder leuchteten die Sterne und drehten sich zu einem Gesicht, das ihr mit dunkler Stimme antwortete:

„Das wird geschehen,
wenn du in sein Herz kannst sehen.“

So ging die Frau nach Hause und legte sich ins Bett neben ihren Mann. Als sie sich zu ihm umdrehte, fiel der Strahl eines besonders hellen Sterns durch das Schlafzimmerfenster, und plötzlich sah sie, was ihrem Mann fehlte. Sie wusste es so sicher, als hätte sie es direkt in seinen braunen Augen gelesen, so sicher, als sei es mit Buchstaben aus Sternen an die Zimmerwand geschrieben worden: Er wünschte sich ein Kind.

Da weinte sie und wollte in ihr Elternhaus zurück, denn ihr Vater hätte sicher einen Trank gekannt, der Frauen zu Müttern machte. Vielleicht hatte er ihr das Rezept ja sogar erklärt, als sie damals zusammen nach Herbstzeitlosen gesucht hatten. Aber jetzt hatte sie alles vergessen, was er sie gelehrt hatte. Sie stand weinend auf und ließ ihren schlafenden Mann allein im Bett zurück. Dann nahm sie ihre silberne Sichel zur Hand, brach sie auf ihren Knien entzwei und warf die Stücke in ihr Kräuterbeet. „Unnützes Ding. Ich will dich nicht mehr haben“, sprach sie und rannte wieder in den Wald. Auf der Lichtung legte sie sich auf den Hügel und sprach zum Himmel:

„Himmel so schwarz, Himmel so weit,
mach für ein Kindlein mich bereit.“

Und das Sternengesicht antwortete ihr:

„So soll es geschehen,
du musst nun gehen.“

Die Frau ging wieder nach Hause. Je näher sie ihrem Holzhaus kam, desto schwerer wurde ihr der Gang. Und als sie an der Schwelle im Licht der Sterne ihren Bauch betrachtete, war der schon rund und schön geworden. Da wusste sie, dass sie ein Kind bekommen würde.

Am nächsten Morgen brachte sie ihren Mann die gute Nachricht, und der umarmte sie voller Liebe und Glück. Überhaupt schien alles Glück in ihn zurückgekehrt zu sein, und seine Frau freute sich mit ihm. Jeden Abend saßen sie zusammen vor ihrem Haus unter den Sternen, legten die Hände auf den Bauch der Frau und versuchten das Leben zu spüren, das in ihr wohnte. Weil die Kräuter in dem Beet nicht mehr geschnitten wurden, wucherten sie über die zerbrochene Sichel, und die Frau dachte nicht mehr an sie.

Endlich kam das Kind zur Welt. Die Frau, die es geboren hatte, zeigte es stolz ihrem Mann. Aber als der das Kind sah, erschreckte er sich, denn es sah ihm überhaupt nicht ähnlich. Es hatte ein rundes bleiches Gesicht, eine flache Erhebung anstelle einer Nase und wässrig-gelb schimmernde Krater als Augen. Seine ganze Haut war bleich und kalt. Da wurde der Jäger wütend und schrie seine Frau an: „Das ist nicht mein Kind. Du hast mich betrogen.“ Dann nahm er seinen Bogen und schoss seiner Frau einen Pfeil mitten in ihr Herz. Das Kind nahm er der toten Frau aus den Armen, ging mit ihm in den Wald hinein, bis er zu einer Lichtung kam. Dort legte er es auf einen Hügel und ging ohne sich umzuschauen fort.

Da leuchteten die Sterne wieder und riefen das Kind mit dem runden und bleichen Gesicht zu sich. Es stieg zum Himmel auf, und seitdem scheint uns der Mond von dort herab. Einmal im Monat aber verliert er sein rundes Gesicht und wird zu einer silbernen Sichel, um an die Frau zu erinnern, die ihn geboren hat.

 

Hi, Knagorny.

