Was ist neu

Die Seiltänzeirn

Mitglied
Beitritt
11.03.2003
Beiträge
384

Die Seiltänzeirn

De Seiltänzerin

Das Seil spannt sich von hier bis nach drüben. Ich kann sein Ende nicht mehr erkennen, es löst sich im Nebel auf. Ich setze vorsichtig einen Fuss auf das Seil – wird es mich halten oder werde ich in die Tiefe stürzen, mein Körper zerschunden auf dem Asphalt liegend? Ich blicke nach unten: Wie hoch es doch ist! Ich zögere noch, soll ich wirklich gehen? Ein Windstoss weht mich hinaus aufs Seil. Den Weg zurück gibt es nicht mehr und vor mir dieses lange, dünne Seil. Mir wird bewusst, dass ich es gar nicht schaffen kann, unweigerlich werde ich abstürzen, unten aufprallen und nie mehr aufwachen. Niemals.
Doch das Seil steht still, jeglicher Wind ist verschwunden. Es scheint mir, als halte die Welt ihren Atem an. Ich schliesse mich ihr an. Dann, Millionen von Jahren scheinen vergangen, beginne ich zu gehen. Langsam. Noch immer bewegt sich nichts. Nur mein Herzschlag hämmert gegen meine Brust. Bis wohin kann man es hören? Überall, vermeine ich die Antwort in meinem Kopf zu vernehmen. Endlich höre ich etwas anderes, nicht nur mich selber – ich, die sowieso schweigt – ein kleiner Vogel, der sich zwitschernd am Seil vorbei schwingt, er ist zu jung, als dass seine Flügelschläge sicher wären. Seine Federn streifen das Seil, leise vibriert es, ich spüre seine Schwingungen. Ich setze meinen rechten Fuss vor, nun befinde ich mich endgültig im Freien – die sichere Hausmauer zu weit entfernt, ich kann sie nicht mehr erreichen, das Ende des Seils noch unendlich weit weg, die Wanderung dorthin zu lang. Schwindel erfasst mich, die Welt dreht sich. Unwillkürlich breite ich meine Arme aus, ob sie mich auffangen werden, wage ich nicht zu bezweifeln. Schritt für Schritt bewege ich mich – mein Ziel fest vor Augen. Die Welt darum herum verschwimmt und lässt mich alleine zurück mit dem Seil. Der Weg ist zu lang, alleine kann ich es nicht schaffen. Genau in diesem Moment bricht die Wolkendecke auf und ein einzelner Sonnenstrahl fällt auf die Erde. Er streicht kurz mein Gesicht, als sich die Wolkendecke wieder schliesst. Wieder alleine.
Ein plötzlich aufkommender Wind lässt das Seil erzittern und es beginnt, stark zu schaukeln. Ich balanciere, aber lange werde ich mich nicht mehr halten können. Hastig schreite ich nun vorwärts. Immer mehr beschleunigen sich meine Schritte, immer heftiger schaukelt das Seil. Ich werde abstürzen! Ich will schreien, aber meiner trockenen Kehle entringt kein Laut. Erschrocken bleibe ich stehen, glaube abzustürzen. Langsam beruhigt sich das Seil, mit zitternden Beinen halte ich mich mühsam aufrecht. Minutenlang wage ich nicht weiterzugehen.
Irgendwann, mittlerweile singt ein eisiger Wind, das Seil aber bleibt still, glücklicherweise, gehe ich weiter, mein Ziel noch immer anvisierend. Eine seltsame Ruhe überkommt mich und alles ist gut. Schritt für Schritt, nur langsam. Ich friere, der Wind ist kalt. Mein Zittern überträgt sich auf das Seil.
Nur noch wenige Meter. Das Ende des Seils ist in greifbare Nähe gerückt. Ich blicke mich um, will sehen, dass ich es geschafft habe. Während ich mich umdrehe, merke ich, dass ich unweigerlich abstürzen werde. Das Gleichgewicht verlierend stürze ich, das Seil dröhnt wie ein Bogen, den man mit grosser Spannung losgelassen hat. Ich habe längst meine Augen geschlossen, sterbend.

Eine Hand, die mich packt, mich am Fallen hindert. Nein, alleine hätte ich es nie geschafft!

