- Beitritt
- 19.05.2015
- Beiträge
- 2.593
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 19
Die Schwestern folgen dem rosa Licht
-1-
Marie liegt eingerollt unter der Decke und hält die Augen fest geschlossen, saugt die schwebenden Minuten auf, bevor der Tag beginnt, spürt, was sich ihr entgegenstreckt und weiß jedes Mal, ob es ein flirrend heller Sommertag wird oder Wolken den Himmel verdüstern. Sie täuscht sich auch heute nicht, als sie die Lider hebt. Der Tag ist rosa, der Himmel wird leuchten und das Glück zurückkehren.
Sie gräbt sich aus dem Bett und entdeckt die rosa Schleier, die ihr Zimmer überziehen. Auch Mike, der Kuschelbär mit dem Riesenbauch, und ihre Lieblingspuppe Barbara sind bestäubt. Marie reibt sich die Augen und stellt sich ans Fenster. Die Farbe tränkt den Himmel, den Horizont, die Bäume und die Menschen auf der Straße, selbst die Stimmen der Vögel nehmen sie an. Sie betrachtet sich im Spiegel, gleitet über die Haarlocken, die Wasseraugen und bemerkt den Schleierblick, der von den Tagen der Trauer zurückgeblieben ist. Das Schlaf-Shirt schlackert über ihre Haut. Die Härchen stellen sich auf, als sie sich am Hals berührt. In zwei Wochen wird sie elf Jahre alt sein, und bis dahin soll die Düsterkeit abgeschüttelt werden.
Der Traum, der sie weit weg, zu Blumenlandschaften und sattem Grün, zu lachenden Gesichtern und weichen Umarmungen geführt hat, flog über sie hinweg, erfüllte sie und schenkte ihr die Kraft, die sie lange vermisst hatte. Schließlich hatte sie das Pantherbaby wiedergesehen, das irgendwo festsitzt, sich ängstigt und um Hilfe schreit, das nasse Fell und die strahlenden Augen, die sie anflehten, waren deutlich zu erkennen. Marie eilt aufgeregt zu ihrer Schwester, um ihr davon zu berichten. Anna liegt auf dem Bauch und hat den Kopf in das Kissen gedrückt, als wolle sie sich eingraben. Eine einzelne Haarsträhne fließt wie eine Schlange über die linke Wange. Sie beobachtet Anna eine Weile, streicht über ihr Gesicht, lächelt über die spitze Nase, spürt die weiche Haut der kleinen Schwester. Ein warmes Gefühl durchströmt ihren Bauch, als sie den Atemzügen lauscht, den Jasminduft einatmet. Sie reißt sich aus dem Anblick und rüttelt an den Schultern Annas.
„Steh auf, Anna?“
„Warum?“
„Komm schon, mach die Augen auf, Anna!“
„Wieso?“
„Schau mal, alles rosa!“
„Echt?“
Anna klappt die Lider hoch, schaut sich um, braune Glanzaugen springen Marie entgegen. Sie hüpft aus dem Bett, das Babyspeckbäuchlein zittert, als sie zum Fenster geht, es öffnet und sich so weit nach vorne beugt, dass sie die Wiese hinter dem Haus im Blick hat.
„Wie schön!“
„Weißt du, von wem ich geträumt habe? Vom Pantherbaby!“, sagt Marie.
„Hast du noch was gesehen?“
„Nein.“
„Gar nichts?“
„Bäume habe ich gesehen.“
„Bäume?“
„Ja.“
„Dann weiß ich, wo es ist.“
„So? Woher?“
„Ich habe von einem Wald geträumt.“
„Und das Pantherbaby?“
„Ist im Wald.“
„Ja, vielleicht.“
„Gut, gehen wir los!“, sagt Anna.
Marie bewundert die Entschlossenheit, die mitschwingt. Anna handelt, egal was passiert, pflanzt Blumen auf Leons Grab, damit er nicht alleine sei, verliert ihr Lächeln nie. An diesem rosa Tag fasst sie Mut, lässt sich von der Schwester mitreißen, von der Sonne bestrahlen und wärmen, als könne sie auf einem flauschigen Teppich am Himmel schweben.
