Was ist neu

Die Seherin

Mitglied
Beitritt
30.08.2003
Beiträge
66
Zuletzt bearbeitet:

Die Seherin

Es war einer dieser lauen Sommerabende, wie man sie im Juli in England oft hat. Mister Lawrence Alaster schlenderte mit seiner Frau Elisabeth gemütlich durch die Winston Street im Örtchen Broadsbury, wo sie ein paar freie Tage verbrachten, um ihren zweiten Hochzeitstag zu feiern. Zusammen genossen sie ihren letzten Ferientag und plauderten ein wenig über dieses und jenes, über ihre neuen Bekanntschaften aus dem Urlaub, das Poloturnier am Vormittag, welches sie besucht hatten, und so fort.

„..., aber dass von dieser Stadt ein ganz besonderes Flair, eine fast schon mystische Anziehungskraft ausgeht, das kannst du wirklich nicht leugnen, nicht wahr, Liebling?“
Ins grelle Abendlicht blinzelnd, ließ Elisabeth ihren Blick langsam die alte Burgmauer mit den Resten des Palas entlang wandern und wandte sich dann wieder ihrem Gatten zu.

„Wusstest du, dass die eigentliche Burganlage schon im 12. Jahrhundert gebaut wurde? Im Mittelalter war sie sogar ein beliebter Platz für Hexenverbrennungen- kaum zu glauben, oder?“ meinte sie.

Lawrence legte den Arm um seine Frau und schaute stillschweigend über das Panorama, das sich ihm bot: Unten im Tal schlängelte sich das blaue Band des Talach River, glitzernd in der Sonne. An seinen Ufern wuchsen Trauerweiden und einige Birken, ihre langen Äste schaukelten sachte im Wind. Ein paar Schafe blökten und das Geräusch vermischte sich mit dem hübschen Geläut der Kirchglocken, das die Gläubigen zum Abendgebet rief.
Lawrence konnte es sich kaum vorstellen: An diesem friedvollen Ort sollten einmal Menschen hingerichtet worden sein? Einmal mehr schien es, als könne Elisabeth seine Gedanken lesen; schon öfter war es ihm aufgefallen, dass sie eine Art sechsten Sinn für Telepathie und dergleichen zu besitzen schien.

„Die Mutter des Pfarrers“, begann Elisabeth, „Mrs. Duncalm, hat mir heute Nachmittag von der Geschichte ihres Städtchens erzählt; es war sehr interessant. Erst konnte ich es auch nicht glauben, was sie da so alles berichtete, aber dann... Wenn man sich selbst mit den abwegigsten Dingen nur intensiv genug beschäftigt, erwachen sie zu einem Eigenleben. Mir war es plötzlich, als gäbe es da noch eine ungeklärte, geheimnisvolle Begebenheit, die mit diesem Ort unweigerlich verbunden ist und vielleicht sogar über bedeutende Ereignisse der Zukunft entscheiden könnte, und tatsächlich: Als ich sie danach fragte, begann sich Mrs. Duncalm den Geschichten aus ihrer Kindheit zu erinnern...
Unter anderem erwähnte sie eine alte Legende, die sich um diese Burg hier rankt:

Vor knapp sechshundert Jahren, 1442, geschahen hier in Broadsbury einige wirklich seltsame Sachen, die mit der Geburt eines kleinen Mädchens im August begannen. Ihre Eltern waren Bauern, einfache Leute also, die stets an der Grenze zum Hungern standen.
Das Auffällige an Godith, so nannten sie ihre Tochter, waren ihre Augen, von denen eines eisblau und das andere haselnussbraun gewesen sein soll, und ihre frühe Reife. Bereits mit sieben, acht Jahren habe sie schon in die Zukunft schauen können: Wenn Godith Albträume von Unwettern hatte, wurden sie von der ganzen Stadt ernst genommen. Wenn Godith von entlaufenem Vieh träumte, kontrollierten alle Bauern ihre Zäune - und immer war es so, dass irgendwo ein Loch war, durch das die Kühe, Schafe, Ziegen oder was für Tiere auch immer ohne Godiths Träume weggelaufen wären. Bedrückung und Niedergeschlagenheit machte sich unter den Bewohnern von Broadsbury breit, wenn das Mädchen Visionen vom Tod hatte. Spätestens drei, vier Tage später hatte irgendeine Familie einen Toten zu beklagen.
So wuchs Godith eigentlich in zwei Welten auf; dem irdischen wie auch dem überirdischen Universum.
Von einem Tag auf den anderen änderte sich für das Mädchen alles schlagartig: Als sie vierzehn Jahre alt war, kamen Gesandte des Papstes aus Rom in die Stadt gereist. Sie führten lange Gespräche hinter verschlossenen Türen mit dem Urururur-, ach, was weiß ich, mit einem Vorfahren des heutigen Pfarrers auf jeden Fall, und oft seien laute Stimmen zu hören gewesen, die jedoch abrupt wieder verstummt seien, hat mir Mrs. Duncalm erzählt.“

Fröstelnd zog sich Elisabeth ihren Parka fester um die Schultern, als sie an den entrückten Blick der Alten dachte, die so längst Vergangenes wieder zum Leben erweckte. Ganz deutlich hatte Elisabeth die Aura des Mystischen gespürt, die diese Sage, diese Legende umgab, da war sie sich auch im Nachhinein noch sicher.

