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Die sieben Wurze
Die Dunkelheit brach bereits herein, als sieben seltsame, kleine Wesen nach Hause kamen. Sie trugen schwer an ihren Werkzeugen, den Pickeln, Schaufeln und Eimern. Ihre tägliche Arbeit verrichteten sie im nahen Bergwerk, wo nach Gold und Edelsteinen gegraben wurde.
„Nun einen Tee, eine Schüssel mit Haferbrei und dann nichts wie ins Bett. Mir fallen schon im Laufen die Augen zu“, murmelte einer der Zwerge müde und im selben Moment stolperte er über eine Baumwurzel, die quer über dem Weg wuchs.
„Mensch Nasenwurz, heb doch deine Füße. Jedes Mal purzelst du hier über die Wurzel“, ermahnte ihn Zahnwurz und zog seinem Bruder an seiner langen Nase.
„Autsch, lass das!“, rief dieser. „Meine Nase ist schon riesig genug. Die muss nicht noch wachsen.“
Vor der Haustür angekommen hielt Ohrenwurz die anderen zurück.
„Moment, Leute“, flüsterte er und legte seine Elefanten große Ohrmuschel an die Eingangstür. „Hier stimmt etwas nicht!“
„Du hast Recht“, stimmte Augenwurz zu. „Schaut nur, heute Morgen habe ich als Letzter das Haus verlassen und wie immer abgeschlossen. Nun seht, das Schloss ist beschädigt. Da ist einer eingebrochen. Sollen wir die Polizei verständigen?“ Mit seinen großen Kulleraugen sah er in die Runde, denn dem wachsamen Augenwurz entging nichts.
Bartwurz fasste sich nachdenklich an seinen langen, grauen Bart.
Noch bevor er antworten konnte, kam ihm Bruder Mundwurz zuvor. „Nein, die Gendarmen brauchen wir nicht“, entschied dieser vorlaut. „Das packen wir allein. Los, gehen wir vorsichtig hinein und schauen nach, wer sich drinnen zu schaffen gemacht hat.“
Haarwurz stellten sich die Haare zu Berge und hoben seine feuerrote Zipfelmütze hoch. „Ob das nicht zu gefährlich ist?“ Bedenklich wiegte er seinen Kopf hin und her.
„Papperlapapp. Du kannst dich ja hinten anstellen, kleiner Feigling“, prahlte Mundwurz und schob sogleich die Tür einen Spalt auf.
In der Diele war nichts zu sehen.
„Macht mal einer die Laterne an!“, befahl Augenwurz, denn die Dunkelheit mochte er grundsätzlich nicht.
Zahnwurz nahm neben dem Eingang eine Petroleumleuchte vom Haken, riss ein Streichholz an und ein kleines Flämmchen flackerte auf.
„Siehst du schon etwas, Augenwurz?“, fragte er gleich darauf seinen Bruder, als die Lampe einen matten Lichtschein in den Raum warf.
„Dreh den Docht ein bisschen höher. So ist es gut.“ Langsam schlichen die sieben Zwerge weiter.
„Halt!“, rief Nasenwurz. „Ich rieche etwas. Ein angenehmer Veilchengeruch.“
„Das kann nur ein Mensch sein. Wir Zwerge duften nicht nach Blumen“, nuschelte Zahnwurz, den die doppelte Anzahl von Zähnen im Mund beim Sprechen sehr behinderte.
„Leute, schaut mal im Speisesaal! Hatten wir nicht wie immer unsere Breischalen mit der köstlichen Hafergrütze gefüllt?“ Nachdenklich kraulte Bartwurz sich am Kinn.
„Du hast Recht“, pflichtete ihm Augenwurz bei. „Das machen wir doch jeden Morgen. Also, was stellen wir fest? Es war oder ist jemand im Haus.“
„Und zwar ein Mensch“, ergänzte Mundwurz, der immer das letzte Wort haben musste.