Nette Verarbeitung einer alten Legende um den Sichelmond, vor Allem die eingebauten Ansprechungsreime haben mir gefallen...

und mehr kann ich dazu schon nicht mehr sagen, ausser vielleicht, dass die einzelnen Handlungsabläufe meiner Meinung nach etwas zu Kurz geschildert wurden.

Halbarad

 

Hi Halbarad,
vielen Dank. Du hast recht. Ich muss die Detail noch ein bisschen liebevoller beschreiben.
Gruß
knagorny

 

Tag knagorny!
Deine Geschichte finde ich klasse, ich kannte die Thematik auch nicht (Halbarad ja anscheinend schon). Den Märchenstil hast du gut umgesetzt, es ist meistens genau die richtige Waage zwischen Details und Verallgemeinerung, z.B. hier:

Als seine Tochter heranwuchs, wollte sie mit ihm gehen und von ihm lernen. So kaufte der Vater ihr schließlich eine Sichel, und sie gingen zusammen zur Arbeit.

Als für das Mädchen die Zeit gekommen war, zu einer Frau zu werden, nahm ihre Mutter sie eines abends bei der Hand und ging mit ihr tief in den Wald hinein

Mal abgesehen von ein paar Rechtschreibfehlern (die ich nie bemängeln werde, dafür mache ich selber zuviele...) und dem "Als" als Satzanfang bei beiden Sätzen (Du könntest ja "Doch es kam die Zeit..." oder etwas ähnliches beim zweiten Satz verwenden) ist der Abschnitt echt gut erzählt, ganz typisch märchenhaft und darum finde ich ihn so gut :). Also wenn du da noch mehr Detaisl reinbringen willst, würde ich ganz sparsam damit sein, aber das ist nur meine Meinung.
Ich frage mich zwar immer noch, wer diese tiefe Stimme war, ein Dämon hat sicher kein Interesse an einem Mond... vielleicht die Erde selber, die die Gesamtheit ihrer Schöpfung vollenden will? Denn wer auch immer dem Mädchen das Kind unter das Herz gelegt hat, muss ja mit der Himmelfahrt des Neugeborenen zu tun haben, nicht? Vielleicht könntest du dem Leser am Schluss noch ein bisschen mehr darüber verraten, warum das Kind zum Mond wird.
Ein letzter Kritikpunkt meinerseits ist, dass der Jäger ein Gewehr benutzt :susp:. Du machst zwar keine epochenspezifischen Angaben zu deiner Geschichte (ist ja auch Fantay), aber die Idylle der Natur und Abgeschiedenheit vorher korreliert nicht so gut mit dem Erschiessen des Mädchens am Schluss. Kann er nicht einen Bogen, ein Schwert oder so etwas benutzen?
Fazit: Bis auf die Kleinigkeiten eine gutes Märchen, weiter so!

 
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Hallo Enki,
vielen Dank für den ausführlichen Kommentar. Die Story habe ich mir schon selber ausgedacht. Nun Ja, es gibt da ein Lied aus den 80ern, "Hijo de la Luna", das handelt von einer Zigeunerin, die sich einen Mann wünscht und dem Mond dafür ihr Erstgeborenes verspricht. Am Ende wird sie auch von ihrem Mann umgelegt. Von diesem Songtext habe ich mich mich inspirieren lassen, vor allem, was das Ende angeht. Aber alles sonst ist neu.

Das mit den Beschreibungen von Detail ist ja immer so ein Problem. Einerseits machen sie die Geschichte realistischer (Halbarad hat sicher recht, dass man sich mit mehr szenischen Schilderungen in manche Situationen besser hineinversetzen könnte), andererseits lenken sie vielleicht von der Botschaft ab. Ich hab' die Geschichte überarbeitet und denke, so ist es jetzt ganz ok.

Die Stimme, dachte ich, kommt vom mondlosen Sternenhimmel. Ich habe das in der überarbeiteten Version etwas deutlicher gemacht.

Das mit dem Bogen ist eine hervorragende Idee, die ich gleich übernehme.

Nochmals besten Dank
knagorny

 

Genau von dort kenne ich die Geschichte auch. Allerdings von dem meiner Meinung nach grauenvollen Loona-Remake.

 

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