„Mir ist kalt“, meinte sie zu Lawrence. „Lass uns zurück ins Hotel gehen.“
Lawrence sah seine Frau irritiert an. Schön, die Sonne war zwar gerade hinter der malerischen Bergkette im Westen versunken, aber...kalt war es deswegen noch lange nicht, im Gegenteil, ein bisschen Abkühlung tat nach der Hitze des Tages ganz gut, fand er.
Nein, das Frieren seiner Frau konnte nicht so sehr mit dem Wetter zu tun haben - eher schon mit dieser seltsamen Geschichte, die sie ihm zu erzählen begonnen hatte.
Wieder kam ihm das vertrauliche Gespräch mit seiner Schwiegermutter in den Sinn, das sie einen Tag vor der Heirat geführt hatten:

„Und das du mir ja gut auf mein Mädchen Acht gibst, sie ist nämlich eine Se- , ähm, äh, eine...eine sehr besondere Frau!“, hatte sie sich zu sagen beeilt, „Sie weiß manchmal , nun ja ..., was sich in nächster Zeit ereignen wird; ganz seltsam ist das, sie hat diese Gabe schon seit ihrer Geburt. Ihre Großmutter, der Herr sei ihrer Seele gnädig, ließ damals durchblicken, in unserer Familie hätten die im August geborenen Mädchen immer eine besondere Feinfühligkeit für solche Sachen - aber,“, unterbrach sie sich und ihre Stimme nahm plötzlich einen resoluteren Ton an, „wer will schon wissen, ob das stimmt!“
Das Gespräch lief in eine andere Richtung weiter, und Lawrence beschlich das Gefühl, dass das nur zu sehr nach dem Geschmack seiner Schwiegermutter war.
In den Monaten nach der Heirat hatte er noch oft an diese Worte gedacht...

Im hellerleuchteten Foyer des Hotels war es warm und gemütlich. Lawrence Alaster lehnte sich entspannt in dem bequemen Sessel zurück und nippte an seinem Cognac. Über den Rand des Glases hinweg beobachtete er seine Frau, die ihm gegenüber saß und aufmerksam die kleinen Fische in dem in die Wand eingelassenen Aquarium betrachtete. Jetzt war ihr nichts mehr von dem seltsamen Gefühl während des Erzählens vorhin anzumerken.
Er trank den letzten Schluck aus, stellte das Glas mit einem feinen Klirren auf den Tisch und stand auf.
„Komm, Betty, es geht schon auf elf Uhr zu, ich bin nach dem langen Tag wirklich müde; du sicherlich auch. Was hältst du davon, aufs Zimmer zu gehen?“
Sie riss sich von dem Anblick der Fische los und schenkte Lawrence ein bezauberndes Lächeln.
„Natürlich, Schatz.“
Auch sie erhob sich und zusammen fuhren sie mit dem Aufzug in den dritten Stock.

Auf dem Zimmer ließ sich Elisabeth auf das Sofa fallen und seufzte. „Uff, war das lange heute!“
Lawrence setzte sich neben sie und bemerkte: “Na ja, du warst ja schließlich den ganzen Nachmittag bei der Pfarrersmutter in der Küche gesessen, hast Apfelstrudel gegessen und getratscht. Ich war die ganze Zeit mit unserem Bekannten auf dem Golfplatz!
Aber- sag mal, wolltest du mir nicht noch die Geschichte von dem Mädchen Godith zu Ende erzählen?“ - „Wenn du meinst...,“, begann Elisabeth, rutschte ein Stück tiefer in die Ecke des Sofas und schenkte sich noch etwas Zitronenwasser ein.
Sie nahm einen Schluck, dann stellte sie das Glas zurück auf den Tisch und sah Lawrence mit zur Seite geneigtem Kopf an.
„Wo war ich stehen geblieben? Ah, stimmt, bei den Gesandten des Papstes.
Mrs. Duncalm meinte, sie hätten den Auftrag gehabt, die Gemeinde und auch die umliegende Gegend zur Ketzerei aufzustacheln. Auf jeden Fall hätte der Pfarrer in seinen Predigten angefangen, über Hexen und deren böse Werke zu reden. Er habe den einfachen Leuten Angst gemacht und ihnen eingeredet, Hexen müssten auf jeden Fall sofort vernichtet werden.
Auf dem Kontinent sei die Jagd schon in vollem Gange, und dort sei ja der Papst und der müsse es ja wohl wissen.
Es kam, wie es kommen musste: Die Welle des Hexenwahns rollte über England hinweg und kostete vielen Tausenden - natürlich unschuldigen- Menschen, vor allem aber Frauen, das Leben.
Auch Godith blieb von dem Wahnsinn nicht verschont. Hatten die Einwohner Broadsburys sie bisher wegen ihrer Träume noch geschätzt, wurde sie von da an als Hexe verschrien. Sie flüchtete in den nahegelegenen Wald, aber nach einem Monat habe man sie entdeckt, in die Stadt gezerrt, gefoltert, und, als sie endlich „zugegeben“ hatte, mit dem Teufel im Bunde zu sein, um den Qualen zu entgehen, dort auf dem Scheiterhaufen verbrannt.
Mrs. Duncalm hatte noch etwas sehr Geheimnisvolles erwähnt: Godiths Mutter, die ihre Tochter mit Nahrung versorgt hatte, als sie sich im Wald versteckt hielt, habe auf dem Totenbett unentwegt gemurmelt:
`Das Buch meiner Tochter, die Prophezeiung, ihr werdet sehen..., in vielen Jahren...`
Nach außen hin habe dies laut der Pfarrersmutter jeder als Quatsch, als das Gebrabbel einer alten, sterbenden Frau abgetan, doch im Stillen dachten die Leute aus Broadsbury noch oft daran. Es hieß, Godith habe sehr weit in die Zukunft geschaut und all das Kommende in einem Buch aufgeschrieben- ihre Mutter habe es dann irgendwo versteckt.
Wo, weiß bis heute niemand, obwohl in den letzten Jahrzehnten immer wieder Forscher und Archäologen gekommen waren.“

Mit einem Seufzer schloss Elisabeth die Augen, Sekunden später war sie eingeschlafen.
Lawrence stöhnte - ob er wenigstens das Ende der Geschichte in einem Stück erfahren würde? Allmählich kam er sich wirklich wie in einem Fortsetzungsroman vor.