Auch die Stühle standen nicht wie gewohnt in einer ordentlichen Reihe um den Tisch, denn Ordnung war oberstes Gebot in ihrer Wohngemeinschaft.
„Die Brötchen sollten auch im Brotkasten sein“, stellte Haarwurz Haare raufend fest. „Die werden doch ganz trocken an der Luft.“
Die Trinkbecher mit dem Tee für das Abendbrot standen zum Teil geleert neben den Tellern. Augenwurz bekam immer größere Augen, als er in den Schlafsaal marschierte.
„Alle mal herkommen!“, rief er zurück. „Das müsst ihr euch ansehen. Meine Bettdecke hat eine Kuhle in der Mitte. Da hat einer drauf gelegen.“
Schnell liefen die anderen herbei. Jeder stellte fest, dass auch sein Bett in Unordnung war. Ohrenwurz, der Größte unter ihnen, schlief aus Platzmangel in einer separaten Kammer. Behutsam öffnete er den Vorhang, der als Tür diente, und spähte in den Raum. Erschrocken ließ er den Stoff wieder fallen und drehte sich zu seinen Brüdern um. „Hier, hier liegt jemand in meinem Bett“, stotterte er.
Eilig drängten sich die anderen Zwerge an ihm vorbei und schauten in das Zimmerchen. Tatsächlich lag eine menschliche Gestalt zwischen den dicken Daunendecken. Staunend betrachteten die Sieben das schlafende Mädchen.
„Wer ist das?“, fragte Mundwurz als erster.
„Keine Ahnung“, entgegnete Nasenwurz. Gleich darauf stellte er die entscheidende Frage: „Was machen wir jetzt? Was machen wir mit ihr?“
Keiner der Zwerge wusste eine Antwort. Zahnwurz knirschte nervös mit den Zähnen, Bartwurz kraulte seinen verfilzten Bart. Haarwurz strich sich ständig über seinen Kopf, um seine Haarsträhnen zu bändigen. Nasenwurz pulte verlegen in seinen riesigen Nasenlöchern und Ohrenwurz zog seine Ohrläppchen noch länger. Augenwurz schob erneut den Vorhang bei Seite, um nachzusehen, ob das menschliche Wesen wirklich in diesem Bett lag. Noch nicht einmal Mundwurz brachte etwas hervor, wo er doch immer eine große Klappe hatte.
Plötzlich raschelte es in der Kammer nebenan. Erschrocken fuhren die Zwerge herum und Augenwurz lugte vorsichtig durch einen Spalt im Vorhang. „Sie wird wach“, flüsterte er.
Das Mädchen schlug die Augen auf, erhob sich und strich mit den Händen ihr leuchtend weißes Kleid glatt. Mit ein paar Handgriffen ordnete es seine pechschwarzen Haare und flocht einen dicken Zopf draus.
Als es eine Bewegung hinter dem Stoff wahrnahm, schrie das Mädchen vor Schreck auf. Die sieben Zwerge fassten sich ein Herz, gingen hinein und stellten sich um das Bett herum.
Mundwurz fragte sogleich; „Wer bist du und was willst du hier?“
„Ich …“, begann sie. „Mein Name ist Schneewittchen. Ich habe mich im Wald verirrt und sah von weitem eure Hütte. Sie lud mich förmlich ein, herein zu kommen und hier auszuruhen.“
„So, so, eingeladen hat sie dich“, stellte Augenwurz fest. „Aber meinen scharfen Augen ist nicht entgangen, dass du eingebrochen bist. Das Schloss ist beschädigt. Du bist ganz frech ohne Einladung hier eingedrungen.“
„Seid bitte nicht so streng mit mir“, jammerte Schneewittchen. „Meine Stiefmutter hat mich weggeschickt, weil ich ihr zu schön war. Ganz allein musste ich durch den finsteren Wald gehen und atmete auf, als ich das kleine Haus sah, um ein wenig ruhen zu können.“
„Das entschuldigt immer noch nicht, dass du über unser Abendbrot hergefallen bist.“ Ohrenwurz stellte sich drohend vor ihr auf. Seinen riesigen Ohrmuscheln wackelten nervös.
