Die sechste Kammer
Schlimm fürwahr. Doch schlimmer ist es, diese Zeiten zu ertragen und zu dulden.
~ M. Tullius Cicero – Ad Familiares, 4.5
Kein Mißton störte die Arbeit der Maschine. Manche sahen nun gar nicht mehr zu, sondern lagen mit geschlossenen Augen im Sand; alle wußten: Jetzt geschieht Gerechtigkeit.
~ Franz Kafka – In der Strafkolonie
Herr Gregor Heinlein blickte auf seine Uhr. Das Gift begann pünktlich zu wirken. Höchst erfreulich. Die schwarzhaarige Frau hatte sich eine sehr passende Kammer ausgewählt, das musste er anerkennen. Ihrem Sinn für Theatralik konnte er indes nicht viel abgewinnen, aber sie hatte darauf bestanden, keinen Stuhl im Raum zu haben, nur eine Tonstatue einer Mumie und einen handgeknüpften Teppich. Schwarzer Rahmen, grünes Muster, zentral ein weißes Anch-Symbol. Das war selbstverständlich kein Problem für ihn gewesen. Sie zitterte hinter der Scheibe und ließ die Schlange fallen, die zischend in eine Ecke kroch. Darum hatte sich der Reinigungsdienst nachher zu kümmern. Ebenso um ihre Lieferung in besagtem Teppich an einen Herrn Julian Anton.
Aber Gregor musste im Zeitplan bleiben. Leise stand er auf, nahm seinen Koffer und verließ die Sitzreihe. Ein paar Zuschauer zischten etwas, aber jeder wusste, dass er nicht ewig hier sein konnte. Er drückte einen grünen Knopf. Dann ging er durch die Türe, schloss sie behutsam hinter sich und wusch seine Hände in dem kleinen Waschbecken des Durchgangs. Sorgfältig trocknete er sich ab und ging nun durch die weiße Türe auf den Gang, der auch ohne Fenster stets durch Neonlicht erhellt war.
Er salutierte vor dem Bild des Patriarchen, als Lukas Wells von einer Seite gelaufen kam und ihn im üblichen höflichen Ton begrüßte, der darauf hinwies, dass dies lediglich eine Anstandsformel unter Kollegen war. Er grüßte zurück und lief in die andere Richtung weiter, weniger aus Abneigung, sondern lediglich des Zeitplans wegen. Freilich war es nicht so, dass er den braunhaarigen, bleichen Mann gemocht hätte, der am meisten durch seine Kritik an diversen internen Abläufen auffiel. Die Maschine lief, und sie würde auch ohne ihn laufen.
Gregor fixierte das Klemmbrett in seiner Hand mit den Augen und prägte sich noch einmal den heutigen Ablauf ein. Kleopatra war wohl inzwischen tot, es folgten großteils Standardprozeduren: ein Klimax, ein Fall – den würde er an Wells oder Philipp Clarke, diesen Flugfanatiker, abschieben –, ein Gladiator und eine einfache Kugel mit Videobotschaft. Gregor hatte nie verstanden, weswegen man so viel Aufruhr verursachen wollte, aber das war schließlich auch nicht seine Aufgabe. Er sorgte nur dafür, dass die Kugel in der Waffe war und eine Direktverbindung für die Kamera aufgebaut werden konnte.
Er stellte seinen gebrauchten Koffer im dafür vorgesehen Bereich ab, hakte den Auftrag von der Liste ab und verglich die neue Auftragsnummer mit den Etiketten der bereitstehenden Koffer. Zielsicher fand er den Richtigen und lief los.
Als er die Klimax-Kammer durch die rote Türe betrat, saßen bereits einundzwanzig Personen auf Sitzen hinter der verspiegelten Scheibe, die ihn aufforderten sich zu beeilen. Er rümpfte die Nase, als ihm der Geruch nach frisch gebranntem Popcorn in die Nase stieg, vermischt mit Zigarettenqualm und dem Duft nach torfigem Whisky. Wenigstens musste er den Gestank nach Vaseline in den Einzelkabinen nicht ertragen.
Er schloss die Türe in die innere Kammer auf und fand das große, rote Bett so vor, wie er es geordert hatte. Umringt von schwarzen Kerzen, seidene Bettwäsche und ein aufgesticktes Pentagramm. Wäre es nach ihm gegangen, hätte es eine Plastikfolie überliegen, aber das war anscheinend abträglich für das Wohlempfinden des Kunden. Er öffnete den Koffer mit einem Klicken und legte die darin befindlichen Handschellen auf und die geladene Walther P99Q unter das herzförmige Kopfkissen.