Er stand leise, um seine Frau nicht zu wecken, auf und räumte die Gläser beiseite. Dann ging auch er schlafen.
Elisabeth hatte einen sehr merkwürdigen Traum:

Ein Mädchen kauerte auf einem Heuhaufen in der Ecke eines Holzschuppens. Es trug ein zerschlissenes Kleid aus grobem Leinen und hielt ein dickes Heft, eine Kladde, auf den Knien.
Sie schrieb eilig Seite um Seite hinein. Zwischendurch machte sie immer mal wieder eine Pause und schien angestrengt die ihr gegenüberliegende Wand anzublicken, ohne sie jedoch überhaupt wahrzunehmen. Von ihrem langen, dunkelbraunen Haar, welches sie zu einem Zopf geflochten trug, fielen ihr einzelne Strähnen ins Gesicht. Mit einer ärgerlichen Bewegung schob sie sie zurück und blätterte, tief in Gedanken versunken, in ihrem Heft.
Plötzlich klopfte es an die Tür. Das Mädchen schrak zusammen, raffte eilends das Kleid zusammen und warf soviel Heu über sich, wie es nur ging und lauschte dann mit pochendem Herzen.
„Ich bin es, deine Mutter! Hab keine Angst!“
Die Frau trat ein und gab ihrer Tochter einen flüchtigen Kuss auf die Wange.
„Gib mir das Buch, schnell, die Leute aus dem Dorf sind schon auf dem Weg hierher!“, stieß sie nervös hervor und umarmte Godith.
„Ich habe die Abkürzung genommen, du weißt schon, durch die Wolfskaule, aber dir bleibt nicht mehr viel Zeit. Komm mit, rasch, ich werde dich an einem anderen Ort verstecken.“
Die Frau versuchte, Godith hochzuziehen, aber ihre Tochter wehrt sie mit einer bestimmten Bewegung ab.
„Nein, Mutter, es nützt nichts. Das Risiko ist zu groß, dass sie uns dann alle beide schnappen. Mich wird man sowieso -...“ Godiths Stimme versagte ihr für einen Moment und sie musste einen Kloß in ihrer Kehle hinunterschlucken.
„Es wird auf jeden Fall besser sein,“, fuhr sie gefasst fort, „du nimmst nur das Buch an dich und läufst zurück ins Dorf, damit niemand Verdacht schöpft. Wenn jemand fragt, erzähle eben die Geschichte von dem Gaukler, der mich eingestellt hat und über alle Berge ist.
Nimm das Buch – hier - und lauf!“
Wortlos streckte Godiths Mutter die Hände nach ihrer Tochter aus. Sie wusste, wie Recht ihr Kind hatte, nur zu Recht hatte sie, aber warum nur?
Schweren Herzens nahmen sie Abschied voneinander.
„Leb wohl, Mutter. Ich werde immer an dich denken.“ – „Godith...“
Durch einen Schleier von Tränen sah Godith, wie ihre Mutter aus der Hütte eilte und der Wald sie verschluckte. Einen Moment lang blieb sie unbeweglich sitzen, den Kopf in die Hände gestützt. Dann riss sie sich zusammen und wartete.

Sie hörte ihre Stimmen, lange bevor sie da waren.
Grölend schlugen sie die Tür ein und schrieen vor Freude über ihren Fund laut auf.
„Da ist das alte Hexenluder!“
„Satansanhängerin!“
„Verbrennt sie auf dem Scheiterhaufen! Die Flammen werden ihr das Böse schon austreiben...“

Godith schloss die Augen und bemerkte nur noch undeutlich, wie sie erst hochgehoben und dann durch die Tür hinausgeschleift wurde.

Dann legte sich gütige Schwärze über sie.

„Neeeiiin!“
Mit einem gellenden Schrei erwachte Elisabeth. Es dauerte einen Moment, ehe ihr bewusst wurde, wo sie sich befand.
„Liebling, was ist denn los??“, murmelte Lawrence schlaftrunken.
“Du schreist ja, als sei sonst wer hinter dir her! Komm schon, es war doch nur ein Alptraum, schlaf weiter...“
Längst wieder eingeschlafen, drehte er sich auf die andere Seite.
Elisabeth lag noch lange wach und grübelte. Das eben Erlebte kam ihr absolut nicht wie ein normaler Alptraum vor, ganz und gar nicht.
Es schien sich da eher um eine Art Vision gehandelt zu haben, wie sie sie schon öfter gehabt hatte.
Aber bisher hatte sie immer nur von kommenden Dingen „geträumt“; die Handlung gerade hatte aber eindeutig in längst vergangenen Zeiten gespielt. Die Kleidung sah genauso aus wie in den Geschichtsbüchern über das Mittelalter...
Konnte es am Ende sein, dass Seherinnen nicht nur in die Zukunft, sondern auch in die Vergangenheit schauen konnten??
Mit diesem seltsamen Gedanken fiel Elisabeth in einen leichten, unruhigen Schlaf.

An nächsten Morgen hatte sie die Augen aufgeschlagen und einen einzigen Gedanken im Sinn gehabt: Ich muss das Buch finden! Godiths Mutter hat es damals in der Nähe der Burg verborgen!
Später, beim Frühstück, hatte sie ihr Vorhaben dann noch einmal bedacht. Lächerlich - warum sollte ausgerechnet sie das Buch mit den alten Prophezeiungen finden? Dutzende von Forschern hatten ihr Glück schließlich schon versucht und waren doch mit leeren Händen wieder von dannen gezogen.
Nein, sie würde den Tag wohl sinnvoller bei einem Bummel durch die malerische Altstadt von Broadsbury mit ihren kleinen Geschäften und strahlenden Fachwerkhäusern nutzen.
Doch irgendetwas zog sie magisch in Richtung Burg.
Dieses Buch war hier irgendwo, sie wusste es, wusste es einfach!
Elisabeth begann ihre Suche an der Außenseite der Burgmauer, denn sie hatte sich überlegt, dass Godiths Mutter wohl kaum in das Innere der Burg gelangen konnte. Deshalb hatte sie wohl ein Versteck außerhalb, aber doch in unmittelbarer Nähe gewählt.
Stein für Stein, Nische für Nische tastete Elisabeth ab. Bald schien es ihr, als bestünde die ganze Welt aus bräunlich-roten Steinen, in deren Fugen es Spinnennetze, leere Coladosen und sonstigen Müll gab.
Erschöpft machte sie nach zwei Stunden erfolglosen Suchens eine Pause und setzte sich auf die Erde, mit dem Rücken an die kühle Mauer gelehnt. Für einen Moment schloss sie die Augen und versuchte, sich in die Lage von Godiths Mutter hineinzuversetzen. In Panik und in Angst sowohl um ihr eigenes als auch um das Leben ihrer Tochter war sie aus dem Wald gerannt. Elisabeth hob ein Augenlid und schielte zum Waldrand hinüber. Dort, neben dem Hochsitz, da musste sie in etwa hinausgekommen sein. Vermutlich war sie dann quer über die Wiese den kleinen Hügel hoch gelaufen, hatte sich durch die Menschenmenge aus Bettlern, Soldaten, Marktfrauen, Händlern und Reisenden gedrängt und war dann weiter geeilt, in Richtung...

Tja, da verließen Elisabeth die Geister und sie seufzte auf. Noch eine Stunde, schwor sie sich, suchst du nach diesem Buch, dann gehst du in ein gemütliches Eiscafé, bestellst dir einen Früchtebecher,...

Na schön, noch eine Stunde.
Zögerlich stand sie auf und schaute sich noch einmal gründlich um. Eigentlich hatte sie längst alles abgesucht - sollte sie ihr Gespür etwa im Stich gelassen haben?
Vielleicht würde es sie weiterbringen, wenn sie den Weg von Godiths Mutter selber lief, überlegte Elisabeth.
Vom Waldrand aus schlug sie die Richtung hoch zum Burggelände ein. Aufmerksam hielt sie dabei Ausschau nach eventuellen Verstecken.
Ein paar Linden, Sträucher und ein alter Brunnen, den wohl seit Ewigkeiten niemand mehr benutzte, waren das Einzige, was auf der Wiese stand.
Neugierig lief sie zum Brunnen und stutzte. Er war aus den gleichen Steinen gemauert wie auch die Burg, aber er wies wesentlich mehr Ritzen und Fugen auf als die Mauer. Möglicherweise hatte Godiths Mutter das gleiche gedacht wie sie gerade, schoss es Elisabeth durch den Kopf!
Mit den Fingerspitzen fuhr sie über die Unebenheiten des Brunnens, probierte an allen Steinen, ob sie vielleicht lose saßen und schaute unter den Farnblättern, die dort hinabhingen, besonders gründlich nach.
Der Schacht machte einen ziemlich tiefen Eindruck. Als sie einen kleinen Stein fallen ließ, platschte es weit unten leise auf. Elisabeth beugte sich über den Rand und spähte hinunter, ob sie nicht doch den Grund erkennen könnte. Plötzlich fesselte eine Eidechse an der Schachtwand ihre Aufmerksamkeit: Eben noch war das Tierchen dort entlang gehuscht- dann war es mir nichts, dir nichts einfach wie vom Erdboden verschluckt gewesen. Seltsam...
Elisabeth ging um den Brunnen herum, bis zu der Stelle, an der sie die Eidechse zuletzt gesehen hatte. Was war denn das? Ein Loch in der Brunnenwand! Aufgeregt tastete sie mit der Hand hinein. Sie fühlte etwas Hartes, Kantiges, das in irgendetwas eingewickelt zu sein schien.
Behutsam zog sie es hervor: Ein altes Buch, in Leder eingeschlagen!

„Man nennt mich Godith, Tochter der Sarah und des George.
Man schreibt heuer das Jahre des Herrn Vierzehnhundert-siebenundfünfzig. Ich zeichne dieses hier in großer Not auf und hoffe, es werden mir die Fehler der Eile verziehen, wenn ich etwas unklar ausdrücke.
Ich weiß, sie werden kommen und mich holen. Sie werden mich erst foltern, das Geständnis zum hexerischen Treiben von mir erzwingen und mich dann den Flammen zum Fraße hinwerfen. In weniger denn zwei, drei Tagen wird mein Ende sein.
Vorher jedoch ist es mein Werk, die Visionen, die ich hatte, für die Menschheit in vielen hundert Jahren niederzuschreiben. Denn sie werden es sein, die gestraft werden sollen für ihr schänderisches Tun gegen ihre Mutter und ihre Auflehnung gegen ihre Gaben.
Sie wird sich furchtbar rächen und ihre Himmelsgeister aussenden zu strafen die Menschheit. Der Himmel wird brennen in allen Farben und sausen wird’s den Unglücklichen in den Ohren, wenn die Geister durch die Lüfte fahren. Dann wird sich die Große Dunkelheit und mit ihr das Große Schweigen über diese Welt legen. Viele Stunden wird dieser Zustand anhalten und Angst und Schrecken werden sich in die Häuser stehlen.
Doch dies soll nur die Warnung sein. Nach dem Langen Dunkel wird die Sonne aufgehen wie jeden Morgen und die Mutter wird in der Sonne Lichte schauen, wie die Menschen mit ihrem Zorn umgehen. Werden sie sich nicht gebessert haben, wird ein Feuerball auf die Erde niedergehen und auslöschen, was nicht zu retten war...“

Verwirrt klappte Elisabeth das Buch zu. Was schrieb Godith da? Dass es sich bei ihrem Fund um Godiths Prophezeiung handelte, da war sie sich absolut sicher. Nur wurde sie nicht schlau aus den Worten.
Godith hatte noch einige Seiten hinzugefügt, aber diese waren von der Feuchtigkeit im Brunnen leider völlig unleserlich geworden.
Anscheinend sollte eine Katastrophe die Erde heimsuchen, die verheerende Wirkung haben sollte. Aber was schrieb Godith da von einer Mutter, die ihre Himmelsgeister aussenden würde?
Aliens etwa? Als Himmelsgeister könnte man sie schon mit einem bisschen Phantasie bezeichnen, vor allem, wenn man wie Godith im 15. Jahrhundert lebte. Schon Tausende von Menschen vor ihr hatten den Weltuntergang, die Apokalypse, Außerirdischenangriffe und dergleichen vorhergesagt, aber so realistisch und...- Elisabeth wusste nicht, wie sie das Gefühl beschreiben sollte, das sie beim Lesen dieser Prophezeiung befallen hatte. Tief in sich spürte sie, dass Godith Recht hatte mit ihrer Vision und dass sie sich nur allzu bald erfüllen würde.
Es war genau wie am Morgen, als sie mit dem festen Entschluss, das Buch zu finden, gewusst hatte, wo sie zu suchen hatte.
Intuition? Verborgenes Wissen, zu dem nicht ihr Gehirn, sondern nur ihr Gefühl Zugang hatte? Eine Art déjà-vu? Sie wusste es nicht genau.

Aber - wenn Godith Recht hatte, dann bedeutete das Gefahr für die Menschen! An Leben auf einem anderen Stern glaubte Elisabeth nicht; Umweltkatastrophen waren da schon eher zu vermuten. Sollte vielleicht eine riesige Flutwelle kommen? Ein Vulkanausbruch?
Sie beschloss, am nächsten Tag mit Lawrence darüber zu reden. Sollte sie mit dem Buch an die Öffentlichkeit gehen, oder blamierte sie sich dann nur?
Auf keinen Fall wollte sie zu den Kirmeswahrsagerinnen mit ihren Glaskugeln gezählt werden!


Montagmorgen, vier Uhr. So schön der letzte Ferientag auch gewesen war, der Start in den Alltag war einfach nur stressig. Lawrence zog sich sein Jackett über und gab seiner Frau einen Abschiedskuss.

„Ciao, Darling, ich muss los. In einer Stunde fahren wir das Teleskop raus, da muss ich unbedingt dabei sein. Und du weißt ja, wie oft es sich morgens auf der Main staut!“

Mit diesen Worten war er aus dem Haus. Lawrence arbeitete als angesehener Astronom in einem bekannten großen Observatorium. Tag für Tag war er lange vor Sonnenaufgang auf den Beinen - Elisabeth nebenbei bemerkt deswegen auch, obwohl sie eigentlich leidenschaftliche Langschläferin war-, um Veränderungen der Sterne und ganz besonders der Sonne aufzuzeichnen und zu erforschen. Die Sonne stand im Mittelpunkt der gesamten Forschungsarbeit.

Elisabeth stand vom Küchentisch auf, räumte ihn ab und erledigte die üblichen Hausarbeiten, die nach der Rückkehr aus einem Urlaub nötig waren.
Leider hatte sich gestern keine Gelegenheit geboten, Lawrence auf das Buch anzusprechen. Sie hatten einen wunderschönen Tag am Strand verbracht, mit weiten Spaziergängen, Wasserschlachten und Sonnenbaden. Irgendwie hatte sie es nicht über sich gebracht, die Harmonie dieses Tages durch ein Thema wie eine Umweltkatastrophe zu trüben.
Heute hingegen verspürte sie Gewissensbisse, da sie die Einzige war, die durch ihre seherischen Fähigkeiten die herannahende Gefahr spürte.
Sie musste noch heute Morgen mit Lawrence darüber reden und ihn um Rat fragen, beschloss Elisabeth.
Nachdem sie die Katze gefüttert, gesaugt und den Abwasch gemacht hatte, stieg sie ins Auto und fuhr direkt zum Observatorium.

„Ah, guten Morgen, Mrs. Alaster! Lange nicht mehr gesehen!“, begrüßte sie ein Arbeitskollege von Lawrence, mit dem sie gut bekannt waren.
„Ihr Göttergatte, falls sie den suchen, der kann im Moment leider nicht! Muss Sonnenflecken aufzeichnen!“
„Danke, ich werde mich in die Cafeteria setzen und dort auf ihn warten!“, erwiderte Elisabeth gut gelaunt und begab sich auf den Weg dorthin.
Sonnenflecken sind Magnetfelder, die durch Explosionen im Inneren der Sonne hervorgerufen werden und die man als schwarze, unregelmäßig geformte Flecken auf der Sonnenoberfläche sehen kann. Es gehörte unter anderem zu Lawrences Aufgaben, diese Sonnenflecken jeden Tag von Neuem aufzumalen, da sie sich ständig veränderten.

In der Cafeteria nahm Elisabeth an einem Fenstertisch Platz und genoss bei einem Cappuccino die herrliche Aussicht, die man von hier oben hatte. Am Nebentisch diskutierten zwei Wissenschaftler offensichtlich sehr angespannt, da ihre Stimmen von Zeit zu Zeit laut wurden und sie eifrig einig Blätter Papier miteinander verglichen. Elisabeth konnte nur Gesprächsfetzen aufschnappen:
„...auch wirklich ganz sicher?“
„...unvorstellbare Konsequenzen...allein der Stromausfall...“
„...Katastrophe!“
„Ich bin sicher, ganze Länder werden im Dunkel versinken...“

Elisabeth erstarrte. Konnte sie ihren Ohren trauen? Alles, was sie von der Unterhaltung der beiden Männer gerade eben aufgeschnappt hatte, schien voll und ganz Godiths Prophezeiung entsprungen zu sein- hatte nicht auch sie etwas von dem „Langen Dunkel“ geschrieben? Und jetzt sprachen Wissenschaftler davon, dass „ganze Länder im Dunkel versinken“ würden! Was hatte das alles zu bedeuten?
Keine Frage, entweder würde sie es jetzt herausfinden- oder erst, wenn es bereits zu spät war.
Entschlossen stand sie auf und trat an den Nebentisch. Die beiden Wissenschaftler verstummten, als sie die Frau bemerkten.
„Entschuldigung,“ , begann Elisabeth, „ähm, ich weiß, es ist unhöflich von mir, sie das zu fragen, aber ich saß am Tisch gegenüber und habe, äh, unfreiwillig, Stücke ihrer Unterhaltung mitbekommen. Nun ja, die Sache ist ein wenig kompliziert, aber ich verspreche, ich werde ihnen alles erklären. Zuerst muss ich aber wissen, ob sie da vorhin wirklich von einer Gefahr für die Menschen gesprochen haben- bitte!“
Elisabeth lächelte verlegen und wurde sich nun erst bewusst, was für einen Eindruck sie auf die Männer machen musste.
Der eine von ihnen, er hatte eine spiegelnde Glatze, schien dies zu bemerken, er lachte freundlich, bot ihr einen Stuhl an und stellte sich als Dr. Broom vor.
Als sie sich gesetzt hatte, fragte Dr. Broom, warum sie so brennend an seinem Fachgespräch, das er soeben mit seinem Kollegen hatte, interessiert sei. Elisabeth erklärte, sie sei die Frau von Mr. Alaster und erzählte anschließend von dem alten Buch.
Die Gesichter der beiden Wissenschaftler wurden immer angespannter, als sie hörten, durch ihre seherische Gabe könne Elisabeth für die Echtheit der Prophezeiung bürgen.