Sie bereiten sich vor, löffeln Cornflakes, packen ihre Rucksäcke, nehmen eins der Seile mit, das ihr Vater für seine Kletterausflüge genutzt hat und die kuschlige Lillifee-Decke, falls das Pantherbaby friert.
Danach klopfen sie an der Tür zum Schlafzimmer. Das Zimmer ist abgedunkelt, ein Streifen Helligkeit, dringt als Zackenmuster durch die Läden. Die Fenster sind geschlossen. Abgestandene Luft, Nachtschweißgeruch und Blumenparfum wehen den Kindern entgegen. Neben dem Bett stehen leere Wasser- und Weinflaschen. Ihre Mutter lehnt zurückgesunken gegen das Kissen und öffnet die schlaftrunkenen Augen. Sie küssen der Mutter die Wangen, erklären ihr, dass sie rausgehen wollten, weil so schönes Wetter, der Tag so rosa sei. Sie schaut die Kinder mit Pfirsichaugen an und umarmt sie schläfrig. Sie sollen am frühen Nachmittag wieder da sein. Gloria schließt die Augen erneut.
-2-
Marie vertraut dem Tag, eingehüllt in das rosa Licht. Mit luftigen Herzen ziehen Anna und Marie dem Blumensommerduft entgegen. Um zum Rand der Stadt zu gelangen und den Wald zu erreichen, durchqueren sie einige Blocks, hüpfen über den Hundekot und weichen den Jungs und Mädchen aus, die auf der Straße lungern. Irgendwann verschwinden die letzten Häuser und sie nähern sich dem Wald, der hinter den Ährenfeldern beginnt. Der Himmel färbt sich über den Bäumen intensiver. Tief drin bemerken sie einen Lichtschein, als hätte jemand am hellen Tag Neonlicht angeschaltet. Auf einem Feldweg gelangen sie zum Saum des Waldes, beschließen zu rasten, bevor sie den Wald betreten, und setzen sich am Wegesrand auf einen Findling. Das Getreidefeld bewegt sich wie ein Federmeer. Marie lauscht, saugt das Pfeifen in sich auf, bis sie eine Bewegung hinter sich bemerkt. Die Mädchen drehen sich um und blicken in schwarze, von Fell umrahmte Augen. Der Bär ist nicht besonders groß und sieht freundlich aus.
„Wer bist du?“, fragt Anna.
„Ich bin Adam und habe euch erwartet, ihr braucht nicht erschrecken “, sagt der Bär und umglänzt sein Gesicht mit einem Lächeln.
„Aha?“, fragt Marie, steht auf und stellt sich vor die Schwester.
„Na ja, ich habe gehört, dass ihr ein Pantherbaby sucht.“
„Ja, genau!“, sagen die Mädchen gleichzeitig. Marie atmet durch und glaubt ihm, weil er das mit dem Pantherbaby weiß.
„Ich bringe euch hin. Jedenfalls bis ganz in die Nähe.“
„Super! Warum nur bis in die Nähe?“
„Mm, ich vertrage nicht allzu viel Licht, deswegen.“
„Wann gehen wir los?“, fragt Marie.
„Und bitte nicht so schnell, Adam!“, sagt Anna.
Adam riecht nach Harz, Honig und Wald, bewegt sich weich und vorsichtig. Die Mädchen stellen keine Fragen mehr, damit er es sich nicht anders überlegt, freuen sich über den Gefährten und folgen dem Bären. Er schiebt Äste und Unterholz beiseite, damit die Mädchen bequemer vorwärts kommen. Die Luft fühlt sich frischer und kühler an, je tiefer sie in den Wald eindringen. Die Zweige und Äste der Baumstämme, die wie Stifte aufgereiht stehen, krachen und quietschen. Adam dreht sich ab und zu nach ihnen um, grunzt und steckt die Nase in die Höhe. Anne und Marie kommt das Licht, dem sie sich nähern, wie ein Nebelschleier vor, ein Vorhang, der sie umgibt. Der Wald, das Moos und die Teppicherde, über die sie hinwegschweben, verschwimmen zu einem Zauberreich. Jeder knackende Ast, jeder Windstoß, scheint ihnen eine wundersame Begegnung anzukündigen.