„Und diese Unordnung in jedem Bett und auf dem Tisch das benutzte Geschirr. Das ist unverzeihlich.“
„Was machen wir jetzt mit ihr?“ Erneut stellte Bartwurz diese Frage in den Raum.
„Als Strafe, würde ich vorschlagen, soll sie uns den Haushalt führen. Kochen, waschen, putzen und die Betten machen. Wenn wir abends von der Arbeit nach Hause kommen, muss es hier blitzblank sein. Kein Stäubchen dulden wir und keine Unordnung. Wenn du das alles befolgst, dann kannst du bleiben.“
Es hörte sich schlimm an für Schneewittchen. Seine feingliedrigen, gepflegten Hände wiesen darauf hin, dass es bis heute keine niederen Arbeiten verrichten musste.
„Bist du einverstanden mit unseren Anweisungen, dann kannst du gleich beginnen, für uns alle neuen Haferbrei zu kochen und Tee aufzusetzen. Morgen früh stehst du beizeiten auf und backst neue Brötchen, damit wir Proviant mit ins Bergwerk nehmen können.“
Schneewittchen nickte nur, stand vom Bett auf und ging mit Haarwurz in die Küche.
Glücklicherweise gelang ihr das Kochen der Hafergrütze gleich beim ersten Versuch. Sie hatte öfters der Köchin im Schloss beim Breikochen zugesehen. Die letzte Zeit hielt sie sich ziemlich häufig in den Gesinderäumen auf, da ihre Stiefmutter sie ständig schikanierte.
Die sieben kleinen Wichte hatten am Tisch Platz genommen. Die junge Frau verteilte ihnen das Essen auf die Teller. Nur für sie selbst war kein Essgeschirr mehr vorhanden. Kurz entschlossen nahm sie die Finger und schleckte den Breitopf aus.
Grinsend verfolgten die Zwerge ihr Tun. Zahnwurz hatte dann doch Mitleid und presste zwischen seinen Zähnen hervor: „Morgen werde ich dir Löffel und Teller schnitzen, damit du wie ein anständiges Wesen essen kannst.“
Nach der Mahlzeit spülte Schneewittchen das Geschirr, während die Zwerge sich von ihrer Arbeit ausruhten.
„Jetzt erzähl doch mal genau, wo du herkommst?“, wollte Ohrenwurz wissen. Auch die anderen stellten ihre Ohren auf und lauschten dem Bericht des Mädchens.
Als es geendet hatte, fasste sich Bartwurz wie immer nachdenklich ans Kinn.
„Also“, begann er schließlich, „also, wenn mich nicht alles täuscht, dann hast du uns eben ein Märchen aufgetischt und zwar das von ‚Schneewittchen und den sieben Zwergen’, vor langer Zeit von den Brüdern Grimm aufgeschrieben. Du musst nicht denken, dass wir hier in der Wildnis ungebildet sind. Doch deine Geschichte passte so genial, dass ich sie dir nicht krumm nehme. Wenn du dich an die getroffenen Abmachungen hältst, tagtäglich für uns sorgst, dann soll es dir an nichts fehlen und du kannst bleiben.“
Schneewittchen strahlte, obwohl sie sicher war, dass sie die Zwerge nicht angelogen hatte. Sie war wirklich aus einem Schloss gekommen, in dem ihre böse Stiefmutter Intrigen gegen sie schmiedete. Das Mädchen hielt es zum Schluss nicht mehr aus und war davon gelaufen. Hoffentlich würde sie ihre Stiefmutter hier nie finden. Nur ein Prinz, so wie in dem Märchen, könnte schon vorbei kommen und sie mit in sein Schloss nehmen.
Vielleicht ist er ja wirklich gekommen, wer weiß?