„Ja, dann geben Sie uns doch mal ein Beispiel ihrer Hellseherei!“, forderte Dr. Brooms Kollege sie leicht amüsiert auf. Elisabeth war es zwar gewohnt, dass ab und an Scherze über ihr besonderes Talent gemacht wurden, trotzdem ärgerte es sie. Na warte, dachte sie bei sich, dir wird’ ich was hellsehen!
Laut sagte sie: „Setzen Sie sich bitte so hin, dass ich Ihnen in die Augen sehen kann!“ Er tat, wie ihm geheißen, und einige Sekunden lang beobachtete sie starr seine Augen. Dann lehnte sie sich in ihrem Stuhl zurück, stützte ihren Ellbogen auf den Tisch und nahm einen kleinen Kaffeelöffel in die Hand.
„Also, sie heißen Edward Murphy, Sie sind 42 Jahre, fahren einen blauen Ford. Heute morgen haben Sie auf der Main die Geschwindigkeitsgrenze überschritten und sind prompt geblitzt worden. Jetzt haben Sie Bedenken, was ihre Frau sagen wird, wenn Sie nach Hause kommen, und werden ihr deshalb per Handy sagen, Sie hätten noch etwas Wichtiges hier im Observatorium zu besprechen und kämen deshalb erst spät in der Nacht wieder! Reicht das?“, fragte Elisabeth lässig und amüsierte sich köstlich über das verdutzte Gesicht des Wissenschaftlers.
Als er sich wieder einigermaßen gefasst hatte, meinte er: “Also, Ihnen glaube ich! Jetzt dürfen Sie auch ruhig die ganze Geschichte vom wissenschaftlichen Standpunkt aus sehen, denn was ihre Godith da aufgeschrieben hat, ist gar nicht mal so falsch.
Die Sonne ist von unheimlich starken Energiefeldern umgeben, die in einem Zyklus von elf Jahren immer stärker werden. Nach diesem Zeitraum explodiert sie förmlich vor lauter Energie und schleudert diese dabei ins All hinaus- wir nennen das Sonnenwinde.
Das Magnetfeld der Erde hält sie von uns ab, nicht weiter bedrohlich also. Jetzt haben mein Kollege und ich aber ernsthafte Anzeichen für einen wahren Sonnensturm entdeckt, zu stark, als dass das Magnetfeld der Erde ihn von uns abhalten könnte...“
„Und was würde so ein Sonnensturm für die Menschen bedeuten?“, erkundigte sich Elisabeth, das Schlimmste ahnend.
Dr. Broom warf ihr einen besorgten Blick zu:
„Tja, es würde zum totalen Crash kommen- kein Strom mehr, auf der ganzen Welt nicht! Es gäbe kein elektrisches Licht mehr, die Telefonleitungen würden nicht funktionieren, Handys wären wie tot,...
Das allein wäre ja schon genug, aber: Wir können Sonnenstürme erst dann von der Erde aus registrieren und Alarm geben, wenn sie nur noch eine Stunde von uns entfernt sind. Für die meisten Flugzeuge wäre es dann zu spät, weil ihre gesamte Technik ausfallen würde, sie würden unweigerlich abstürzen; Passagiere in Maschinen auf Reisehöhe würden so radioaktiv verstrahlt, als hätten sie hundert Röntgenuntersuchungen hinter sich...“
„Mein Gott, das ist ja fürchterlich, was Sie da erzählen...!“
Entsetzt schlug Elisabeth die Hände vors Gesicht. Seit einigen Stunden schon hatte sie schreckliche Kopfschmerzen und fühlte eine Unruhe in sich, die sie nicht zur Ruhe kommen ließ. Sollten dies etwa Vorzeichen der nahenden Katastrophe sein? Ach was, versuchte sie sich selbst zu beruhigen, so schnell wird nun auch nichts passieren.

Vorsichtig holte sie das Buch aus ihrer Handtasche und gab es den Männern. Mit wachsendem Erstaunen lasen sie die Worte Godiths und waren genau wie Elisabeth auch höchst verblüfft und gleichzeitig entsetzt, wie genau ein Mädchen im Mittelalter von den Gefahren gewusst hatte, die die Welt rund sechshundert Jahre später bedrohen sollten- abgesehen davon, dass ein noch so großer Sonnensturm zu dieser Zeit überhaupt keine Bedrohung dargestellt hätte, schließlich gab es keine Elektronik.
„Nun, was sagen Sie dazu?“, fragte sie, als die Männer zu Ende gelesen hatten. „Was sollen wir jetzt bloß unternehmen?“
Mit hochgezogenen Augenbrauen antwortete Dr. Broom:
„Ich denke, als Erstes werden wir-“
Weiter kam er nicht, denn in diesem Augenblick wurde die Tür aufgerissen und ein kleiner, untersetzter Mann mit grauen Haaren schoss hinein.
„Dr. Broom! Hier sind Sie! Könnten Sie bitte einmal in den Computerraum 12a kommen? Mrs. Smith hat etwas auf ihrem Monitor entdeckt, was mit rasender Geschwindigkeit auf uns zuzukommen scheint!“
Mit einem Satz war der Wissenschaftler auf den Beinen und Sekunden später zur Tür hinaus.
Plötzlich fühlte sich Elisabeth schwindlig. Der ganze Raum schien sich vor ihren Augen zu drehen, ihre Knie wurden weich und sie war so unendlich müde... Dann hatte sie auf einmal eine Vision:
Deutlich sah sie den Erdball vor sich, den blauen Planeten. Eine riesige Welle bewegte sich mit atemberaubender Geschwindigkeit auf sie zu.
Sie kam immer näher, und näher, und näher,... Sie sah eine große Stadt. Im ersten Moment wirkte sie noch ganz normal, Passanten schlenderten durch Einkaufsstraßen, Geschäftsleute eilten durch das Gedrängel, es staute sich auf einer viel befahrenen Straße und Gehupe wurde laut. Leuchtreklamen flackerten, irgendwo ging an einem Haus eine Alarmanlage los. Dann war es plötzlich ganz still. Sie konnte richtig sehen, wie die Lichter Stadtviertel für Stadtviertel ausgingen und es allmählich immer dunkler wurde... Das Große Schweigen und das Lange Dunkel hatten begonnen.

Elisabeth erwachte langsam und schlug die Augen wieder auf. Zu dem erschrockenen Wissenschaftler, der hilflos neben ihr auf einem Stuhl saß, verzog sie das Gesicht zu einem Lächeln.
„Lassen Sie, es geht schon wieder- so ist das eben, wenn man hellsehen kann! Nicht weiter schlimm, dass ich jetzt hellgesehen habe, eher schon, was ich gesehen habe.“
In einigen kurzen Sätzen schilderte sie ihm ihre Vision.
Just in dem Augenblick, als der Wissenschaftler zu einer Antwort ansetzte, flog die Tür zum zweiten Mal innerhalb weniger Minuten auf. Herein trat Dr. Broom. Kurz nickte er seinem Kollegen und Elisabeth zu.
„Ja.“
Mehr brauchte er nicht zu sagen.

Hektisch wurde von allen Apparaten der Welt aus telefoniert. Hauptsächlich waren es Behörden, die Instruktionen in alle Länder gaben, Fluggesellschaften warnten und Schiffe zum Anlaufen des nächst-gelegenen Hafens aufforderten, doch auch Privatpersonen, die in Panik bei ihren Freunden und Verwandten anriefen.
Elisabeth versuchte verzweifelt, ihrem Mann zu helfen. Nervös rief er immer neue Computerprogramme auf und notierte ihr Daten, die Satelliten aus dem Weltraum sendeten.
Mit einem Mal wurden die Bildschirme merklich dunkler, auch die wenigen eingeschalteten Lampen strahlten schwächer. Über das ganze Observatorium legte sich ein unheimliches Summen, das durch die hohen elektrischen Spannungen ausgelöst wurde.
„Schaut euch das an!“
Einige Leute waren aufgesprungen und blickten zum Himmel hin.
Wie ein unglaubliches Nordlicht zeigte sich ihnen ein atemberaubendes Schauspiel: Das ganze Firmament leuchtete erst grün, dann pink, gelb, schließlich blau auf. Die Farben wirbelten durcheinander, verschmolzen unentwegt zu neuen, noch prächtigeren Kombinationen, um dann wieder in nur einem Ton zu flammen.
Über der ganzen Erde lag ein unwirkliches rotes Licht. Es schien andauernd zu flackern und blieb zugleich völlig ruhig.
Es war ein einmalig schönes Naturschauspiel, was sich den Menschen bot.

Auch Louis Berndsen, Erster Offizier und Pilot der Boeing 737-400, Denver-San Francisco, war über Funk von der Flugsicherung alarmiert worden.
Er sollte umgehend notlanden, hieß es; momentan befand er sich jedoch auf der vorgeschriebenen Reiseflughöhe von sieben Kilometern- unter ihm lagen nur die zerklüften Rocky Mountains.
Berndsen standen feine Schweißperlen auf der Stirn. Wenn die Instrumente noch zwei Stunden funktionieren würden, könnte er die Maschine auf einem kleinen Flugplatz in Utah zwischenlanden, doch wenn nicht...
Er schaute auf die Uhr: Vor zehn Minuten war der Funkspruch eingegangen, dass eine Stunde später sämtliche Elektronik ausfallen würde. Es war eine Illusion, an die er sich und das Leben sämtlicher Passagiere klammerte, aber er würde kämpfen, schwor er sich.

Zur gleichen Zeit nahm Elisabeth Godiths Buch in die Hand und las noch einmal ihre schreckliche Prophezeiung.
Das „Sausen in den Ohren“, damit musste sie das Summen durch die überlasteten Leitungen gemeint haben. Elisabeth warf einen Blick aus dem Fenster und beobachtete vor der prächtigen Kulisse des flammenden Himmels eine Hochspannungsleitung. Kleine Blitze schossen an den Kabeln entlang, erreichen den Masten und ließen dort die Funken sprühen.
Kurz darauf gingen die Computer im Raum ganz aus, das Summen hörte auf und eine angespannte Stille legte sich über die Menschen. Ein junger Mann fing an, nervös zu kichern, verstummte aber sofort wieder.
In dem Buch hatte es geheißen, die Sonne würde am nächsten Morgen wieder aufgehen.
Man wartete.

Fünfzig Minuten später erloschen plötzlich alle Lichter im Flugzeug. Langsam, aber unaufhaltsam, kippte die Maschine über die rechte Tragfläche weg und stürzte in die Tiefe.
Sekunden später zerschellte sie an den steilen Berghängen.

„Ich glaube, ich habe noch nie so etwas Schönes erlebt wie diesen Sonnenaufgang!“, meinte Lawrence lachend zu seiner Frau.
Die beiden standen zusammen mit den anderen Menschen, die die Nacht voller Angst im Observatorium verbracht hatten, auf der Aussichtsplatt-form und genossen den Sonnenaufgang.
Es kam ihnen allen nach den letzten Ereignissen wie ein Wunder vor, dass sie diesen eigentlich alltäglichen Anblick noch einmal sehen durften und sie waren sehr dankbar dafür.