Als sie einen Hügel abwärts laufen, schwärzt sich die Erde. An manchen Stellen sinken sie im Morast ein, an anderen stolpern sie über Wurzeln, die wie Fallen aus dem Boden ragen. Selbst Adam muss sein Tempo verringern. Sie verlieren die Zeit, während der Wald sich lichtet. Gleichzeitig vernebelt das Licht die Blicke der Mädchen, lässt sie die Welt durch milchiges Glas bestaunen. Als sie zwischen den Bäumen hindurchlugen, entdecken sie das Ziel ihrer Wanderung und Adam bleibt stehen.
„Weiter kann ich nicht mit euch gehen. Geht zu dem Baum dort auf der Lichtung. Aber ihr müsst schon vorsichtig sein, dürft nicht jedem glauben, dem ihr begegnet. Ich bleibe in der Nähe und wenn ihr Hilfe braucht, kommt in den Wald.“
-3-
Ehe sie antworten können, verschwindet der Bär. Sie betreten die Lichtung und bestaunen die mächtige Esche, die mittendrin höher empor wächst als alle anderen Bäume, die sie je gesehen haben, so hoch, als berühre er den Himmel selbst. Rings um ihn breiten sich Wurzeln nach allen Seiten aus. Marie berührt die Rinde des Stamms, die sich anfühlt, als ob warmes Blut darunter fließe, fragt sich, ob sie zusammen mit ihrer Schwester unter einem einzelnen der riesigen Blätter Platz fände. Sie lässt den Blick schweifen, sucht vergeblich nach Spuren des Pantherbabys, kommt sich winzig vor, zu klein und schwach, um den Baum zu erklettern. Marie erinnert sich an das rosa Licht, das sie umgibt, an ihre Träume, die sie nicht enttäuschen werden, schnauft durch. Ihre Ohren füllen sich mit Vogelgesang, summenden Insekten und Tierlauten, die sie nicht zuordnen können. Eine kaum wahrnehmbare Melodie, dringt aus dem Hintergrund zu ihnen und berührt Stellen in ihrem Bauch berührt, die sie nicht kennen. Als ob das nicht genug wäre, vibriert der Baumstamm, die Äste schwanken. Dann hören sie es, ein Säuseln, ein Zischen, anfangs leise, später ansteigend. Sie lauschen, gewöhnen sich an den Klang, Laute fügen sich zu Worten. Die Stimme spricht mit ihnen.
„Ist lange her, dass Kinder bei mir waren, sehr lange.“
Marie zuckt zusammen. Alles erscheint heute möglich, ein gewaltiger, sprechender Baum, ein Bär, der sie durch den Wald zu einem geheimen Ort führt und was auch immer ihnen noch begegnen wird. Die Grenzen zerfließen. Sie nimmt ihre Schwester an der Hand.
„Wir sind Anna und Marie und suchen das Pantherbaby. Adam, der Bär, hat uns den Weg gezeigt“, sagt Marie, weil ihr nichts Besseres einfällt.
Die Stimme schwillt an, bläst durch die Kinder hindurch und wärmt sie. „So, so, Adam hat euch zu mir gebracht, an den Rand der Welt, in den verborgenen Wald.“
„An den Rand der Welt? Das kann nicht sein, so weit war’s nicht“, sagt Anna verwundert.
„Glaubt ihr!“ Ein dröhnendes Schütteln, gellendes Lachen erklingt. „Wenn man mit Adam unterwegs ist, geht’s schneller, als ihr glaubt. Ihr seid Kinder und deshalb wisst ihr, dass alles möglich ist. Manchmal ist ein Traum die Wirklichkeit und die Wirklichkeit der Traum. Mit Weg und Zeit ist es genauso. Ihr müsst nur in eure Herzen schauen. Dort findet ihr alles.“
„Aber, Herr Baum, weißt du, wo das Pantherbaby ist?“, fragt Anna lauthals.
„Herr Baum nennt sie mich!“, tönt es mit einem lächelnden Zittern. „Ja, ich bin ein Baum. Ich bin Yggdrasil, meine Wurzeln umfassen alles, was lebt.“
„Na schön, Herr Yggdrasil, ich weiß zwar nicht, was du genau meinst, aber wenn du schon so groß bist und so viele Wurzeln hast, weißt du bestimmt, wo das Pantherbaby steckt. Wir müssen es finden!“, sagt Marie.
Bevor der Baum weiterreden kann, rennt ein Eichhörnchen an einem der Äste herab und hält auf sie zu. Die glanzbraunen Haare flattern wie der Schweif eines Pferdes, die Beine sehen aus wie muskelbepackte Männeroberarme und der Körper ist viel größer als der eines gewöhnlichen Eichhörnchens.
„Wir verstecken keine Babys!“
Das Eichhörnchen zuckt, als müsse es die Worte betonen, hüpft auf einen anderen Ast, läuft an ihm entlang und nähert sich den Mädchen.
„Aber irgendwo hier muss es sein.“
„Irgendwo hier?“, äfft das Eichhörnchen Marie nach. „Woher wollt ihr das wissen?“, und es springt wieder auf einen anderen Ast.
„Wir haben davon geträumt. Wer bist du eigentlich?“, fragt Anna.
Im Hintergrund rauscht der Baum leise, fast unhörbar, wie ein Geräusch, das man nur mit geschlossenen Augen wahrnimmt.
„Wer ich bin, fragt sie mich. Was tut das zur Sache? Entscheidend ist, dass ich weiß, wer ihr seid!“
„So? Du lenkst ab. Wo ist das Baby?“, sagt Anna und streckt ihre Arme aus, als wolle sie das Eichhörnchen ergreifen.
„Kann ich beim besten Willen nicht sagen!“ Die Pinselhaare des Eichhörnchens recken sich ihnen entgegen. Auf den Ästen eilen Ameisen hin und her. Der Geruch von feuchtem Holz und Moder strömt den Mädchen entgegen. „Außerdem weiß ich einiges über euch. Eure Mutter heißt Gloria, stimmt’s, Papa ist abgehauen und euer kleiner Bruder, na ja der Leon…“
„Was geht dich das an?“, unterbricht Anna das Eichhörnchen, will es packen, erwischt es aber nicht. Maries Herz hüpft. Sie erstarrt und will die Erinnerungen im hinteren Winkel ihres Kopfes verstecken, dort, wo Angst und Schmerz nicht hinkommen.
„Vielleicht geht’s mich was an, vielleicht nicht. Schließlich seid ihr zur geheimen Lichtung, zu Yggdrasil gekommen.“
„Na und?“, fragt Marie vorsichtig.
„Vorausgesetzt, ich wüsste, wie ihr das Baby bekommt. Warum sollte ich euch helfen?“
„Du verstehst überhaupt nichts!“, ruft Anna empört, beugt sich über das Eichhörnchen und faucht es an.
„Doch, verstanden habe ich euch.“
„Wir werden das Pantherbaby finden, ob du uns hilfst oder nicht!“, meldet sich Marie zu Wort.
„Egal, was soll’s. Schließlich seid ihr da, lässt sich nicht ändern. Ich habe da eine Idee, wisst ihr was…?“ Er verstummt und wird von Yggdrasil unterbrochen.
„Sie müssen zu Nidhögr “, hören sie es rauschen.
„Nidhögr? Wer ist das?“, fragt Anna.
„Na ja, Nidhögr ist ein alter Drache. Er wohnt unter der Erde“, sagt das Eichhörnchen.
„Aha, ein Drache. Ist der echt? Spuckt er auch Feuer?“, fragt Anna aufgeregt.
„Mm, weiß ich nicht, hat er nie gemacht, seit ich ihn kenne. Wenn er je Feuer spucken konnte, hat er es bestimmt vergessen. Er ist eher ein Nagedrache mit scharfen Zähnen“, antwortet das Eichhörnchen.
„Weiß er was über das Pantherbaby?“, fragt Marie.
„Kann gut sein. Nidhögr ist viel allein und hat spezielle Fähigkeiten.“
„Okay, wo finden wir ihn?“, fragt Marie.
„Ich bring euch hin. Übrigens heiße ich Ratatöskr.“
„Und du passt auf die Mädchen auf, hast du gehört?“, sagt der Baum und brummt wie ein winziges Erdbeben.
