Die Schwester
Gehetzt warf sie einen Blick auf ihre Uhr, ohne die Zeit richtig wahrzunehmen.
Ihre Angst war zu groß und sie blickte sich wieder und wieder um, ihr Schritt wurde immer schneller und ihr Atem ging keuchend.
Einzig der Regen, der ihr mit harten, kalten Tropfen ins Gesicht schlug, bewahrte ihr den letzten Rest Klarheit.
Sie wußte nicht, wer ihr Verfolger war, wußte nur, daß irgend jemand hinter ihr her war und sie wußte ebenfalls, daß dieser Jemand sie töten wollte, genau so, wie er es schon mit ihrer Schwester getan hatte.
Eben noch war alles in Ordnung gewesen, sie war mit Paul in dem feinen, französischen Restaurant gewesen und hatte sich das gute Essen schmecken lassen, doch plötzlich, gerade als sie ihr Weinglas an die Lippen setzte, wurde ihr bewußt, daß es wieder da war.
Sie konnte kein Wort zu Paul sagen, raffte nur Jacke und Schal zusammen und stürzte aus dem Restaurant.
Das Schlimmste war, daß sie nicht wußte, wo genau es war, sie hörte seine Schritte nicht, nahm nur den pervers süßlichen Geruch des Parfums wahr, den es an sich hatte, als es ihre Schwester umgebracht hatte. Und sie konnte seinen stoßenden Atem hören.
Die Gasse, durch die sie lief war duster und eng, es konnte sich überall versteckt halten und es machte sie wahnsinnig, daß sie es nicht sehen konnte.
Schneller und immer schneller setzte sie einen Fuß vor den anderen, vorsichtig jedoch, da die Pflastersteine heimtückisch glatt waren.
Da, endlich sah sie das Ende der Gasse, es war eine mehr oder weniger belebte Straße und sie wußte zwar, daß sie niemanden um Hilfe bitten konnte, aber ihr wäre nicht mehr so unbehaglich zumute, wenn sie die Menschen sah, wie sie die Straße entlang schlenderten.
Plötzlich glitt sie aus stürzte hart auf ihre Knie, der Schmerz jagte durch ihren Körper und sie spürte, daß sie blutete, da sah sie es, es hatte sich vor ihr auf-
gebaut und starrte auf sie hinunter. Sie roch jetzt auch sein Parfum und es ließ sie würgen.
All die Erinnerungen an die verlorene Schwester rasten durch ihr Gehirn. War es tatsächlich
schon drei Jahre her, daß sie in die kleine Wohnung kam, in der ihre Schwester gelebt hatte?
Waren wirklich schon drei Jahre vergangen, seitdem sie ihre Schwester auf dem Boden liegend fand, fast so, wie sie jetzt in der kleinen, dreckigen Gasse lag. Sie hatte ihre Schwester fast nicht erkannt, es hatte ihr die Hände abgetrennt, die Füße ebenfalls und mit einer unglaublichen Wut mußte es ihr immer und immer wieder das Messer in die Brust gestoßen haben. Einzig das wunderschöne Gesicht ihrer Schwester war unversehrt, ihre Augen, die grün waren, wie die einer Katze, waren aufgerissen und starrten die Decke an, die vollen Lippen waren leicht geöffnet, man konnte das Entsetzen, die Angst, den Schmerz in ihrem Gesicht ablesen, doch sah sie gleichzeitig so friedlich aus.
Sie würde es nie vergessen, diesen Anblick, sie würde nie vergessen, wie sie schreiend durch die
Wohnung gerannt war und nach den Händen und Füßen ihrer Schwester gesucht hatte.
Und nun stand es vor ihr, sie konnte sein Gesicht nicht erkennen und sie war einen kurzen Moment
froh darüber, sie konnte seine Beine sehen, die in einer schwarzen, hautengen Jeans steckten und seine dicken, schwarzen Stiefel.
Seine Haare waren lang und fielen ihm in schwarzen, langen Strähnen auf die Schultern.
Sie schloß die Augen und wartete darauf, daß es mit einem seiner Stiefel in ihr Gesicht trat.
Sie wußte nicht, was es dazu gebracht hatte, einen solchen Haß auf ihre Schwester zu entwickeln
und sie wußte auch nicht, warum es nun hinter ihr her war. Also wartete sie, doch nichts geschah.
Als sie die Augen wieder öffnete, war es verschwunden, ihr eigener Atem war das einzige, was sie
hören konnte und nur der Geruch, seines Parfums hing an ihr, wie eine Klette.
Sie stand vorsichtig auf und klopfte sich den Dreck von der Hose ab.
Langsam ging sie nach Hause.
Am nächsten Morgen beschloß sie, noch einmal in die Wohnung der toten Schwester zu gehen, sie war
seit dem Mord nicht mehr dort gewesen, vielleicht wartete es dort auf sie.
Als sie an der Tür klingelte und ihr niemand öffnete, ging sie ein paar Schritte nach rechts, hob einen unscheinbaren Stein hoch und fischte einen rostigen Schlüssel darunter hervor. Mit etwas Geschick schaffte sie es, die Haustür zu öffnen und dann betrat sie die Wohnung.
Als sie plötzlich im Flur stand und alles fast genau so vorfand,
wie sie es vor drei Jahren das letzte Mal gesehen hatte, gingen ihr Dinge durch den Kopf, die sie wohl die letzten Jahre einfach verdrängt hatte, sie konnte plötzlich verstehen, wie es
ihre Schwester hatte töten können, dieses miese Biest hatte einfach nichts anderes verdient, sie
ging langsam in die kleine Diele und starrte in den Spiegel, der dort immer noch hing.
Dort sah sie es, es blickte ihr aus finsteren Augen entgegen, sie strich sich die schwarzen, langen
Strähnen aus dem Gesicht und plötzlich fiel ihr auch endlich wieder ein, wo sie die Hände und Füße ihrer Schwester versteckt hatte, nachdem sie sie mit einem
unglaublichen Kraftaufwand abgetrennt hatte.
[Beitrag editiert von: Julie77 am 27.03.2002 um 12:11]