Dann verließ er die innere Kammer wieder und überprüfte die Kameraschirme. Zufrieden drückte er einen roten Knopf. Freudige Geräusche entwichen den Gestalten, die teilweise direkt an die Scheibe gepresst mit ansahen, wie aus zwei anderen Türen ein noch relativ junger Mann – er war vielleicht Ende dreißig – und eine beinahe nackte Frau traten.
Gregor drückte auf sein Sprechgerät und sagte mechanisch: „Willkommen, Herr Gibson. Dies ist Ihre Klimaxbegleiterin Miss Atwood. Wir hoffen, dass alles nach Ihren Wünschen ist.“
Er blickte mit stoischer Miene auf den Kunden, der sein anfängliches Zögern glücklicherweise schnell ablegte und sich ans Bett fesseln ließ, sehr zur Freude der Zuschauer hinter dem Glas. Eintrittsgeld hin oder her, diese Sorte Mensch war nur dazu gut, allen Besitz zum Wohle des Patriarchen zu verpulvern, um dann in einer Budgetkammer zu landen. Der Parasit, der freiwillig selbst ausgenommen wird. Auseinandergenommen.
Die Vorstellung begann und vor seinem innerem Auge sah Gregor für einen kurzen Moment sich und seine Frau auf dem Bett. Erstarrt blickte er in die Ferne, dann wandte er sich schnell ab. Die Lautsprecher übertrugen das falsche Stöhnen der Klimaxbegleiterin ohnehin. Er kämpfte gegen die Übelkeit an. Rhythmisches Keuchen und das sensationslüsterne Raunen der Zuschauer ließen den Raum in ekstatischer Wärme versinken, aus der es kein Entrinnen gab. Scheinbar.
Dann fiel der Schuss und Gregor drehte sich zur Scheibe. Was ihn zittern ließ, war weniger das Blut. Es war auch nicht das orgastische Grunzen, das aus einer der vorderen Reihen kam. Er griff wütend an sein Sprechgerät und rief: „Schießen Sie gefälligst ein zweites Mal, wenn der Kunde noch lebt!“
Miss Atwood blickte aufgeregt und beschämt umher, dann schoss sie. Endlich. Er nahm seinen Koffer auf, drückte den grünen Knopf und verließ leicht gehetzt die Kammer. Als er seine Hände gewaschen hatte und auf dem Flur stand, hob er einen Inhalator an seinen Mund und sog den bittersüßen Geschmack von Codein tief ein, bis seine Lungen rebellierten.
Dann brachte er seinen Koffer zurück, hakte den Punkt ab und setzte sich an die Aufgabenumverteilungsmaschine. Er tippte die Auftragsnummer des „Falls“ ein und bewegte Wells‘ und Clarkes Namen aus der Angestelltenliste darauf. Dann wartete er. Die Funktionsweise des Gerätes war für ihn ein arkanes Mysterium, aber die Bedienung war erstaunlich einfach. Nach einer Minute klickte es und er fand den Namen Clarke neben dem Auftrag. Dann druckte das Gerät seine korrigierte Aufgabenliste aus. Er zog das Blatt zu sich.
Statt dem Fall hatte er nun also einen Drift. Bevor er den entsprechenden Koffer holen konnte, klingelte es im Gang. Mittagspause. Er befestigte die Liste an seinem Klemmbrett und lief zur Kantine.
Der große, klinisch reine Saal war ebenfalls fensterlos und von Neonröhren beleuchtet. Unzählige Metalltische und Stühle, bereits von ungefähr zweihundertundfünfzig Personen besetzt, waren platzeffizient aufgestellt. Das Menüschild versprach Wachtelfilet und Kartoffelbrei. Gregor nahm sich ein Tablett und stellte sich in die Essensschlange.
Er war beinahe bei der Ausgabe angekommen, als ein Schrei durch den Raum ging. Gregor seufzte und ging instinktiv in die Knie.
Auf einem der Tische in der Mitte des Raumes standen zwei Männer, die er schon lange im Verdacht gehabt hatte. Fredrick Moore, ein großgewachsener, bärtiger Mann, der noch nicht sehr lange hier arbeitete, hielt eine Maschinenpistole in die Luft und brüllte: „Wir haben lange genug zugesehen! Es ist an der Zeit, dem hier ein Ende zu bereiten! Nieder mit dem Patriarchen!“
Der andere Mann, ein muskulöser, dunkelhäutiger und ebenfalls relativ neuer Reinigungsmann namens Samuel Fleischer, stimmte mit ein: „Nieder mit LiberCorp! Für eure Familien und Freunde! Für euch! Für die Freiheit!“
Gregor hatte sich damals gewundert, dass sie Fleischer eingestellt hatten. Beinahe war er etwas entrüstet gewesen, mit so etwas arbeiten zu müssen. Nun war er sicher, dass der Patriarch und seine Berater hier bei LiberCorp diesen Tag vorausgesehen hatten.