„Ja, ja!“
-4-
Ratatöskr klettert auf Maries Schulter und krallt sich am Träger ihres Kleidchens fest. Das Mädchen spürt die Wärme seines Körpers. Die zarten Fellfäden auf ihrer Haut kitzeln sie. Das Eichhörnchen führt sie am Stamm Yggdrasils entlang, bis sie zu einer besonders dicken Wurzel kommen, die kreisförmig um eine Öffnung verläuft, die wie der Bau eines Tieres wirkt und von Gras und Moos bewachsen ist. Feuchtigkeit schlägt ihnen entgegen, als sie hineingehen und sich auf einem steinigen Pfad abwärts bewegen. Nach den ersten Biegungen holen Marie und Anna die Taschenlampen aus dem Rucksack. Aus der Ferne leuchtet der rosadurchwirkte Tag und die Stimme Yggdrasils summt. Sie erwarten, dass es kälter und der Weg enger wird, aber die Wärme nimmt zu, während sie breite Alleen mit Tropfsteinen durchqueren. Wenn sie den Kegel der Taschenlampen über die Wände lichtern lassen, erkennen sie zwischen dem feuchten Fels Wurzeln, die ihn durchbrechen. Steine liegen auf dem Boden und sie müssen aufpassen, nicht zu stolpern. Marie spürt den muffigen Staub in ihrem Hals, Müdigkeit in ihren Beinen, sehnt sich nach frischer Luft und dem Sonnenhimmel. Längst hat sie ihre Schwester an der Hand genommen. Anna lächelt, schweigt und tapst vorwärts, als planschten sie durch Wasser. Marie denkt an das Fell des Pantherbabys, die Schweißperlen, die Tränen, von denen es befeuchtet wurde, die Umarmungen und das stille Glück, das sich mit ihm verbunden hat.
Als sie eine Halle betreten, von deren Wand Wasserrinnsale herabtropfen, bleibt Marie stehen, weil sie eine Pause braucht. Auf einem steinernen Absatz, der flach wie ein Bänkchen geformt ist, ruhen sie sich aus. Ratatöskr flitzt durch die Höhle, als suche er etwas und verschwindet, ohne dass die Mädchen es bemerken. Als Marie ihn ruft, prallt sein Name am Fels ab wie ein höhnisches Echo. Ratatöskr kommt nicht zurück. Wut durchschießt Marie. Sie ärgert sich über sich selbst, über die Situation, über den Baum, und über die Verlogenheit des Eichhörnchens. Anna starrt still in die Höhle. Marie löst sich von ihr und durchsucht Ecken und Nischen. Irgendwann bemerkt sie, dass es zwecklos ist, kehrt zu ihrer Schwester zurück, nimmt den Rucksack von den Schultern und setzt sich. Anna rührt sich nicht von der Stelle und lässt sich erst nieder, als ihre Schwester sie am Saum des Kleides zu sich zieht, fängt dann aber sofort zu schluchzen an. Marie reicht ihr die Hälfte des Schokoriegels und wischt Annas Tränen ab, berührt ihre glatte Haut und muss an Leon denken, dessen Porzellanwangen sie so gern berührt hatte, an den Strahlensonnenschein, der von ihm ausgegangen ist. Wie kalt er sich anfühlte, als sie ihn im Bett gefunden hat, den Panther im Arm. An die bleichen Gesichter der Eltern, als sie nach ihnen rief. An das Dröhnen des Krankenwagens. Das Herz habe versagt, plötzlicher Kindstod, hörte sie später Papa zu Mama sagen. Danach begann der Schrecken, die Kälte. Nichts blieb übrig. Papa verschwand, weil Mama zu viel heulte. Sie räumten Leons Zimmer auf, brachten seine Sachen weg und sprachen nicht mehr von ihm, als könnten sie es dadurch besser ertragen.
„Was machen wir jetzt?“, wimmert Anna.
Marie sagt nichts, sucht nach Fassung, den richtigen Worten, Anna zu trösten, und nach einem Plan.
„Wir stecken fest, was?“, versucht Marie die Situation zu entschärfen.
„Mm.“
„Gibt zwei Möglichkeiten. Entweder weiter oder zurück.“
„Weiter! Denk an das Pantherbaby!“, sagt Anna mit aller Bestimmtheit und wischt sich die Tränen ab. „Kann nicht mehr weit sein.“
„Warum ist das verflixte Eichhörnchen abgehauen?“
„Keine Ahnung.“
„Wir finden das Pantherbaby!“
„Ja!“
„Mama wird glücklich sein.“
„Okay, gehen wir.“
Sie stehen auf, gehen los und lassen sich vom Lichtschein der Taschenlampen führen, immer geradeaus, ohne dass sie auf Abzweigungen stoßen. Die Helligkeit nimmt wieder zu, mit rosa durchsetzt. Dort, wo das Licht herkommt, erkennen sie den Umriss einer Gestalt, die viel größer als ein Eichhörnchen aussieht. Eine spitze Schnauze schält sich heraus, als sie ihm entgegengehen, der Kopf wird sichtbar. Anna zieht ihre Schwester hinter sich her und lächelt starr und unverdrossen. Der Wolf schaut sie mit Smaragdaugen an. Die Mädchen sehen, dass er an einer Öffnung wacht, aus der Licht dringt. Marie fasst die Hand ihrer Schwester fester und geht weiter, obwohl sie die glühenden Augen, die abstehenden Haare auf der Schnauze und die gelblich glänzenden Reißzähne fürchtet.
„Kannst du uns bitte durchlassen!“, sagt Marie.
Der Wolf richtet sich auf, spielt mit den Muskeln und zeigt die Zähne.
„Nein, warum sollte ich?“
„Weil wir das Pantherbaby suchen.“
„Na und? Selbst wenn ich euch reinlasse, Nidhögr wird euch auslachen und auffressen.“
„Lass uns bitte durch!“, sagt Anna leise und beginnt zu schreien, wird immer lauter, als drehe sie langsam an einem Regler. Ihr Ruf wirbelt über den Fels, dringt in die Ritzen, berührt die Wurzeln, die das Gestein dicht durchziehen. Der Wolf verharrt anfangs reglos, als bemerke er nichts, kauert sich dann auf den Boden, zieht die Beine an sich, ohne sich von der Stelle zu bewegen. Lauter und lauter schickt Anna den Schrei durch die Höhle. Marie hält sich die Ohren zu. Die Wurzeln rutschen aus den Vertiefungen, bis sich ein tiefes Sirenen-Brummen daruntermischt. Als Anna verstummt, tritt Stille ein. Einige Wurzeln hängen herab und zucken wie Blitze. Woher er kommt, bemerken sie nicht, aber plötzlich steht Adam inmitten der Höhle, zwischen den Kindern und dem Eingang, den der Wolf bewacht. Der Bär richtet sich auf, reicht mit dem mächtigen Kopf fast bis zur Decke und ist viel größer, als Marie ihn in Erinnerung hat. Adam streckt dem Wolf die mächtigen Arme entgegen.
„Yggdrasil schickt mich. Mach den Weg frei!“
Der Wolf bleibt liegen, stellt sich taub und weicht dem Blick Adams aus. Eine der Wurzeln, die sich aus dem Fels gelöst haben, peitscht ihm über den Rücken. Er jault, steht auf, bewegt sich mit eingezogenem Schwanz am Bären und den Mädchen vorbei ins Dunkle und flüstert im Vorbeigehen unverständliche Flüche.
-5-
Der Eingang ist frei, aber bei Weitem nicht so breit, dass Adam sich hindurchzwängen könnte. „Geht ruhig ohne mich!“, sagt Adam zu den Mädchen. Anna winkt dem Bären noch zu und Marie nimmt wieder die Hand ihrer Schwester. Die Höhle, die sie betreten, ist viel größer als die, durch die sie bisher gekommen sind. Die Helligkeit blendet sie anfangs, aber als sie sich daran gewöhnen, erkennen sie den Drachen, der in der hinteren Ecke sitzt und sich an den Wänden zu schaffen macht, Wurzeln in sein Maul zieht, wie man Spaghettifäden saugt, und sie verschlingt. Seine Haut ist schuppig, gefleckt, an manchen Stellen babyglatt, die Beine dick und unförmig, der Schwanz zuckt durch die Höhle. Auf dem Kopf trägt er eine bläuliche Panzerkrone mit schwertartigen Zacken. Die Zähne sicheln über die Wurzeln und durchtrennen sie stückchenweise. Der Drache ist völlig in seine Arbeit vertieft. Anna reißt sich von Marie los und läuft auf ihn zu, obwohl Marie sie zurückhalten will. Vor dem riesigen Körper sieht sie winzig und verletzlich aus. Sie berührt die Schuppenhaut, streicht über sie, drückt ihr Kinderbacken daran. Der Drache bemerkt das Kind, wendet ihm den Panzerkopf mit einem verschleierten Blick zu, als wache er gerade aus fernen Gedanken auf, schüttelt sich vorsichtig und unterbricht die Mahlzeit.
„Hm! Wer ist da?“
„Wir suchen das Pantherbaby“, sagt Anna.
„Helle Stimme. Laut, sehr laut. Hand auf mir. Warum?“
„Erst musste ich den Wolf anschreien. Dann hat Adam ihn vertrieben. Dann bin ich zu dir hin, weil ich wissen wollte, wie sich ein Drache anfühlt.“
„Wolf bewacht mich. Du bist warm, ist schön.“
„Wir suchen das Pantherbaby.“
„Weiß ich.“
„Wo ist es?“
„Nicht hier!“
„Muss aber hier sein. Yggdrasil hat uns hergeschickt.“
„Na und? Was weiß der schon über Nidhögr.“
„Er sagt, wir sollen zu dir gehen.“
„Mag dich. Du bist warm. Yggdrasil ist kalt, alt.“
„Hilfst du uns?“
„Ich bin allein. Tausend Jahre. Mehr vielleicht. Erinnerung ist schlecht. Bewacht vom Wolf. Gefangen. Keiner schaut mich an, keiner kommt mich besuchen.“
„Hilfst du uns?“
„Verfluchtes Eichhörnchen kommt vorbei. Redet, redet. Wirr im Kopf.“
„Hilfst du uns?“
„Fresse Wurzeln, knabbere an Yggdrasil. Sonst nichts.“
„Das Pantherbaby, weißt du, wo es ist?“
„Baby, Baby. Das ist kein richtiges Baby.“
„Es hat Leon gehört, unserem Bruder.“
„Baby, Panther, Leon. Ah!“
„Du weißt, wo es ist, oder?“
„Nein. Es ist weg, Leon ist weg. Kommt ihr mich wieder besuchen?“
„Wenn du uns hilfst, besuchen wir dich.“
„Mein Herz wärmen, macht ihr das? Ich kenne Zauber, geheime Zauber.“
„Bitte, lieber Nidhögr!“
„Mit Zauber wird es gehen. Aber nicht Leon, Leben machen geht nicht. Pantherbaby, wie sieht es aus?“
„Weich, schwarz, dunkle Augen.“
„Reicht nicht. Muss finden, muss es riechen, schmecken.“
Marie greift in den Rucksack und holt den Stoffbeutel heraus, in dem sie ihre Schätze aufbewahrt. Die Glitzerperle, die sie auf der Straße gefunden hat, den Dollarschein, den Papa ihr von einer Reise mitgebracht hat. Und das Namensbändchen Leons aus dem Krankenhaus, das er trug, als er unter einer Glocke lag und so süß grinste. Sie hält es dem Drachen hin. Nidhögr schnüffelt daran, wieder und wieder. Fauliger Drachenatem bläst Anna entgegen, an den Reißzähnen kleben braungrüne Spuren seiner Gefräßigkeit. Nidhögr kaut an dem Bändchen, murmelt, spuckt Feuer, zieht eine besonders dicke Wurzel aus der Wand, beißt sie ab, bläst sie an, bedeckt sie mit einem Feuerstoß. Rauch umnebelt ihn. Die Schwaden verziehen sich und dort, wo sich zuvor die Wurzel befand, erkennt Marie jetzt das Pantherbaby ihres Bruders, das Kuscheltier, nach dem sie gesucht haben. Anna rennt hin, hebt es auf, streichelt, küsst, drückt es an sich und bringt das Pantherbaby zu ihrer Schwester.
Weil Nidhögr die Liebe spürt, die durch die Höhle weht, fallen ein paar Tränentropfen aus seinen Augenwinkeln auf die Mädchen, während Hitze durch seinen kühlen Körper treibt. Er lässt eine Feuersalve auf das Gestein der Höhlendecke jagen und fühlt sich leicht, erinnert sich, dass manche Drachen fliegen können.
„Ich weiß, das ist nicht euer Bruder selbst. Der ist eine Wurzel. Irgendwo da draußen.“
„Dafür haben wir das Pantherbaby zurück und können es Mama bringen.“
„Wann kommt ihr wieder?“
„Wenn der Tag wieder rosa ist!“
„Ja?“
„Ja!“
Der Blick des Drachen folgt ihnen, bis sie den Ausgang erreicht haben. Dann wendet er sich ab, öffnet das Maul, beißt zu und zieht eine Wurzel zu sich.
-6-
Draußen bietet sich den Kindern ein merkwürdiges Bild. Adam, der Wolf und Ratatöskr sitzen beisammen und gestikulieren. Marie hört sie murmeln, ohne etwas zu verstehen. Ratatöskr entdeckt die Mädchen, schreckt auf und jagt davon. Der Wolf dreht sich zur Drachenhöhle und verschwindet in ihr.
„Schätze, ihr habt bekommen, was ihr gesucht habt“, sagt Adam mit glanzrosadurchzogenem Blick. „Soll ich euch heimbringen? Ihr könnt auf mir reiten.“
Marie, Anna und das Pantherbaby verlassen auf dem Rücken des Bären die Höhle. Der Weg kommt ihnen jetzt viel kürzer vor.
„Wie bist du bloß in die Höhle gekommen, Adam? Du hast doch gesagt, du wartest im Wald und verträgst das Licht nicht“, sagt Anna.
„Ich hab was in mir gespürt und dann bin ich losgerannt. Und dann habe ich die Augenlider ein wenig heruntergeklappt, damit es nicht so blendet.“
Das Säuseln Yggdrasils empfängt sie draußen, aber er spricht leise und sie verstehen nicht, was er erzählt. Dennoch schleicht sich Gesang in Maries Bauch und siedelt sich dort an. Der Baum scheint sich verändert zu haben. Entweder hatten sie die Blüten zuvor nicht gesehen oder sie sind während ihrer Abwesenheit auf den Ästen gesprießt und strahlen jetzt weiß, rosa und rot, streben wie Kelche zum Himmel. Adam drängt schnellen Schritts über die Lichtung, die Mädchen auf seinem Rücken. „Kommt bald wieder!“, dröhnt es von Yggdrasil, bevor sie die Lichtung verlassen. Sie wandern, an das Fell Adams geschmiegt, durch den Wald und entfernen sich von der Lichtquelle. An der Stelle, wo sie den Bären getroffen haben, verabschieden sich von ihm und wundern sich, dass das Pantherbaby nicht mit Adam zusammen im Wald verschwindet. So schnell sie nur können, eilen sie nach Hause.
-7-
Marie und Anna finden die Mama barfüßig im Nachthemd in der Küche. Sie stellt das Glas Sekt zur Seite, ein Lächeln überzieht ihr Gesicht, als sie die Kinder sieht. Anna nimmt das Plüschtier mit beiden Händen und hält es der Mutter hin.
„Schau mal, was wir mitgebracht haben!“
Die Mutter zögert. Tränen quellen, befeuchten das Gesicht, während der Schleierblick sich löst und die Augen klarer hervorlugen. Ein Glanzlächeln breitet sich aus.
„Es ist das von Leon, oder?“
Sie nimmt das Pantherbaby entgegen, steckt die Nase in das Fell, atmet tief ein und drückt es mit aller Kraft. Danach zieht sie ihre Töchter zu sich.
Am Abend steht Marie am Fenster. Die Farbe des Horizonts wechselt von Rosa, über Orange zu einem tiefen Rot, bevor sich Traumdunkelheit herabsenkt.