„...und deshalb, meine Damen und Herren, ist es unsere Aufgabe, diese Katastrophe zu verhindern! Ab sofort! Sonst werden wir untergehen- es liegt in unseren Händen, hier und jetzt!“
Tosender Applaus strömte Elisabeth entgegen und sie verbeugte sich, ehe sie das Rednerpult verließ. Sofort wurde sie von Reportern umringt. Nur zu gerne antwortete sie allen Fragen, die ihr gestellt wurden und betonte ausdrücklich, dass jetzt mit Umweltverschmutzung und Umweltzerstörung Schluss sein müsse, nachdem die Menschen eine so unmissverständliche Warnung bekommen hatten.
Heute, zwei Wochen nach der Schreckensnacht, hatte man Bilanz gezogen: Insgesamt waren 612 Flugzeuge abgestürzt, 231 Schiffe in Seenot geraten und kurz darauf gekentert, die ganze Erde war 14 Stunden lang ohne jeglichen Strom gewesen. In den Krankenhäusern waren Tausende von Menschen gestorben, die an wichtige Apparate angeschlossen waren. In Massenpaniken waren vor allem in den südlichen Ländern ganze Familien umgekommen.
Die gesamte Weltbevölkerung war um etwa die Hälfte zurückgegangen.

Elisabeth und Lawrence hatten es sich zur Aufgabe gemacht, den Menschen von Godith, ihrer bereits erfüllten sowie der noch ausstehenden Prophezeiung zu berichten und sie alle auf die schreckliche Gefahr aufmerksam zu machen. Jeder, vom illegalen Waldarbeiter auf Borneo bis zum Coladosen wegwerfenden Kind in Deutschland sollte wissen, wie sehr sich die Mutter, die Natur, rächen würde.
Tag für Tag hielten sie Reden, diskutierten mit Kanzlern, Königen und Präsidenten, überlegten mit Umweltschützern, was sie unternehmen könnten. In Schulen zeigten Fotos von zerstörten Lebensräumen und baten die Jugendlichen, sich die Schmerzen der Natur vorzustellen. Im Fernsehen wurde das alte Buch gezeigt und zahlreiche Archäologen überprüften es in Labors auf seine Echtheit. Auch sie konnten nur das bestätigen, was Elisabeth lange vorher schon gesagt hatte: Das Buch war echt.
Die Zeitungen waren voll von Artikeln über vom Aussterben bedrohte Tierarten, zum Beispiel dem Königstiger, und riefen ebenfalls zum verantwortungsbewussten Umgang mit der Natur auf. Naturschutzorganisationen wie Greenpeace sandten Leute in alle größeren Städte und überwachten die Passanten, die nur zu gerne Kaugummi-papierchen fallen ließen oder leere Getränkedosen einfach hinter dem nächstbesten Strauch abstellten und dann seelenruhig weitergingen. Diese Personen wurden von den Umweltschützern angehalten und freundlich aufgefordert, ihren Müll doch bitte nicht in die Landschaft, sondern in Mülleimer zu werfen. Weigerten sich manche Leute oder wurden sie ein zweites Mal erwischt, mussten sie hohe Bußgelder bezahlen.


Es war zwei Monate später, als Lawrence mit seiner Frau einen kleinen Bummel durch London unternahm. Die ganze Stadt war wie verändert: Über ihr hing kaum noch Smog, die Straßen waren fast autoleer. So oft es ging, benutzten die Leute öffentliche Verkehrsmittel, um unnötige Abgase zu vermeiden. An allen Ecken entdeckte Elisabeth große, leuchtend grün angestrichene Mülltonnen- und außen herum, auf der Straße, lag wirklich kein Abfall! Durch die saubere Umgebung waren die Menschen viel fröhlicher und lachten öfter als früher. Auch Massentierhaltung gehörte der Vergangenheit an: Kein Kunde wollte mehr Fleisch essen, für dessen möglichst niedrigen Preis die Tiere mehr als nötig hatten leiden müssen. Natürlich waren diese neuen Biolebensmittel teuerer, aber dafür hatten die Behörden die Fahrpreise für öffentliche Verkehrsmittel stark gesenkt- vom Geld her machte die gesündere Lebensweise also keinen Unterschied zu der anderen, nur die Lebensqualität war viel besser geworden.

Die Menschen hatten gelernt aus Godiths Weissagung – sie gingen nun mit Mutter Natur freundlicher und rücksichtsvoller um, denn im Stillen hatte jeder noch Angst, der letzte Satz der Prophezeiung könne sich doch noch erfüllen:
„Werden sie sich nicht gebessert haben, wird ein Feuerball auf die Erde niedergehen und auslöschen, was nicht zu retten war...“

 

Hi Wölfin,

eine schöne Geschichte, wenn auch der Ausgang ein unerfüllbarer Traum ist. Coladosen und Kaugummipapiere sind der kleinste Teil der Umweltverschmutzung. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass all die Fabriken und Bergwerke, Ölgesellschaften und Fischereiflotten, die die Natur wirklich zerstören, sich von einem kurzen Stromausfall und einer alten Prophezeihung aufhalten lassen würden. Schließlich hat auch Nostradamus schon Kriege und Naturkatastrophen beschrieben, und niemand kümmert sich darum. Aber ich finde es schön, dass da noch jemand daran glaubt, dass die Menschheit sich radikal ändern kann.

Du schreibst gekonnt und dein Text ist gut zu lesen. Nur deine Zeichensetzung bei der direkten Rede irritiert ein bisschen. Ich habe einige Stellen beispielhaft herausgesucht.

Im Mittelalter war sie sogar ein beliebter Platz für Hexenverbrennungen- kaum zu glauben, oder?“, meinte sie.
kein Komma nach den Anführungszeichen, da ein Fragezeichen (oder Ausrufezeichen) davor steht

„Die Mutter des Pfarrers,“, begann Elisabeth
hier kein Komma vor den Anführungszeichen

„Mir ist kalt.“, meinte sie zu Lawrence, „Lass uns zurück ins Hotel gehen.“
Kein Punkt, nur das Komma nach den Anführungszeichen (kalt",) und einen Punkt nach Lawrence.

LG
merenhathor

 

Hi merenhathor,
danke für Lob und Verbesserungsvorschläge; habe sie gerade eingefügt!
LG, wölfin

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom