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- 12.01.2008
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Die Seiltänzerin
Die Seiltänzerin
Tänzerin, Bärenkind. Letztes Blatt im Kalender.
Berührt hier und dort leicht die Fäden und schwer ihre Herzen. Sie tanzt leidenschaftlich gern, lässt sich treiben und genießt, was sie umgibt. Sie weiß, was sie tut, verlebt ihre kleine Ewigkeit immer hier oben. Sie mag es, in das Netz zu fallen, löchrig, schlüpfrig und riskant. Verliert sie auch den Halt, so steht sie wieder auf. Wunden hinterlässt es kaum, ihr Lied lässt es verheilen. Gehalten von vielen, geborgen in der Gegenwart. Doch sehnend sich nach mehr als Spiel und mehr als nur dem einen Zwang, die Balance halten zu müssen. So steht sie still, betrachtet stumm, wie die Seile sich winden, unter, über, neben ihr, betrachtet sanft das eine Tau, das ihr vorsichtig entgegen kommt. Ganz langsam, fast wie im Traum, windet es sich um ihren Arm. Diese ungewohnte Berührung lässt sie erzittern, erschaudern vor Verlangen und Angst. Mag es sich auch vorsichtig behutsam um ihren Hals legen, sie sacht streifen und verwöhnen, so beginnt ihr Herz zu rasen.
„Wenn es jetzt zudrückt, wenn es mich erwürgt. Wenn es an mir reißt, mich beinah ertränkt. Es kann mein Schicksal bestimmen. Heute oder morgen.“
Ihr Atem stockt, die Zeit bleibt stehen. Der Strick liebkost ihr blasses Gesicht, berührt ihre wunderschönen Locken. Traurig erinnernd hängen sie hinab.
„Nicht bewegen. Vielleicht ist es gar nicht so bösartig. Nicht bewegen, sonst will es vielleicht weg. Ich will es. Ich will es haben.“
So atmet sie bedacht, berührt es vorsichtig.
„Was ist, wenn es mich nur täuscht? Nicht so ist, wie es jetzt scheint? Mich fallen lässt, ganz ohne Grund? Wenn mich mein Herz nicht mehr selbst heilt?“
Beschützend und wärmend legt es sich um ihren Bauch.
„Das ist doch schön, das ist es doch? Ist es nicht das, was ich wollte?“
Ein Blick zurück, ihr Netz ist fort, nichts vermag sie mehr zu halten, außer diesem einen Band.
„Der schönste Tanz, der schönste Traum, alles steht mir nun bevor. Ich habe Halt, ich spiele, ich tanze nicht allein. Das ist es doch, was ich wollte. Der Strick, ein Galgen? Das Seil, ein Korsett?“
Die Angst zu ersticken ist da. Die Angst zu versagen noch näher.
Dann ein Augenblick der Erkenntnis, ein schwaches Lächeln im Gesicht, ein letztes Aufflattern von Panik, dann spürt sie das Adrenalin in ihren Adern pulsieren. So lässt sie sich fallen, blind, taub und stumm. Sie weiß, wo sie hoffentlich landen wird, doch sie weiß es nicht sicher. Die Dunkelheit verschluckt sie voll und ganz. Sie weiß es nicht.
„Ich weiß es nicht!“
Doch das ist ihr nicht wichtig, weil sie dort nicht allein sein wird, denn sie weiß, dass dort etwas ist, das sie auffängt und beschützt. Das starke Band der Ewigkeit.