 

Hallo Marana,

Eigentlich eine durchaus spannende Idee - jeder kann sich ein Seil vorstellen und sich in die Angst und die Anspannung hinein versetzen, die man auf eben diesem haben würde. Man könnte also jeden quasi mit auf das Seil nehmen.

Irgendwie packt es mich dann aber noch nicht so richtig.

Vielleicht kannst Du Deinen vermeintlichen Gegenspielern, dem Seil und dem Wind etwas mehr Leben einhauchen. Du wiederholst gerade diese beiden Worte sehr häufig - wie wäre es mit Sturm, Böe, Flaute, Windstoß u.ä.?

Lieben Gruß,
Julia

 

Hallo Julia!
Danke für deine Kritik! Hm, Sturm passt meiner Meinung nach nicht so ganz, aber die anderen Worte werde ich versuchen, einzufügen in den Text (wieder einmal mein Problem mit den Wiederholungen :) )

Liebe Grüsse,
Marana

 

Servus Marana!

Eine Seiltänzerin die es alleine nie geschafft hätte?

Die Geschichte ist gut erzählt, ist aufgebaut auf Selbstzweifel. Das Mädchen erlebt Momente der Überwindung, aber auch der Furcht. Sie ist mal ein wenig zu überlegt, dann zu hastig unterwegs. Der kleine Vogel hat es leichter, hat seine Flügel dabei.

Dann ist das Fallen da - weil sie nach rückwärts blicken wollte, anstatt sich nach vorn blickend weiterzubewegen. Und schon war sie auf die helfende Hand angewiesen. Sie hätte es schon schaffen können, nur der Blick nach hinten hat sie aus dem Gleichgewicht gebracht. Fast hatte ich am Schluss das Gefühl der Besitzer jener zupackenden Hand genoss es, dass er notwendig wurde. Dabei hätte die Seiltänzerin selbst eine Hand gehabt sich festzuhalten, am Seil.

Lieben Gruß an dich - Eva

 

Guten Morgen, Eva!
Ich danke Dir für Deine Kritik! Es freut mich, dass Dir meine kleine Geschichte gefallen hat.

Stimmt, der kleine Vogel kann überall hinfliegen. Die Protagonistin eben nicht... Ja, vermutlich genoss er es, vielleicht hatte er auch schon die ganze Zeit über das Gefühl, helfen zu wollen, und konnte am Schluss ihr auch helfen.

Ich wünsche Dir einen schönen Tag!
Manuela

 

Hallo Marana,

der Weg über das Seil ist sicher als Beschreibung eines Stückes Lebensweg gedacht. Es gibt verschiedene Schwierigkeiten, Hoffnungen (Sonnenstrahl) und den Vergleich zum Vogel, der es viel leichter hat. Der Vergleich mit dem Flieger lässt die Protagonistin straucheln, sie sollte lieber auf die Realität achten, sich nicht in unerfüllbaren Möglichkeiten verlieren.
Eine gewisse Lebensphilosophie wird in Ansätzen sichtbar, am Schluß sogar recht deutlich, Du wirfst aber keine weitergehenden Fragen auf.

Nachteilig sind einige Ausdrucksweisen, z.B.:

Asphalt liegend- wird mein Körper … liegen?
Der Windstoß treibt sie hinaus, dann Windstille- trotzdem kann sie nicht zurückkehren.
Doch bis wohin- „Überall“ passt nicht zur Frage. Wo kann man es/ihn hören…
vermeine … vernehmen - die `Ver´- Wiederholung sollte man meiden.
mich selber - selbst - anschließend: sondern auch einen kleinen Vogel … (das Schweigen weglassen).

Die Zweifel der Protagonistin heben sich gut von der heutigen oft erkennbaren Selbstüberschätzung ab.

Tschüß… Woltochinon

 

Hallo Woltochinon!
Danke dir für deine Kritik!
Ausser dem zweiten Punkt bin ich einverstanden. Trotz der Windstille kann sie nicht zurückkehren - am Schluss will sie sich ja umdrehen und fällt dabei - dasselbe würde passieren, hätte sie sich zu Beginn umgedreht, nur wäre da niemand gewesen, der sie hätte auffangen können. Den Rest korrigiere ich.

Liebe Grüsse,
Manuela

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom