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Die Seele liegt zwischen den Zeilen
1. Hinweis: Bücher sind lebendig.
Aktuelle polizeiliche Ermittlungsmethoden schwebte in Lebensgefahr. Das erfahrene Sachbuch wurde nämlich von einem martialischen Leser verfolgt.
„Verdammter Schmöker“, schrie seine heisere Stimme. Das Klacken einer Schusswaffe war zu hören. „Gleich kriege ich dich!“ Die Buchdeckel flatterten durch die Luft, schnell wie Wimpernschläge. Etwas ploppte. Die Waffe schoss ein klebriges Fangnetz hervor, das sich schlagartig ausbreitete. Das Buch schloss geistesgegenwärtig seine aerodynamischen Buchdeckel, so dass es wie ein Stein zu Boden fiel. Das riesige Netz flog schwerfällig über das Sachbuch hinweg und klatschte gegen ein Plakat. Die Buchdeckel spannten sich wieder, sie glitten nur wenige Zentimeter über dem aufgebrochenen, scharfen Asphalt der Straße. Wieder das Klacken der Schusswaffe. Das Buch flatterte in die Luft, es musste dringend an Höhe gewinnen. PLOPP! Das Netz breitete sich über ihm wie eine riesige Käseglocke aus und senkte sich langsam hinab. Ein Blick rundherum. Die Ränder des Netzes berührten bereits die Straße. Gefangen! Der Blick zum Leser, welcher nach seiner Beute langte.
Sobald er einen Satz von mir liest, sterbe ich.
Nach hinten ausweichend, stolperte das Buch über einen Gully. Ein Gully! Das Buch ließ sich prompt mit den Deckeln voran zwischen die Gitterstäbe fallen, doch es klebte bereits mit dem Rücken am Netz fest. Mit aller Kraft zog es sich unter das Gitter und drehte sich quer zu den Metallstäben. Der Leser packte das Netz mit beiden Händen und zog gewaltsam daran. Aktuelle polizeiliche Ermittlungsmethoden schrie vor Schmerz, als sein gesamter Buchrücken von ihm abgerissen wurde und durch die Gitterstäbe verschwand. Taumelnd ließ sich das Sachbuch auf einem Metallgriff über dem Abwasser nieder. Das Keifen des Lesers musste über die gesamte Straße zu hören sein. Hektische Schatten huschten über den Gully.
Ich bin entkommen.
2. Hinweis: Bücher können nicht lesen.
Aktuelle polizeiliche Ermittlungsmethoden saß einige Tage später an seinem penibel aufgeräumten Schreibtisch aus Mahagoni. Es war Geschäftsführer einer der wenigen angesehenen Detekteien im Bücherland. Ihm gegenüber saß auf dem roten Polstersessel einer seiner Klienten, ein Taschenbuch, welches mit seinen lediglich 109 Seiten hager aussah. „Konnten Sie meinen Autor ausfindig machen?“, fragte es.
„Nein. Ich kam noch nicht einmal in die Nähe der Autorenwerkstatt“, sagte das Sachbuch nüchtern. „So Leid es mir tut, ich kann Ihnen nicht helfen.“
Das Taschenbuch senkte enttäuscht die Buchränder. Dann schnellten die spitzen Ecken nach vorne. „Das kann doch nicht so schwer sein, verdammt. Fliegen Sie gefälligst noch einmal hin“, fauchte es.
„Jetzt halten Sie mal Ihre Klappe und spitzen die Eselsohren. Fachliteratur wird zwar von der Menschenmasse weniger gejagt als Romane. Und mit meinen Erfahrungen als Detektiv kann ich mit Lesern umgehen. Aber …“
„… kein Aber. Ich will Ergebnisse sehen!“
Der Detektiv erhob sich und drehte sich langsam um.
„DAS ist das Ergebnis“, sagte es. Sein neuer, glänzender Buchrücken vermochte nicht wirklich zu seinen alten Buchdeckeln zu passen. „Ich habe meinen Arsch für Sie riskiert.“
Sein Klient schluckte geräuschvoll, die Seiten bildeten eine Welle. Das Sachbuch setzte sich wieder und sagte: „Sie müssen sich damit abfinden, dass Sie – wie alle anderen Bücher auch - nie Ihren Inhalt erfahren werden.“ Der Satz schwebte wie eine unheilvolle Gewitterwolke über dem Schreibtisch und entlud sich schließlich über dem Taschenbuch. Es donnerte: „Sie kennen Ihren Inhalt.“
„Ich kenne meinen Inhalt überhaupt nicht. Sehe ich so aus, als ob ein Satz von mir gelesen worden wäre? Dann wäre ich eine dieser Leichen im Bücherregal und …“
„Ihr Inhalt ist aufgrund Ihres Covers offensichtlich. Es zeigt nämlich ein Polizeiauto mit Blaulicht. Mein Cover ist hingegen grau. Einfach nur grau.“
„Schöne Farbe“, winkte der Detektiv ab.
„Nein. Langweilig und deprimierend. Ich kann verstehen, warum sich manche Menschen tätowieren lassen.“
„Sie kennen doch sogar Ihren Titel! Wie viele Bücher können das von sich behaupten!“, erwiderte das Sachbuch. Es sollte aufmunternd klingen, doch diese Wirkung wurde verfehlt. Die Seiten des Taschenbuchs zitterten, seine schwarze Tinte schimmerte wütend. „Das hätten Sie nicht sagen dürfen. Verdammter Wichser!“
Der Detektiv kramte aus seinem Schreibtisch eine E-Zigarette hervor und zog daran. Es roch nach Waldmeister. Sein Gesicht zeigte nicht die Spur einer Regung. Er kommunizierte schweigend, gleichwohl unmissverständlich. Das Taschenbuch beruhigte sich etwas und suchte nach den richtigen Worten. „Ich kenne meinen Titel, weil sich mehrere Leser laut darüber lustig gemacht haben. Leider auch zu Recht. Lautes Kreischen aus dem Keller. Wie stümperhaft hört sich dieser Titel bitte an!“
Der Detektiv antwortete, betont langsam: „Kreischen kann durchaus positiv gemeint sein. Man kann auch vor Glück kreischen.“
„Im Keller. Natürlich. Außerdem … Lautes Kreischen. Das ist doppelt gemoppelt. Ein leises Kreischen gibt es nicht.“ Das Taschenbuch wischte sich mit seinem Löschpapier, das es stets bei sich führte, einen Tintenfleck weg. „Ich will gar nicht wissen, wer da warum kreischt …“, schluchzte er.
„Seien Sie froh, dass Sie kein Bestseller sind. Dann wäre der Teufel hinter Ihnen her. Außerdem: Die Autoren haben uns Handlungsfreiheit gegeben. Warum beschäftigen Sie sich mit Ihrem Inhalt?“
„Ich habe das Gefühl, dass sich mein negativer Text auf meinen Charakter auswirkt. Oftmals bin ich grundlos aggressiv. Letztens öffne ich das Küchenfenster und sehe auf den Dachziegeln zwei Groschenromane rummachen. Ein Zweiteiler, irgendwas über ein Krankenhaus, ist ja auch egal. Ich könnte vor Wut platzen. Treiben die es da auf meinem Dach! Vor Hass werfe ich denen ein Brotmesser entgegen und treffe auch noch. Eines von ihnen ist jetzt geistig behindert – gut, war es vorher vielleicht auch schon …“
„Muss ich mir so einen Scheiß anhören … “, unterbrach der Detektiv, legte seine E-Zigarette beiseite und stand auf, das Taschenbuch verfolgte dennoch seinen Gedankentunnel: „Ich bin davon überzeugt, dass ich ein schlechtes Buch bin …“
„Das ist ja auch offensichtlich“, grunzte der Detektiv und zeigte zur Tür.
