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Die Sicht der Dinge

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12.02.2004
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Die Sicht der Dinge

Die Sicht der Dinge

"Du, es tut mir wirklich Leid, dass ich jetzt gleich wieder los muss, aber ich verpasse sonst echt meinen Zug. Ich hab mich aber riesig gefreut dich mal wieder zu sehen, man trifft die alten Freunde viel zu selten", sagte Andre und reichte seinem alten Klassenkameraden zur Verabschiedung die Hand.
Nun ging Andre in schnellem Schritt zum Bahnhof und zwängte seinen schweren Rucksack über seine Schultern. Auf der großen Uhr im Eingangsbereich des Bahnhofs schob sich der Zeiger in Richtung 13:15 Uhr, während Andre den Bahnhof betrat. Nun musste er sich wirklich beeilen, wenn er seinen Zug noch kriegen wollte. Am Bahnsteig wartete schon der Zug, in den er etwas zögernd einstieg.
Nachdem er im Großraum seinen reservierten Platz gefunden hatte, begann er zu grübeln. „Merkwürdig, immer wenn man alte Bekannte trifft, mit denen man etliche Sachen zu bereden hätte, hat man nicht die Zeit dazu, oder es fällt einem nie das Richtige ein“, wunderte sich Andre. Derweil hätte er seinem ehemaligen Klassenkameraden eine Menge zu erzählen gehabt, da sie sich doch seit der gemeinsamen Schulzeit ziemlich fremd geworden waren. Das langsame Entfremden von alten Schulkameraden zerstörte auch bei Andre viele alte Freundschaften, was ihn seither stark betrübte.
Der mächtige ICE begann seine Fahrt, wobei er leicht ruckelnd, aber doch kraftvoll sein Tempo steigerte. In Andre stieg ein angenehmes Gefühl auf, das er immer verspürte, wenn er genau wusste, dass jetzt nicht mehr viel schief gehen konnte und wenn, er sowieso nichts dagegen tun könnte. Als er begann die vorbeirauschende Landschaft zu betrachten, steigerte sich dieses Gefühl enorm und vermischte sich mit dem Gedanken, dass er nun bald bei seiner Freundin sein würde.
So eine Fernbeziehung hatte viele Schattenseiten, die Zugfahrten konnten dazu gehören. Dies war besonders der Fall, wenn Andre abends fuhr, wenn die Sonne schon untergegangen war, was die Länge der Fahrt unerträglich werden ließ. Doch diese langweiligen Fahrten waren nichts im Vergleich zu dem Wochenlangen Warten auf die so ersehnten Treffen mit seiner Geliebten. Spätestens bei diesen wurde Andre klar, was für ein wunderbares Wesen Sie war. Sie ertrug die Sehnsucht nach ihm ohne Murren, was für Andre schon genug als Beweis ihrer Liebe zu ihm war.
Als der Zug in den ersten Bahnhof der Fahrtroute einlief, war Andre so tief in diesem Gedanken gefangen, dass er es kaum bemerkte. Erst als sich eine Dame mittleren Alters ihm gegenüber setzte, wurde ihm schlagartig klar, dass er schon einen großen Teil seiner Reise geschafft hatte. „Ist der Zug denn vorhin schon mit der Verspätung losgefahren?“, fragte die Dame etwas hektisch Andre. „Nicht dass ich wüsste, die Verspätung wird sicher mal wieder während der Fahrt zustande gekommen sein, kein Wunder bei den vielen Baustellen, die man nur mit Schritttempo überqueren kann“, antwortete Andre, woraufhin die Dame „ja, es ist wirklich ein Wahnsinn mit den Zugverspätungen hier, ein pünktlicher Zug ist wie ein Lottogewinn“, hinzufügte, wodurch beide anfingen sich anzulächeln. „ Sie fahren wohl öfters Zug?“, fragte sie, was ihr ein druckvolles und schnelles „ja, sehr oft sogar“ von Andre einbrachte. Daraufhin folgte das obligatorische gegenseitige bekannt machen und das für solche Fahrten geradezu typische Austauschen von persönlichen Informationen. Die Langeweile und die Gewissheit den Gegenüber nie wieder im Leben zu sehen, bringt einen dazu auch die sonst am besten behüteten Geheimnisse zu erzählen. Sie erzählte ihm, dass sie in einer Kneipe seiner Heimatstadt als Kellnerin arbeitete und sie ihren Bruder, etwas in der Nähe des Wohnortes von Andres Freundin, besuchte.
Die schlichte, aber ausdrucksstarke Erzählweise dieser Frau gab Andre ein behagliches Gefühl, was durch ihre mütterliche Art noch mehr verstärkt wurde. Nach einer Weile begann sich ein Schweigen auszubreiten, welches immer eintritt, wenn man alle persönlichen Dinge ausgetauscht hat und nicht in der Lage ist einen sachbezogenen Dialog zu beginnen. Dann begann Andre diese Dame, über die er soviel wusste und zugleich ihm doch eine Fremde gegenüber saß, minutenlang zu beobachten.
Wieder begann für Andre das stetige Langweilen, zusammen mit dem Verlangen endlich einer vernünftigen Tätigkeit nachzugehen anstatt hier wertvolle Lebenszeit zu verschwenden. Andre musterte alle Personen im Zugabteil genau, was diese kaum bemerkten und wenn doch, sie schnell in die entgegengesetzte Richtung blickten. Als er wieder einmal dabei bemerkt wurde, begann er stur in das Fenster links neben ihm zu schauen. Als sich die im Fenster widerspiegelnden Personen ansah, bemerkte er, dass sich seine Sicht veränderte.
Er sah plötzlich nicht nur die äußere Hülle der Menschen, er schaute in das Innere hinein. Alle Gefühle, Gedanken und Lebenserfahrungen waren wie kleine Häufchen an den Personen, die er ansah, zu erkennen. Andre richtete seinen Blick vom Fenster wieder direkt auf die Personen, die er eben nur durch das Glas gesehen hatte, weil er dachte, es sei nur eine Spiegelung oder Schmutz an der Scheibe, was er da sah. Dies stellte sich als Irrtum heraus, denn er konnte nun wirklich alle Gefühle, jede Unbehaglichkeit und jedes Ereignis im Leben eines Menschen mit einem einzigen auf ihn gerichteten Blick erkennen. Andre musterte sich selbst, aber er war ganz normal, kein gläserner Mensch, durch den man bis ins Innerste seines Seins schauen konnte. „Es muss also kein allgemeiner Zustand aller anwesenden Leute sein, sondern nur bei mir der Fall sein, da mein Körper sonst genauso durchsichtig für mich sein müsste“, schlussfolgerte Andre zutiefst betroffen von den Ereignissen. Er schaute sich nochmals genau um, als ihm klar wurde, dass es sich bei dem Gesehenen um die Seelen der einzelnen Leute handeln müsse. Wie auf dem Präsentierteller hingen sie da, was dessen ahnungslosen Besitzer gnadenlos offenbarte.
Nun wandte Andre sich der ihm gegenüber sitzenden Dame zu, wobei ihm auffiel, dass sie jedem einzelnen Wort zu ihm, bis ins kleinste Detail, die Wahrheit gesagt hatte. Es war sonst nur noch ein junger Yuppie im Anzug im Abteil, der wie seine eigene abgegriffene Karikatur wirkte. Auch seine Gedanken bestätigten dieses Bild. Sofort verspürte Andre eine innerliche Wut, als er sich vorstellte, dass solche schmierigen Egomanen Leute wie ihn stundenlang herumkommandierten und schikanierten, wobei ihm fast gleichzeitig klar wurde, dass er nun in einer besseren Lage als jemals zuvor war. Nun konnte er genau erkennen, wann seine Kollegen ihm etwas vorheuchelten oder ihm Arbeit wegnahmen, um sich selber für eine Beförderung zu empfehlen. Ja, er könnte diese neue Gabe auch gegen seinen Chef einsetzten und vielleicht würde er durch sie selber einer werden. All diese Gedanken gingen ihm durch den Kopf, als die wunderschöne Sommerlandschaft an ihm vorbeirauschte, die trotz seiner neuen Einblicke die gleiche warme Ausstrahlung wie vorher hatte.
Er würde nun bald am Ende seiner Reise sein. Wieder freute er sich auf das Wiedersehen mit seiner Freundin, auf die Umarmung und die liebevollen Worte, die fallen würden. „Doch wie wird die Beziehung nun mit seiner neuen Begabung funktionieren, wie wird seine Freundin damit klar kommen?“, grübelte Andre, als der Zug langsam in den Bahnhof einlief.
Andre griff seinen Rucksack und ging langsam zum Ausgang, wobei er sich bei der eben kennen gelernten Dame verabschiedete und für das nette Gespräch bedankte. Nun trat er aus dem Zug heraus und lief in das Innerste des Bahnhofs hinein, den Blick nach links und rechts gerichtet, um seine Freundin sofort zu erkennen, wenn sie schon da sein sollte. Zwischendurch nahm er eine Mischung aus Gefühlen und Gedanken wahr, die ihn gleichzeitig verwirrten und neugierig machten, Neugierde, die aber nicht befriedigt werden konnte, da die betreffenden Personen meistens schnell wieder in den Ansammlungen von Menschenmassen verschwunden waren. Jetzt stand er da, wartend auf seine Geliebte, während sich fremde Menschen scharenweise an ihm vorbei schoben. Andre genoss dies stark, weil jeder dieser Leute in ihm ein einzigartiges Gefühl hinterließ, wie ein Abdruck, der von einem Stempel stammt.
Nun sah er seine Freundin schon von weitem kommen, wobei ihm gleich auffiel, dass etwas nicht in Ordnung war. Nach einem „hi schatz, schön dich zu sehen“, drückte sie sich fest an ihn, währenddessen er bemerkte, dass wirklich etwas nicht stimmte. Es war ihre jahrelange Maskerade, die nun endgültig aufflog. Andre drehte sich ohne ein Wort zu sagen um und stieg in den erstbesten Zug, den er finden konnte.

 

Aus dem Korrektur-Center nach Seltsam zurückverschoben.

 

Hi Lithium,

puh, was soll ich sagen? Okay, fangen wir hier an: Die Idee Deiner Geschichte fand ich spitze! Ein Mann entdeckt seine Fähigkeit in Menschen hineinsehen zu können; ihre intimsten Gedanken / Gefühle zu lesen.
Und dann ist er auch noch auf dem Weg, zu seiner jahrelangen ´Wochenendbeziehung´, die er von ganzem Herzen liebt (und sie ihn ja anscheinend auch).
Gut, nun wird zu diesem Zeitpunkt eigentlich schon recht deutlich, worauf Du hinaus willst. Andre wird erkennen, daß seine ´große´ Liebe doch nicht das Wahre war.
Wie gesagt, die Idee gefällt mir gut. Nur das, was eigentlich den ganzen Sinn der story ausmacht, das schiebst Du so nebenher oder handelst es gar in einem einzigen Satz ab.
Du beschreibst zeilenweise das abgebrochene Gespräch mit dem Schulfreund; oder das belanglose Gespräch mit der Dame im mittleren Alter. Das finde ich, hätte bei weitem kürzer gehalten werden können, da es ja mit der eigentlichen Geschichte nichts zu tun hat. (oder täusch ich mich da?)
Das Wesentliche, nämlich die Entdeckung seines ´Talentes` beschreibst Du so gut wie gar nicht.
Hier hätte mir gefallen, wenn Du ein paar Beispiele beschrieben hättest, was in dem Innern der Passagiere (in ihren Gedanken) zu sehen war. Wichtig: Ich meine hier konkrete Beispiele (ein Mann, der seine Frau geschlagen hat / eine andere Person, die den Chef bestohlen hat u.s.w.) Ich denke, es gibt hunderte von Möglichkeiten.
Auch den Schluß handelst Du sehr schnell ab. Hier fehlte mir auch wieder ein konkretes Beispiel für die "jahrelange Maskerade" der Freundin.
Kann aber auch sein, daß nur ich das so sehe; sei bitte nicht sauer.
Ich werde mir mal eine Deiner nächsten stories vornehmen.

Bis dahin schöne Grüße! Salem

 

Halöchen Salem

Ne sauer bin ich nicht, diene kritik ist eigentlich eine der freundlichsten die ich bisher hier gelesen habe. ;)

Das was du äusserst, war eigentlich mehr oder weniger Absicht. Der Schulfreund und die Dame hatten wirklich keinen richtigen Zweck, ausser den Leser zu verwirren. Obwohl sie natürlich gleichzeitig, den lieben, schuldlosen Charakter Andres untermauern.
Mit der "Gabe" Andres verhält sich ähnlich. Erstens habe ich mich da natürlich etwas von "die Verwandlung" leiten lassen, in der die Verwandlung an sich als etwas fast normales ja nicht anzuweifelndes geschildert wird. Zweitens wäre die ganze Geschichte fast in den unrealistischen Fantasybereich gerutscht, wenn ich bei der Beschreibung der Gabe noch weiter ausgeholt hätte.
Aber du hast schon recht, die Idee an sich ruft schon danach, etwas mehr daraus zu machen.

fette grüße

Lithium

 

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