Er sah sich um und bemerkte, wie vereinzelt Leute ebenfalls intuitiv in die Knie gegangen waren, andere waren tatsächlich aufgestanden und näherten sich den beiden. Noch während die Gruppe versuchte, sich hinter einigen Tischen zu verschanzen, begannen Moore und Fleischer unkontrolliert zu zappeln. Gregor vermutete, dass ferngesteuerte Schocker in die Arbeitskleidung eingearbeitet waren. Er sah den beiden bei ihrem makaberen letzten Tanz zu, in den wie im Theaterstück eines Irren alsbald der Rest der Verräter einstieg, ohne Takt oder Abstimmung.
Dann kamen die schwarzgekleideten Exos in die Kantine, die Schlagstöcke gezückt. Erbarmungslos schlugen sie die Gruppe nieder. Gregor wusste, was jetzt passieren würde: In den kommenden Tagen würde es günstige Vorstellungen in den Exekutionskammern geben. Das würde allen anderen hoffentlich eine Lehre sein.
Als Moore, Fleischer und der Rest entfernt worden waren, rief eine metallische Stimme aus dem Lautsprecher: „Stärke durch Einheit, Kameraden! Wir verrichten das Nötige, um ein Leben für diejenigen zu ermöglichen, die es verdienen! Der Zweig bricht...“
„Das Bündel nicht!“, hallte es aus dem Raum zurück.
Die Arbeit am Nachmittag verlief ohne weitere Zwischenfälle. Gregor stellte die Drogenmischung und eine schwarzweiße, mit Taiji-Symbolen überzogene Liege für den Drift bereit und sah zu, wie eine junge Frau sich von dem Driftassistenten auf die Überdosis zusteuern ließ. Er genoss die Ruhe im beinahe leeren Raum, auch wenn er kurzzeitig an seinen Sohn denken musste. Drifts wollte kaum einer sehen, da die den Exitus induzierenden Drogen meist nur im Verstand des Kunden spannende Bilder erzeugten.
Auch der Gladiator fügte sich willig in sein Schicksal. Ein Wolf biss ihm schließlich die Kehle auf, worauf Gregor den Gnadenschuss befahl und wie gewünscht zwei Silbermünzen in die Arena warf. Natürlich war das Publikum hier in der Größten Kreiskammer weitaus zahlreicher, und weitere Todgeweihte folgten.
Schließlich ging er gegen Abend zu seinem letzten Auftrag. Die Kamera stand bereits da, ebenso ein Tisch und ein Stuhl. Er brachte lediglich die Waffe und ein kleines Holzkreuz. Sie war noch so jung, die Frau auf dem Stuhl. Sie konnte kaum früher als seine eigene Tochter geboren sein. Die Kundin richtete den Videoanruf an ihren Vater, ihre Stiefmutter und deren Tochter. Gregor konnte die bittenden Rufe ihres Vaters durch die Lautsprecher hören und sah das schluchzende Mädchen, wie es zitternd die Waffe an die Schläfe führte.
Eine Sekunde verging, dann zwei. Sie würde es nicht tun. Gregor hatte es zu oft gesehen. Der Moment der Tapferkeit war vorbei. Ihr Vater redete unablässig auf sie ein, dass er sie über alles lieben und von jetzt an nie mehr alleine lassen würde. Unfug.
„Keine Rückerstattung“, murmelte Gregor und drückte einen schwarzen Knopf, worauf der Kugelassistent, unsichtbar für die Kamera, seine Waffe abfeuerte. Ruckartig schleuderte ihr Kopf herum, Blut spritzte, und das Holzkreuz glitt aus ihrer Hand auf den Boden. Mit einem ungläubigen Starren kippte sie seitlich vom Stuhl. Er drückte einen weißen Knopf, und die Videoübertragung wurde beendet. Das Schreien des Vaters verstummte und für einen Augenblick kehrte kathartische Stille ein. Dann johlten die Zuschauer um ihn herum und klatschten Beifall.
Angewidert stand Gregor mit seinem Koffer auf, drückte den grünen Knopf und verließ den Raum durch die letzte weiße Tür des Tages.
Gegen 23:55 öffnete Gregor Heinlein die Haustüre und lief ins Wohnzimmer. Er blickte zu seiner Frau und den Kindern und eine Träne lief langsam über seine Wange. Mit gebrochener Stimme sagte er: „Ich bin wieder da.“
Doch die Urnen blieben stumm.