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Die Seelen von Millionen
Der Mensch stand auf einer vorspringenden Klippe. Viele Meter unter ihm tosten die Wellen des westlichen Ozeans mit der ihnen eigenen urtümlichen Kraft gegen die felsigen Wände der steilen Küste. Salzige Gischt landete auf dem hageren Gesicht des schwarzhaarigen Mannes. Kurz fuhr seine Zunge über spröde Lippen.
Graue, dicht zusammenstehende Wolken zogen schnell über den Himmel. Ein Umhang aus dünnem dunklen Stoff flatterte an der zerbrechlich erscheinenden Gestalt und der Wind schien sie mit sich davontragen zu wollen. Aber er stand fest auf dem steinernen Untergrund, die Füße scheinbar mit diesem verschmolzen. Er hatte sich schon lange nicht mehr von etwas mitreißen lassen, seien es nun Gefühle oder Sehnsüchte gewesen.
Schwarze Augen blickten leer auf die weiten Wassermassen hinaus. Müdigkeit wollte ihn erfassen, wurde dann aber durch lang erlernte Selbstdisziplin unterdrückt.
Er musste sein Erbe weitergeben. Sein Sohn würde ihm folgen. Ein Reich wollte regiert werden, und nur eine starke Hand, wie die seine es einst gewesen war, konnte die vielen Baronien und Herzogtümer am Zügel halten.
Der alte Mann liebte Jospin und war sich nicht sicher, ob er diese schwer lastende Verantwortung einfach auf die schmalen Schultern seines Nachkommen abwälzen sollte. Denn es war nicht allein der Thron, der einen neuen Herrscher verlangte.
„Vater“. Eine helle männliche Stimme erklang leise hinter ihm. Schmale Finger legten sich auf seine Schulter.
Es fiel schwer loszulassen, aber das Schicksal ließ sich nicht vom vorbestimmten Lauf abbringen.
Er drehte sich um.
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Trisha lief mit schnellen Schritten den breiten Seitenflügel des Schlosses entlang. Ein großer Bastkorb, gefüllt mit bestickten Servietten aus Leinen, ruhte in ihren Armen. Alle paar Meter durcheilte sie dicke Sonnenstrahlen, welche schräg durch die hohen, gotisch anmutenden Fenster an der Seite des Ganges, auf den Steinfußboden geworfen wurden. Oft begegnete sie anderen Dienstmägden und Kammerdienern, die ebenso geschäftig wie sie ihren Verpflichtungen nachgingen. Es sollte ein großer, aber auch bitterer Tag für das Reich werden. Der alte König war nach langer auszehrender Krankheit gestorben und nun bereitete man seine Trauerfeier und Bestattung, sowie die den Traditionen entsprechende, nachfolgende Krönung seines Sohnes vor.
Der gesamte Hof erschien wie ein Ameisenhügel in den ein Pferd getrampelt war.
Morgen Mittag würde es soweit sein.
Sie beschleunigte ihren Gang, als sie merkte, dass ihre Schritte in Gedanken langsamer geworden waren. Leises Schnaufen zeigte an, dass sie mit ihren nunmehr 40 Sommern kein junges Madchen mehr war.
Endlich erreichte sie die gewaltige Halle im Zentrum des Palastes. Eine lange Reihe von Tischen, angeordnet zu einem großen Hufeisen, erstreckte sich vor der Magd. Blankpolierte Kerzenleuchter und geschmackvolle Tischdecken waren schon von emsigen Händen platziert worden, und an den hohen Wänden wurden die dort hängenden uralten Wandteppiche entstaubt und gesäubert. Arbeiter standen hierfür auf zerbrechlich wirkenden Gerüsten, um die in mehreren Metern Höhe befindlichen oberen Ränder der Teppiche zu erreichen.
Über zwei Jahrzehnte waren seit der letzten großen Feier, die dem großen Saal würdig gewesen war, vergangen. Die Verabschiedung des Herrschers von seiner geliebten toten Königin war der Anlass gewesen. Eine Woche berauschten Gelages später reisten dann die ersten adligen Gäste wieder ab und ließen einen zerstörten Mann mit seinem kleinen Sohn zurück.
Dunkelblonde Locken wurden keck zurückgeworfen. Aber heute, wie auch die nächste Zeit, sollte kein Tag der Trauer sein. Es war ein Neubeginn. Junge starke Hände hatten eine strahlende Krone aus alten zerbrechlichen empfangen. Außerdem mochte sie den jungen Prinzen insgeheim wesentlich lieber als seinen verstorbenen mürrischen Vater.
Frohgemut machte sie sich an das Auslegen der Servietten.
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Eine jubelnde Menge erstreckte sich vor ihm. Hunderte Stimmen bildeten eine einzige schallende Stimme des Einverständnisses.
Die rotgoldene, mit grünen und roten Edelsteinen besetzte Krone blitzte im Sonnenlicht, welches auf den riesigen runden Platz vor der Grabstätte des Königsgeschlechts fiel.
Da stand er. Erhob seine Hände in Andeutung einer Rede. Die vielen Menschen verstummten langsam und schauten ihren neuen Herrscher voller Erwartung an.
Seine Ansprache wurde lang und gut. Arme wie reiche Leute ließen danach ihrer Freude durch laute Jubelrufe freien Lauf, wie auch eine kleine mollige Magd. „Nun bist du also ein König, Jospin. König Jospin." Schmale Fältchen bildeten sich in Trishas Augenwinkeln. Sie lächelte.
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Ebenholzfarbene Augen blickten auf ein Volk herab. Großes wurde von ihm erwartet.
Fremde Emotionen ließen ihn erschaudern. >Bestimmung. Fortbestand<, erklang es in seinen wild durcheinander wirbelnden Gedanken. Seelen unzähliger die vor ihm gekommen waren, stimmten ein Loblied auf das Ewigwährende, die Essenz des Göttlichen an. Sein wahres Erbe.
Er schritt langsam die Stufen des Podests herab, auf dem er sein Amt angetreten hatte. Blicke streiften ihn beim Vorbeigehen.
Eine vertraute Stimme. >Schwierige Jahre werden auf dich zukommen, mein Sohn. Aber du wirst nicht allein sein. Wir werden dich behüten<.
Ein Chor aus Millionen stimmte ihm zu.