Die seltsame Brücke
Ich erwache und finde mich liegend auf einer Brücke. Die Brücke ist sehr schmal, gerade genug Platz für einen Fußgänger bietet sie. Ich spüre den warmen Asphalt und frage mich sofort nach der Ursache dieser Wärme, denn – es ist zwar Tag – die Sonne ist nicht auszumachen; sie ist nicht auszumachen, weil dichter Nebel dies verhindert. Noch nie habe ich einen derart dichten Nebel erlebt, er raubt mir nach wenigen Metern, wie eine weiße Wand, die Sicht. Ich sehe nur eine Blase, in der ich mich bewege und in der ich nur die Brücke sehe. Am Rand der Blase: undurchdringliches Weiß, ein kühler Äther, der den umgebenden Raum füllt und sich trotzdem nicht fassen lässt, ausweichend, folgend. Ich gehe zur Seite, meine Hände umfassen das eiserne Geländer, Eiseskälte umfassen meine Hände. Ich blicke hinab und sehe weiß, ich blicke in die Ferne, weiß, ich blicke gen Himmel, weiß, und weiß, die Wand sperrt mir die Sicht nach überall – nach vorne, nach hinten, in die Weite. Ich weiß nicht, wie hoch die Brücke ist. Sie kann ein Übergang sein, nur wenige Meter über dem Boden stehend, ein lächerlicher Sprung ins Weiße wäre es. Sie kann zwei Berge miteinander verbinden, viele Kilometer hoch, der Sprung ins Weiße wäre der Tod. Als ich merke, dass ich den Sprung fürchte – ich könnte fallen ohne Ende – wende ich mich ab vom Geländer. Ich könnte fallen ohne Ende. Ich blicke in beide Richtungen, in die die Brücke führt: vor und zurück. Allerdings bin ich mir nicht sicher, welche Richtung vorne und welche Richtung hinten bedeutet. Ich entscheide mich, in jene Richtung zu gehen, die für mich vorne bedeutet. Ich gehe eine lange Zeit vor mich hin. Die Brücke ändert sich überhaupt nicht. Ich auf dem schmalen Asphalt, zu beiden Seiten Geländer, überall der Nebel. Wenn doch nur eine Informationstafel auftauchte! So hätte ich wenigstens eine Idee, wo ich mich befinde oder wohin die Brücke führt oder woher sie führt. Vielleicht könnte ich sogar herausfinden, ob ich mich überhaupt auf dem richtigen Weg befinde, vielleicht sollte ich umkehren, vielleicht ist es richtig zurück statt nach vorne zu gehen. Ich bleibe stehen und sehe zurück. Ich sehe nur wenige Meter weit, dann Nebel. Nein, ich führe meine Wanderung nach vorne fort. Es wird schon richtig sein. Obwohl ich nicht ausschließen kann, dass, wenn ich den Weg zurück gegangen, ich vielleicht auch schon nach wenigen Metern am Ziel, am Ende der Brücke gewesen wäre. Natürlich weiß ich es nicht! Aber es kann durchaus so sein.
Ich stehe an einer Kreuzung. Die Brücke trennt sich in verschiedene Richtungen: nach links, nach vorne, nach rechts. Welche Richtung kann die richtige sein? Natürlich gibt es auch noch den Weg zurück. Ich stehe eine lange Zeit mitten auf der Kreuzung, inmitten der nebelfreien Blase. Ich gehe geradeaus weiter. Wieder gehe ich auf der Brücke, die endlos durch den Nebel führt, ich weiß nicht wohin.
Dort ist ein Schild, aus Holz, befestigt an einer hölzernen Stange, die wiederum am Geländer zu meiner Linken fest angebracht ist. Auf dem Holzschild steht „Sie sind hier“. Darunter klebt ein großer roter Punkt auf dem Schild. Nur das. „Sie sind hier“ und der rote Punkt. Daraus kann ich doch keinerlei Information ziehen. Eine Karte befindet sich nicht auf dem Schild, oder ein Plan der Brücke. Nur „Sie sind hier“ und der Punkt, der rote. Dass ich in diesem Moment hier bin, weiß ich selbst, dazu brauche ich kein Informationsschild. Und im nächsten Moment, wenn ich weitergehe, werde ich nicht mehr hier sein. Das Schild vermutlich schon. Mir kommt eine Idee. Ich ergreife das Schild und reiße es von dessen Stange. Ich lehne mich über das Brückengeländer und starre in die neblige Tiefe, bis die Nebelblasenwand mir die Sicht versperrt. Ich lasse das Schild fallen, „Ich bin hier“ fällt herunter. Ich lausche.
Ich setze meinen Weg fort und frage mich immer wieder, wie ich nur hierher gelangt und wo ich vorher gewesen bin. Immer wieder gehen mir diese Fragen durch den Kopf. Aber ich weiß es nicht. In meiner Erinnerung ist es absolut schwarz.
Moment. Ich erkenne links von mir im Nebel eine Silhouette. Ich stütze mich so gut es geht auf das Geländer und spähe in den Nebel. Dort sehe ich eine Silhouette. Es ist eine Brücke. Allerdings steht diese Brücke etwas höher als jene, auf der ich mich befinde. Ich weiß nicht, ob die andere Brücke ein Teil dieser Brücke ist oder ob eine zweite höher gelegene Brücke durch diesen Nebel führt. Es kann sogar sein, dass nicht nur eine zweite, sondern auch eine dritte, vierte, fünfte Brücke hier durch den Nebel ziehen; eine etwas höher gelegen als die andere. Intuitiv sehe ich ein wenig hinab. Dort erblicke ich einen weiteren Umriss einer Brücke.
Ich beschließe, auf das Geländer zu klettern. Ich will auf die höher gelegene Brücke springen, ich könnte das dortige Geländer erfassen und dann auf diese Brücke klettern. Ich stehe auf dem Geländer, bereit zum Sprung zur anderen, höher gelegenen Brücke.
Ich springe. Die andere Brücke erscheint immer deutlicher vor mir. Ich strecke meine Arme aus, bereit das eisige Geländer zu erfassen. Meine Finger berühren es kurz, ich spüre die Kälte, aber ich kann das Geländer nicht umgreifen, ich falle. Die Brücke bleibt oben zurück. Ich falle auch an der tiefer gelegenen Brücke vorbei. Ich winde mich wie ein Wurm, da ich aber in der Luft keinen genügenden Widerstand besitze, kann ich auch nicht die tiefere Brücke fassen.
Ich kann keine der Brücken fassen und falle in die Tiefe des Nebels. Ich stürze. Ich habe doch den Sprung gefürchtet, wieso bin ich gesprungen? Ich stürze tief und ich stürze lange. Ich kann nicht mehr sagen, ob ich falle oder schwebe im Nebel. Aber: Ich bin hier.