Die Seiltänzeirn
De Seiltänzerin
Das Seil spannt sich von hier bis nach drüben. Ich kann sein Ende nicht mehr erkennen, es löst sich im Nebel auf. Ich setze vorsichtig einen Fuss auf das Seil – wird es mich halten oder werde ich in die Tiefe stürzen, mein Körper zerschunden auf dem Asphalt liegend? Ich blicke nach unten: Wie hoch es doch ist! Ich zögere noch, soll ich wirklich gehen? Ein Windstoss weht mich hinaus aufs Seil. Den Weg zurück gibt es nicht mehr und vor mir dieses lange, dünne Seil. Mir wird bewusst, dass ich es gar nicht schaffen kann, unweigerlich werde ich abstürzen, unten aufprallen und nie mehr aufwachen. Niemals.
Doch das Seil steht still, jeglicher Wind ist verschwunden. Es scheint mir, als halte die Welt ihren Atem an. Ich schliesse mich ihr an. Dann, Millionen von Jahren scheinen vergangen, beginne ich zu gehen. Langsam. Noch immer bewegt sich nichts. Nur mein Herzschlag hämmert gegen meine Brust. Bis wohin kann man es hören? Überall, vermeine ich die Antwort in meinem Kopf zu vernehmen. Endlich höre ich etwas anderes, nicht nur mich selber – ich, die sowieso schweigt – ein kleiner Vogel, der sich zwitschernd am Seil vorbei schwingt, er ist zu jung, als dass seine Flügelschläge sicher wären. Seine Federn streifen das Seil, leise vibriert es, ich spüre seine Schwingungen. Ich setze meinen rechten Fuss vor, nun befinde ich mich endgültig im Freien – die sichere Hausmauer zu weit entfernt, ich kann sie nicht mehr erreichen, das Ende des Seils noch unendlich weit weg, die Wanderung dorthin zu lang. Schwindel erfasst mich, die Welt dreht sich. Unwillkürlich breite ich meine Arme aus, ob sie mich auffangen werden, wage ich nicht zu bezweifeln. Schritt für Schritt bewege ich mich – mein Ziel fest vor Augen. Die Welt darum herum verschwimmt und lässt mich alleine zurück mit dem Seil. Der Weg ist zu lang, alleine kann ich es nicht schaffen. Genau in diesem Moment bricht die Wolkendecke auf und ein einzelner Sonnenstrahl fällt auf die Erde. Er streicht kurz mein Gesicht, als sich die Wolkendecke wieder schliesst. Wieder alleine.
Ein plötzlich aufkommender Wind lässt das Seil erzittern und es beginnt, stark zu schaukeln. Ich balanciere, aber lange werde ich mich nicht mehr halten können. Hastig schreite ich nun vorwärts. Immer mehr beschleunigen sich meine Schritte, immer heftiger schaukelt das Seil. Ich werde abstürzen! Ich will schreien, aber meiner trockenen Kehle entringt kein Laut. Erschrocken bleibe ich stehen, glaube abzustürzen. Langsam beruhigt sich das Seil, mit zitternden Beinen halte ich mich mühsam aufrecht. Minutenlang wage ich nicht weiterzugehen.
Irgendwann, mittlerweile singt ein eisiger Wind, das Seil aber bleibt still, glücklicherweise, gehe ich weiter, mein Ziel noch immer anvisierend. Eine seltsame Ruhe überkommt mich und alles ist gut. Schritt für Schritt, nur langsam. Ich friere, der Wind ist kalt. Mein Zittern überträgt sich auf das Seil.
Nur noch wenige Meter. Das Ende des Seils ist in greifbare Nähe gerückt. Ich blicke mich um, will sehen, dass ich es geschafft habe. Während ich mich umdrehe, merke ich, dass ich unweigerlich abstürzen werde. Das Gleichgewicht verlierend stürze ich, das Seil dröhnt wie ein Bogen, den man mit grosser Spannung losgelassen hat. Ich habe längst meine Augen geschlossen, sterbend.
Eine Hand, die mich packt, mich am Fallen hindert. Nein, alleine hätte ich es nie geschafft!