„… aber ich möchte dennoch ein gutes Leben führen. Und daran … verzweifel ich.“
Das Taschenbuch klappte sich zu und verkrampfte. Tinte lief zwischen den Seiten hinaus. Der Detektiv breitete verlegen seine Umschlagseiten aus, eine für ihn untypische Geste. „Ich verzweifel gleich auch“, murmelte er. „Ganz ehrlich, was soll das jetzt hier noch? Ich kann Ihnen nicht helfen. Raus hier, Sie sind bei einem Psychologen besser aufgehoben. Guten Tag.“
3. Hinweis: Die Seele liegt zwischen den Zeilen
Lautes Kreischen aus dem Keller flog entschlossen zum berüchtigten Menschenland. Wenn ihm niemand helfen wollte, seinen Autor ausfindig zu machen, dann musste er ihn eben selbst suchen. Es hatte das Bücherland noch nicht verlassen, da wurde es an einer größeren Lichtung im Wald von einem Fangnetz getroffen und taumelte zu Boden. Wild umherspringend verwickelte es sich nur noch mehr. Das Netz schmiegte sich an den Buchumschlag wie eine zweite Haut und behinderte die Sicht. Fußtritte aus der Ferne wurden lauter, immer lauter. Dann wurde das Buch von Händen gewaltsam in die Wiese gedrückt. Anschließend wurde es, vollkommen unerwartet, mit einer eiskalten Flüssigkeit besprüht. Innerhalb von Sekunden, die sich aber anfühlten wie Stunden, glitt das aufgelöste Netz vom Buch ab und gab die Sicht frei auf einen älteren, aber kräftigen Mann mit mittellangen, zotteligen Haaren. Sein kantiges Gesicht wirkte gefühlskalt, der morbide Geruch von altem Leder begleitete ihn. Er ließ eine Sprühdose unbekannten Inhalts auf die Wiese fallen und strich dann mit den Fingerkuppen den glibbrigen Überrest des einstigen Gewebes vom Buchcover. „Lautes Kreischen aus dem Keller“, brummte er. „Ach du Scheiße.“ Gewaltsam riss er das Buch auseinander und kratzte die erste Seite vom Buchdeckel. Das Buch wehrte sich mit jeder Faser seines Körpers, wollte dem Tod entkommen. Eine Sekunde später sackte es zusammen. Jetzt weiß ich, wie es ist, zu sterben.
Er lockerte den Griff, setzte sich ächzend auf die Wiese und las entspannt weiter. Dann schlug er eine Seite um. Er bestimmte nun die Bewegungen des Buches.
Ich bin ausgeliefert. Moment … aber warum kann ich darüber nachdenken? Habe ich noch immer ein Bewusstsein? Oh Autor. Ich habe ein Bewusstsein, kann mich aber nicht mitteilen! Geht es allen Büchern so, die gelesen wurden?
Die Augenbrauen des Lesers erhoben sich irritiert.
Hat er meine Seele bemerkt? Merkt er, dass ich lebe? Liest er zwischen den Zeilen?
Der Mann legte das Buch in die Wiese und strich vergeblich eine Haarsträhne aus seinem Gesicht. Intuitiv versuchte das Buch, seinen Umschlag anzuspannen, um über Lichtung in den Himmel davonzufliegen, aber es bewegte sich keinen Millimeter.
Wieder der Griff nach dem Buch, das Gesicht des Lesers seltsam besorgt. Dann übersprang er ein paar Seiten. „Himmel …“ Etwas klingelte, laut und schrill. Der Mann warf das Buch vor sich auf die Wiese und kramte umständlich ein winziges Handy aus seinem Brustbeutel hervor.
„Ja? Hi! Danke, dir auch? Schön. Das freut mich. Mit der Schale. Ach, nichts besonders. Ich habe gerade wieder ein Buch gefangen. Lautes Kreischen aus dem Keller. Unfassbar. Wirklich. Unfassbar.“
Das Buch hörte aufgeregt zu und verfolgte aufmerksam jeden Wortfetzen, jeden Gesichtsmuskel.
„Nein, das … nein. Der Autor muss absolut geisteskrank sein. Das Buch ist abstoßend, widerwärtig, ekelhaft, um nicht zu sagen, pervers. Ich finde gar keine Worte dafür …“
Um nicht zu sagen, pervers. Dieser Satzteil echote zwischen den Zeilen des Buches hin und her und überlagerte jedes weitere Wort. Wie ein Tischtennisball sprang er zwischen den Gefühlen Selbstfindung und Selbstentfremdung hin und her. Dieser dissonante Ton der Gefühle gipfelte in der entscheidenden Frage nach dem Sinn seines Bücherlebens: Kann ich trotz meiner Zeilen ein gutes Buch sein?
„Ich zünde das Buch an.“
Der Satz zerstörte das Gedankenlabyrinth, aus dem es kein Entrinnen zu geben schien. Panisch verfolgte das Buch, wie der Mann ein Feuerzeug hervorholte, Seite 65/66 hochhielt und diese an einer Ecke entflammen ließ. Wäre das Buch nicht bewegungsunfähig, es hätte buchstäblich in das Gras gebissen. So war es dem fressenden Feuer hilflos ausgeliefert. Die Schwärze der Tinte verwandelte sich zu Asche, ebenso das Weiß zwischen den Zeilen.
Jetzt sterbe ich. Endgültig.
Kurz bevor das Buch sein Ich verlor, vernahm es noch die überraschte Stimme des Lesers: „Ein zweiter Teil?“